T. Delessert: Histoire politique des homosexualités en Suisse, 1950–1990

Cover
Titel
Sortons du ghetto. Histoire politique des homosexualités en Suisse, 1950-1990


Autor(en)
Delessert, Thierry
Erschienen
Zurich 2021: Seismo Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Kevin Heiniger, Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW)

In seinem Buch Sortons du ghetto analysiert Thierry Delessert in fünf Kapiteln und in chronologischer Folge den politischen Diskurs in der Schweiz zum Themenkomplex der Homosexualitäten für die Jahrzehnte von 1950 bis in die frühen 1990er-Jahre. Parlamentarische Debatten auf Ebene des Bundes und der Kantone bezieht er in die Analyse ebenso ein wie das zivilgesellschaftliche Engagement von Betroffenenorganisationen und ihrer Wortführer:innen, das sich zunehmend in politischer Lobbyarbeit und in der Teilnahme an Vernehmlassungsprozessen manifestierte. Delessert erweitert und vertieft mit dieser Publikation den Forschungshorizont, den er unter anderem bereits mit seiner Dissertation Les homosexuels sont un danger absolu. Homosexualité masculine en Suisse durant la Seconde Guerre mondiale (2012) und dem Gemeinschaftswerk Homosexualités masculines en Suisse. De l’invisibilité aux mobilisations (2012, mit Michael Voegtli) bearbeitet hat.

Die erste Periode, wie sie Delessert definiert, beginnt mit der teilweisen Entkriminalisierung homosexueller Handlungen mit dem Inkrafttreten des Schweizerischen Strafgesetzbuchs im Jahr 1942 und lässt sich bis in die 1960er-Jahre ziehen (S. 23–62). Die Straffreiheit einvernehmlicher Sexualkontakte zwischen Erwachsenen des gleichen Geschlechts geschah unter der Bedingung der Unauffälligkeit, der gesellschaftlich geforderten Diskretion und des Rückzugs in die Privatsphäre, in die Verborgenheit des „Schranks“ (placard). Das diskrete Auftreten der Homosexuellenvereinigung Der Kreis und ihrer gleichnamigen Zeitschrift stehen exemplarisch für diese Epoche. Strafrechtlich blieb – im Gegensatz zur weiblichen – die männliche Prostitution ein Thema. Kapitalverbrechen im Zusammenhang mit homosexuellen Kontakten führten seit den 1950er-Jahren vermehrt zu Razzien, Personenkontrollen und Repression. Negative mediale Konnotationen zeichneten nicht nur ein Bild des Homosexuellen als Verführer der Jugend, sondern im Kontext des Kalten Krieges auch als innerer Feind der Nation. Die Publikation Zivilverteidigung, 1969 vom Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) herausgegeben und an alle Schweizer Haushalte verschickt, setzt Delessert als diffamierender Schlusspunkt eines antihomosexuellen bürgerlichen Diskurses.

Die Revision des besonderen Teils des Strafgesetzbuchs, vom EJPD 1971 lanciert, führte zur Bildung einer Expert:innenkommission, benannt nach ihrem Präsidenten, dem Berner Strafrechtsprofessor Hans Schultz (1912–2003). Die Kommission Schultz zählte ungefähr dreißig Mitglieder und kam bis 1976 zu 36 Sitzungen zusammen. Delessert analysiert die Protokolle auf medizinische (S. 75–87) und religiöse (S. 87–107) Konzeptionen von Homosexualität hin und zeigt Bezüge auf zu zeitgenössischen Theoriebildungen und Debatten auch in Westdeutschland oder etwa im Kontext der katholischen Synode von 1972. Hier kommt beispielsweise auch das Plädoyer des „Nervenarztes“ und Eheberaters Theodor Bovet (1900–1976) zur Sprache, der sich 1963 anlässlich des evangelischen Kirchentages in Basel gegen eine Diskriminierung homosexueller Paare gegenüber heterosexuellen aussprach und damit in kirchlichen Kreisen eine polemische Auseinandersetzung mit dem Thema anstieß.

