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Titel
Aufarbeitung des Nationalsozialismus. Ein Kompendium


Herausgeber
Brechtken, Magnus
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
718 S., 21 Abb.
Preis
€ 34,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cord Arendes, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Nicht nur die unterschiedlichen gesellschaftlichen, politischen und juristischen Formen der „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus unterlagen und unterliegen auch weiterhin wechselnden Konjunkturen. Eine vergleichbare Wellenbewegung lässt sich für die Dokumentation des zeithistorischen Forschungsstandes zu eben dieser Aufarbeitung ausmachen. Wie viele andere Diskursformationen um die deutsche Erinnerungskultur, so orientieren sich diese Veröffentlichungen meist an „runden“ historischen Daten. Zum Beispiel wurde im Jahr 2009 aus Anlass des 60. Jahrestages der Gründung der Bundesrepublik ein Sammelband publiziert, der unter dem vielsagenden Titel Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte für beide deutsche Teilstaaten die „komplexe Geschichte eines vergleichslosen Versuchs, mit der Vergangenheit ‚umzugehen‘“, in den Blick nahm.1 Zeitgleich erschien der zweite Band des „Wörterbuch[es] der ‚Vergangenheitsbewältigung‘“, das eine lexikalische Analyse der „NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch“ beabsichtigte.2

In nur geringer zeitlicher Distanz zu den beiden genannten Werken war im Jahr 2007, neben dem ersten Band des Wörterbuches, das Lexikon der ‚Vergangenheitsbewältigung‘ in Deutschland veröffentlicht worden. Michael Brumlik hatte dort in seinem Vorwort betont, das Lexikon sei „selbst Teil des Prozesses, den es dokumentiert, ein ‚work in progress‘“.3 In der erweiterten dritten Auflage von 2015 spiegelt sich dieser Prozess, das heißt das stetige Fortschreiben der zeithistorischen Forschung zur Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in den ergänzten Lemmata wider.4 Über ein Jahrzehnt später schließt der aktuellste Versuch, den diesbezüglichen Forschungs- und Wissensstand kompakt zu bündeln, das von Magnus Brechtken herausgegebene „Kompendium“ Aufarbeitung des Nationalsozialismus, in programmatischer Hinsicht an diese Vorläufer an.

Ein umfassendes Lexikon hat der Herausgeber – mit guten Gründen – nicht beabsichtigt (vgl. S. 19). Motiviert wurde der Band nicht zuletzt durch das Fehlen prägnanter Zusammenfassungen für Studierende in Brechtkens Lehre (in Großbritannien). Ist mit dem Begriff Kompendium aber ein Mehrwert gegenüber einem „normalen“ Sammelband verbunden? Die lateinische Herkunft des Begriffes verweist auf eine Kurz- oder Zusammenfassung, einen Überblick, aber auch auf ein Handbuch beziehungsweise einen Abriss (heute weniger gebräuchlich). Als Stichwort taucht Kompendium, so informiert uns das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, seit dem 16. Jahrhundert nicht zuletzt in den Titeln kurzgefasster Lehrbücher auf.5 Als letzteres dürfte der über 700 Druckseiten starke Band mit seinen 31 Beiträgen (inklusive Einleitung) allerdings kaum bezeichnet werden können: „Während die einen systematisch die Forschungsentwicklung zusammenfassen, werfen andere essayistisch einen Blick auf spezielle Phänomene. Die Gesamtanlage des Bandes zielt nicht auf ohnehin unerreichbare Vollständigkeit, sondern auf eine Vielfalt von Blicken, Perspektiven, Zusammenfassungen und – hoffentlich – Anregungen für weitere Forschungsfragen.“ (Einleitung, S. 19) Auf die an dieser Stelle postulierte Heterogenität wird noch zurückzukommen sein. Den Begriff „Aufarbeitung“, so Brechtken, verstünden die Autor:innen „als Kombination aus Quellensicherung, Analyse und Diskussion“. Vergangenheitsaufarbeitung werde so „im neutralen Sinn [zu] einer fortwährenden rationalen Analyse mit geschichtswissenschaftlicher Methodik“ (S. 9).

