Cover
Titel
Begeisterte Zuschauer. Die Macht des Kinopublikums in der NS-Diktatur


Autor(en)
Garncarz, Joseph
Erschienen
Anzahl Seiten
356 S.
Preis
€ 38,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fernando Ramos Arenas, Departamento de Historia del Arte, Universidad Complutense Madrid

Der Kern dieses Buches steckt in seinem scheinbar unauffälligen Untertitel. Joseph Garncarz, Professor am Institut für Medienkultur und Theater der Universität zu Köln, untersucht das Kinopublikum zu Zeiten des Nationalsozialismus (NS) und spricht ihm eine entscheidende Macht zu. Sein Hauptargument lautet, dass das deutsche Kino dieser Zeit trotz politischer Kontrolle und Indoktrinierung eine zum großen Teil durch die Marktkräfte bestimmte Institution war. Filmzuschauer:innen hätten, so Garncarz, an der Kinokasse die Wahl zwischen verschiedenen Titeln gehabt, und somit wurde „die Filmproduktion selbst unter den totalitären Bedingungen des NS-Staates in einem erheblichen Maß von den Präferenzen des Publikums bestimmt“ (S. 23). Der Kontrast mit den üblichen Lesarten, die im NS-Kino eine verführerische Kraft im Dienste eines autoritären Gesellschaftsprojekts sehen und ihm eine große Wirkung beimessen (siehe hierfür beispielsweise Sabine Hakes Popular Cinema of the Third Reich1), ist somit deutlich. Dieser Unterschied begründet den innovativen Charakter dieses Bandes, der sich zugleich als logische Entwicklung früherer, wichtiger Arbeiten desselben Autors wie Hollywood in Deutschland: Zur Internationalisierung der Kinokultur 1925–1990 und vor allem Wechselnde Vorlieben: Über die Filmpräferenzen der Europäer, 1896–1939 versteht und in den Forschungsbereich der New Cinema History einordnen lässt.2

Der Anfang ist überraschend und anregend: in einem zehnseitigen Vorwort wird die Familiengeschichte des Autors während der NS-Zeit beschrieben und damit, obwohl es im restlichen Buch keinen weiteren Bezug auf diesen Teil gibt, der Rahmen vorgestellt, der die anderen Kapitel bestimmt. Denn im Grunde genommen geht es um Leute wie die Eltern des Verfassers, die nun im Zentrum einer Studie stehen. Sie hatten mit ihrer Konsumwahl Einfluss auf den Filmerfolg (Zahl der verkauften Eintrittskarten) sowie auf die Produktionsfirmen, die sich dem Publikumsverhalten anpassten. Die meisten Filme wurden zu dieser Zeit beispielsweise mit einer ähnlichen Kopienzahl gestartet; bei erfolgreicheren Filmen wurden dann mehr Kopien nachgezogen. Wie dieser Ansatz dabei helfen kann, die Filmkultur der Zeit neu zu durchleuchten, wird in den Teilen zwei und drei geklärt, die sich in einzelne Abschnitte zur Filmpolitik und -industrie gliedern. Behandelt werden unter anderem die Demografie des Publikums (Kapitel sieben), die kulturelle Differenzierung der Filmpräferenzen (Kapitel acht), Genrepräferenzen (Kapitel neun) und die Beliebtheit „NS-naher“ Filme (eine Minderheit, 37 von 1877 Filmen, um die zwei Prozent im Gesamtkontext) (Kapitel zehn); ferner die Rolle von Hollywood-Filmen in Deutschland und schließlich die Filme der NS-Zeit im Ausland und nach 1945.

Zuerst werden jedoch die methodischen Grundlagen der Arbeit auf mehr als 50 Seiten erläutert. Als Analysemethode wurde das POPSTAT-Verfahren verwendet, das von John Sedgwick Ende der 1990er-Jahre entwickelt wurde und seitdem breite Akzeptanz gefunden hat. Mit ihm lassen sich Filmerfolgsranglisten unter Berücksichtigung folgender Faktoren erstellen: „Laufzeit eines bestimmten Films x wirtschaftliches Potenzial des Kinos, in dem er lief x Status dieses Films im Programm“ (S. 70). Im konkreten Fall wurde das Verfahren von Garncarz noch optimiert, indem er auch „die durchschnittliche Besuchsfrequenz pro Wochentag und Kalendermonat pro Jahr“ (S. 71) in seine Kalkulationen miteinbezieht. Er hat dann eine repräsentative Stichprobe aus Berliner Kinos zusammengesetzt, die auch für die deutschen Zuschauer:innen insgesamt stehen soll (vgl. S. 88). Auf dieser Basis präsentiert der Autor Zuschauer:innenzahlen und somit Filmerfolgsranglisten zu knapp 2.000 Filmen.