Im weiteren Verlauf folgt Delessert den juristischen Argumentationslinien, wie sie sich in den Protokollen der Schultz-Kommission darstellen (S. 109–146). Die Einführung eines Tatbestands der homosexuellen Vergewaltigung und das sexuelle Zustimmungsalter respektive der Schutz von Minderjährigen dominierten als diskursive Topoi. Die kriminologische Sicht auf Homosexualität analysiert Delessert anhand der Ausführungen eines Zürcher Kriminalkommissärs, den die Schultz-Kommission im November 1974 anhörte. Dabei findet auch das polizeilich geführte Zürcher Homosexuellen-Register Erwähnung, das seit dem Zweiten Weltkrieg mit jährlich durchschnittlich 300 Personalien von Männern erweitert und 1979 nach massiven Protesten von Betroffenenverbänden aufgehoben wurde (S. 125). Die homosexuelle Prostitution bildet ein weiteres kriminologisches Diskursfeld, das dank einer bislang unveröffentlichten Umfrage, welche die Schultz-Kommission zusammen mit dem Bundesamt für Justiz unter den kantonalen Polizeibehörden durchführte, bereichert wird (S. 129–133). Initiantin dieser Erhebung war Judith Stamm (geb. 1934), Kommissionsmitglied und damalige Luzerner Großrätin. Die eingegangenen Antwortbogen geben Aufschluss über die Positionen von zehn Kantonsbehörden bezüglich der Legalisierung homosexueller Prostitution, dem Schutzalter, der weiblichen Prostitution, der Kuppelei und der Pornografie. Die Schultz-Kommission diskutierte die allfällige Streichung des Artikels 194 StGB unter Berücksichtigung folgender Gesichtspunkte: einem einheitlichen Schutzalter für hetero- und homosexuelle Jugendliche, einem differenzierteren Begriff von Verführung, der Abschaffung des spezifischen Missbrauchs einer Abhängigkeit, der Gleichsetzung von homo- und heterosexueller Prostitution und schließlich einer Neudefinition der Erregung öffentlichen Ärgernisses und des Exhibitionismus.

Gleichzeitig mit der Diskussion um die Teilrevision des Strafgesetzbuchs fand eine Politisierung homosexueller Kreise statt, deren Ursprung in den New Yorker Stonewall-Unruhen vom Juni 1969 zu verorten sind. Delessert stellt diesen Prozess in drei Teilen dar (S. 148–195), wobei zunächst drei Formen homosexueller Politisierung unterschieden werden: die Naturalisierung und damit „Normalisierung“ der Homosexualität, wie sie von der Schweizerischen Organisation der Homophilen (SOH) angestrebt wurde, das öffentliche Coming Out als politische Waffe, wie es von einer jüngeren Generation propagiert und ab 1974 von den Homosexuellen Arbeitsgruppen der Schweiz (HACH) vertreten wurde, und schließlich die Abspaltung lesboradikaler Kreise von den Schwulenverbänden, die sich nach Jahrzehnten der Unsichtbarkeit mehr politisches Mitspracherecht zu verschaffen versuchten. In einem weiteren Schritt werden drei politische und militante Entwicklungen dargestellt, die sich im Verlauf der 1970er-Jahre in der lateinischen Schweiz abspielten, namentlich um eine Genfer Lesbengruppierung, die Homophilengruppe Symétrie in Lausanne und den Club In in Lugano. Der dritte Teil stellt die Auseinandersetzungen und Kooperationen der Deutschschweizer Arbeitsgruppen und Organisationen in den Mittelpunkt. Anhand der Talkshow Telearena von 1978, in der erstmals öffentlich im Schweizer Fernsehen über Homosexualität diskutiert wurde, werden exemplarisch interne Bruchlinien aufgezeigt. Dass die Betroffenenverbände dennoch eine einheitliche Front bilden konnten, beweist der erste Christopher Street Day im gleichen Jahr, der seither jährlich an wechselnden Orten in allen Landesteilen stattfindet.