Das Kompendium unterteilt sich, neben der Einleitung, in insgesamt zehn Abschnitte. Diese umfassen jeweils einen Beitrag (Abschnitt „IX. Kontroversen vor der Gegenwart“) bis zu sechs Beiträgen (Abschnitt „VI. Behörden und Auftragsforschung“). Bei den 5 Autorinnen und 25 Autoren beziehungsweise Interviewpartnern (in Abschnitt „X. Kleinkunst und Literatur“) handelt es sich durchweg um ausgewiesene Expert:innen auf ihrem Feld. Mit den Ausnahmen Christopher Browning, Jeffrey Herf und Bill Niven zählen sie alle zu den Vertreter:innen der deutschen Geschichtswissenschaft bzw. historisch interessierter Nachbarfächer. Eine in die Tiefe der jeweiligen Argumentationslinien gehende Beschäftigung mit den einzelnen Stimmen ist im Rahmen einer kurzen Rezension leider kaum möglich. Eine Annäherung an die Inhalte kann hier sinnvollerweise nur hinsichtlich der angestrebten Funktion des Bandes als Kompendium erfolgen.

Wie Brechtken in der Einleitung darlegt (S. 19), finden sich im Band Betrachtungen, die sowohl zeitlich als auch inhaltlich umfassende Überblicke zu einzelnen Aspekten der Aufarbeitung des Nationalsozialismus liefern. Als Beispiele hierfür stehen unter anderem die Beiträge von Karin Orth zum „nationalsozialistischen KZ-System“, von Frank Bajohr zur deutschen „Holocaustforschung“ oder von Annette Weinke zur „Zentralen Stelle Ludwigsburg“. Die genannten Aufsätze behandeln klassische Felder der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und dürften so auch für Leser:innen außerhalb des enge(re)n wissenschaftlichen Kontextes von großem Interesse sein. Am anderen Ende des Spektrums finden sich nicht unbedingt Beiträge, die „essayistisch einen Blick auf spezielle Phänomene“ werfen (S. 19), sondern eher solche, die zum Teil eine nähere Kenntnis des Forschungsstandes beziehungsweise des interdisziplinären Diskurses zu den behandelten Phänomenen voraussetzen. Paradigmatisch hierfür steht der inhaltlich äußerst anregende Text von Ulrike Jureit über die „Wandlungsprozesse im Gedenken an den Holocaust“. Gerade die dezidiert kritische Stoßrichtung dürfte ohne tieferes Wissen über den vielstimmigen Diskurs zur (deutschen) Erinnerungskultur in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten aber nur schwer einzuordnen sein.

Ebenfalls auf zeithistorische Vorkenntnisse greift Brechtkens eigener Beitrag zu den verschlungenen „Gründungswege[n] des Instituts für Zeitgeschichte“ zurück – mit rund 40 Seiten der ausführlichste Text des Bandes –, der zum einen Lücken des bisherigen Forschungsstandes füllt, zum anderen auch als Vorschau für eine geplante Monographie dient. Jeweils kritische, wegen der Vielzahl der angesprochenen Phänomene und Themenfelder sowohl innerhalb als auch außerhalb des engen historischen Diskurses anschlussfähige Überblicke liefern die Beiträge von Wulf Kansteiner zur „Holocaust-Erinnerung im Fernsehen der Bundesrepublik Deutschland“ und von Bill Niven zu „jüngere[n] Strömungen der deutschen Erinnerungskultur“. Die Frage nach der Rolle der Öffentlichkeit beziehungsweise des zeitgenössischen Publikums im Rahmen der Aufarbeitung stellt einen roten Faden des Bandes dar. Dass es mitunter nicht leicht auszumachen war und ist, ob sich Teile der Öffentlichkeit nicht stärker für die negative Faszination des Aufzuarbeitenden als für die Aufarbeitung selbst interessieren, verdeutlicht insbesondere der Beitrag von Sven Keller zum „Obersalzberg als Hitler-Ort“.

Mit dem Verweis auf die Öffentlichkeit der unterschiedlichen Aspekte der Aufarbeitung des Nationalsozialismus rückt neben dem breiten inhaltlichen Spektrum der Beiträge auch das Zielpublikum des Bandes näher in den Blick. Ein Kompendium richtet sich zum einen an Wissenschaftler:innen, zum anderen aber auch an ein breiteres Publikum, zu dem nicht zuletzt Journalist:innen, Lehrer:innen oder Mitarbeiter:innen in der Erwachsenenbildung zählen. Deshalb überrascht es auf den ersten Blick, dass sich gleich sechs Beiträge einem einzigen, wenn auch höchst aktuellen, Strang der Forschung widmen (Abschnitt „VI. Behörden und Auftragsforschung“). Ein Mehr oder Weniger an behandelten Aspekten ist immer auch von den herrschenden Konjunkturen abhängig und liegt in den Händen der jeweiligen Herausgeber:innen. Vor 20 Jahren wäre mit hoher Wahrscheinlichkeit zum einen die Wiedergutmachungsfrage noch zentraler gewesen, die im Kompendium in ihrer zeitgenössischen Ausformung durch die Beiträge von Johannes Gramlich und Andrea Bambi im Abschnitt „VIII. Raubkunst und Restitution“ (mit-)abgedeckt wird – während Wiedergutmachung und Entschädigung als langfristig prägende Politikfelder ansonsten nicht näher betrachtet werden. Zum anderen wäre wohl den sogenannten Funktionseliten ein breiterer Raum zugemessen worden. „Klassische“ Gebiete der Aufarbeitung des Nationalsozialismus wie zum Beispiel das Militär, die Medizin oder auch die Geschichtswissenschaft selbst werden im Kompendium beitragsübergreifend allenfalls gestreift.

So spiegeln die zahlreichen Beiträge zu Behörden und zur Auftragsforschung vor allem den Umstand wider, dass auf diesem Feld in den letzten Jahren sehr viele Forschungsprojekte durchgeführt werden konnten. Einzelne Doppelungen in den Beiträgen bleiben hier nicht aus, wie vor allem die mehrfache Aufzählung aller diesbezüglichen Projekte zeigt. Dies mag der Aktualität des Themas geschuldet sein, während sich alle anderen Beiträge, selbst bei größerer inhaltlicher Nähe, wenig bis gar nicht überschneiden, sondern sich in vielen Fällen trefflich ergänzen (vgl. vor allem in den beiden Abschnitten mit jeweils zwei Beiträgen, „III. Juristische Dimensionen“ und „VIII. Raubkunst und Restitution“). Die starke Betonung der Auftragsforschung bringt positiv mit sich, dass explizit auch DDR-Behörden einbezogen werden (vgl. die Aufsätze von Frieder Günther und Dierk Hoffmann). Zudem legen die Ausführungen zu den Behörden erneut die (feinen) Nuancen beim gesellschaftlichen Umgang mit dem Nationalsozialismus frei, die auch den Arbeitsalltag der Forschungsgruppen bestimmt haben und nicht zuletzt für diejenigen Historiker:innen von Interesse sein können, die sich bisher wenig(er) mit diesem Themenfeld beschäftigt haben.

Steht am Ende also doch „nur“ ein weiterer wissenschaftlicher (Sammel-)Band für die Fachkolleg:innen? Mitnichten! Das Kompendium liefert eine breite, sehr informative, sich in den Einzelbeiträgen vielfach aufeinander beziehende und durchweg gut zu lesende Bilanz der Aufarbeitung des Nationalsozialismus, Stand 2021 – da den Leser:innen bei der Lektüre einzelner Beiträge oder auch des gesamten Bandes rasch deutlich wird, dass auch Bilanzen immer nur aus einer jeweiligen Gegenwart heraus gezogen werden können und somit ein –„work in progress“ bleiben müssen.

Anmerkungen:
1 Peter Reichel / Harald Schmid / Peter Steinbach, Die „zweite Geschichte“ der Hitler-Diktatur. Zur Einführung, in: dies. (Hrsg.), Der Nationalsozialismus – die zweite Geschichte. Überwindung – Deutung – Erinnerung, München 2009, S. 7–21, Zitat S. 8.
2 Thorsten Eitz / Georg Stötzel, Wörterbuch der „Vergangenheitsbewältigung“. Die NS-Vergangenheit im öffentlichen Sprachgebrauch, 2 Bde., Olms 2007/09.
3 Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, Bielefeld 2007. Für das Vorwort Brumliks vgl. ebd., S. 9–11, Zitat S. 11.
4 Torben Fischer / Matthias N. Lorenz (Hrsg.), Lexikon der „Vergangenheitsbewältigung“ in Deutschland. Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, 3., überarbeitete und erweiterte Aufl. Bielefeld 2015, hier vor allem Abschnitt IV.
5 „Kompendium“, bereitgestellt durch das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache, https://www.dwds.de/wb/Kompendium (13.03.2022).