Der letzte Teil der Studie ist wiederum den auf Bundesebene geführten Diskussionen, Konsultationen, bundesrätlichen Botschaften und Referenden der 1980er- und frühen 1990er-Jahre gewidmet (S. 197–234). Dabei wird insbesondere die Arbeitsgruppe Bundespolitik hervorgehoben, die sich im Frühling 1987 im Schoß der Homosexuellen Arbeitsgruppen Zürich und bestehend aus Mitgliedern der SOH konstituierte und deren Engagement sich mit der Lobbyarbeit der HACH kreuzte. Seit den späten 1980er-Jahren intensivierte außerdem die Lesbenorganisation Schweiz (LOS) ihre Aktivitäten zur Sichtbarmachung lesbischer Diversität und um rechtliche Gleichheit zwischen lesbischen und heterosexuellen Paaren sowie alleinstehenden Müttern zu erreichen. Das Kapitel endet mit der Referendumsphase zum neuen Sexualstrafrecht, das im Mai 1992 mit einer Mehrheit von über 73 Prozent angenommen wurde. Dieses enthielt neben der juristischen Gleichbehandlung von hetero- und homosexuellem Verhalten unter anderem die Entkriminalisierung sexueller Beziehungen zwischen nahezu gleichaltrigen Kindern (unter Beibehaltung des Schutzalters von 16 Jahren) sowie den Straftatbestand der Vergewaltigung in der Ehe. Gleichzeitig fand mit der Abschaffung des Artikels 157 des Militärstrafgesetzes außerdem eine rechtliche Gleichsetzung von Homo- und Heterosexualität im militärischen Kontext statt. Dennoch relativiert Delessert die damaligen Gleichstellungserfolge auf Gesetzesebene und stellt fest, dass die Sexologie des zivilen und militärischen Strafgesetzes ein heterosexistisches Schema weiterverfolgte und nur in differentialistischer Weise die Gleichheit von Homo- und Heterosexualität zuließ. In diesem Sinn waren die Abstimmungen zum Partnerschaftsgesetz (2005), zum Homophobie-Artikel (2020) und schließlich zur „Ehe für alle“ (2021, nach Erscheinen der Publikation) wichtige und nötige Meilensteine in einem fortwährenden Kampf um Anerkennung und Egalität.

Thierry Delessert gibt mit seiner detaillierten Studie einen Überblick über die rechtliche und politische Situation von Menschen in der Schweiz in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, deren Sexualverhalten sich außerhalb des heteronormativen Spektrums bewegte. Die politischen Debatten und Positionen werden auf unterschiedlichen Ebenen analysiert, der diskursive Einfluss von Expert:innengruppen und zivilgesellschaftlichen Gruppierungen auf politische Gesetzgebungsprozesse nachvollzogen. Diese Vielstimmigkeit spiegelt sich neben den politischen Verhandlungen auch in kriminologischen, kirchlich-religiösen oder medizinisch-psychiatrischen Einordnungen homosexuellen Verhaltens. Verdienstvoll ist außerdem das Aufzeigen von organisationalen Bezügen nicht nur über die innerschweizerischen Sprach-, sondern auch die Landesgrenzen hinweg. So kommen etwa Pariser Einflüsse auf Lesbenorganisationen in der Romandie ebenso zur Sprache wie westdeutsche Vorbilder und ihre Wirkung auf Homosexuellenverbände der Deutschschweiz. Sowohl interkantonale Kooperationen als auch regional unterschiedliche Entwicklungen der Politisierung treten dank dieser Studie deutlicher zutage, die sich mit ihrem Untersuchungszeitraum nahe an die Gegenwart wagt. Eine weitere, bereichernde Perspektive böten allenfalls Quellen der Oral History, etwa Interviews mit Betroffenen und Aktivist:innen oder auch Akteur:innen aus Politik und Wissenschaft. Ihre Aussagen könnten in kontrastierender respektive bestätigender Weise gleichsam einen Kitt bilden und die oftmals abstrakten Diskursanalysen auf eine individuelle und lebensweltliche Ebene führen.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Kooperation
Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/