Was hier knapp zusammengefasst werden kann, wird von Garncarz ausführlich erklärt, sowohl im methodischen als auch im analytischen Teil. Dabei zeigt er eine generelle Abneigung gegenüber der rhetorischen großen Geste; stattdessen zeichnet seine Arbeit Genauigkeit und Akribie in der Auseinandersetzung aus mit den „1.877 in unserer Studie erfassten Filme[n], rund 14,5 Mio. Daten, die zu erheben, zu berechnen und auszuwerten waren“ (S. 93). Diese Ausführlichkeit und Liebe zum Detail kann allerdings bisweilen dem Lesevergnügen im Wege stehen. Dagegen stechen die Stellen besonders hervor, an denen Garncarz sich jenseits der beeindruckenden Daten und Zahlen wagt und diese anhand von konkreten Beispielen in einem größeren Zusammenhang mit breiteren kulturpolitischen Implikationen analysiert. Dies zeigt sich beispielsweise im achten Kapitel bei der Analyse des Films Robert Koch (vgl. S. 176–179). Hier wird deutlich, warum dieses Werk nicht nur generell, sondern auch beim jüdischen Publikum besonders erfolgreich war; unter anderem, weil es verschiedene, zum Teil konträre Lesarten zuließ.

Die Daten zum Filmkonsum sind beeindruckend (die umfangreichen Anhänge von über 50 Seiten mit unter anderem den Filmerfolgsranglisten für die Jahre 1933 bis 1945 sind in diesem Zusammenhang zu erwähnen), und sie werden unser Verständnis der Filmkultur unter dem Hakenkreuz prägen. Das deutsche Filmpublikum zeige sich, so Garncarz, in seinen Vorlieben und Abneigungen (zum Beispiel in ihrer Präferenz für das nationale Kino) den Publika in anderen Nachbarländern nicht unähnlich, wie er an mehreren Stellen mit Bezug auf sein eigenes Werk Wechselnde Vorlieben erklärt. Auch vom Kino der Vor- und Nachkriegszeit unterschied es sich weniger als gemeinhin angenommen. Abgesehen von den „NS-nahen“ Filmen sei die Filmauswahl des Publikums relativ unabhängig von ihrer politischen und religiösen Orientierung gewesen. Die Zuschauer:innen bestimmten also „durch ihre Wahl an der Kinokasse die gesamte Filmkultur der NS-Zeit in einem Maß mit, das die bisherige Forschung [...] unterschätzt hat“ (S. 248) – so das Fazit im letzten Kapitel, das die Anfangsthese der Arbeit bestätigt.

Vielleicht ist es diese argumentative Geschlossenheit, die einen als Leser bisweilen unbefriedigt lässt. Denn obwohl es an der methodischen Genauigkeit und der Dichte der Daten nichts zu bemängeln gibt, wirken die Aussagen, die das Verhalten des Kinopublikums erklären sollen, bisweilen zu knapp. Dass bestimmte Titel ein größeres Publikum anzogen, wird beispielsweise so begründet, dass sie attraktiver waren, „weil in sie mehr Geld und Arbeitszeit investiert wurde“ (S. 265). Firmen seien außerdem wettbewerbsfähiger, weil es „ihnen gelungen ist, ihre Filme besser an der Nachfrage der Zuschauer auszurichten“ (S. 124). Der Erfolg der Filmkomödien unter dem deutschen Publikum in den 1930er-Jahren (im Vergleich beispielsweise zu Ländern wie Großbritannien, wo Dramen populärer waren) sei womöglich dadurch zu erklären, dass „der Anpassungsdruck an die ‚neuen‘ Werte der Gesellschaft für viele erheblich war und das Lachen eine momentane Erleichterung von diesem Druck bietet“ (S. 197). In all diesen Fällen sind die angegebenen Gründe an sich sicherlich nicht falsch, sie wirken allerdings unzureichend vor allem im Vergleich mit der diskursiven Tiefe in anderen Teilen.

Was aber die eigentlichen Argumente des Bandes angeht, werden sie auf 280 Seiten überzeugend dargelegt. Das Resultat ist ein wichtiges, inspirierendes Buch, das unser Bild der Kinokultur zu NS-Zeiten an mehreren Stellen modifiziert und außerdem zu neuen Forschungsfragen anregt.

Anmerkungen:
1 Sabine Hake, Popular Cinema of the Third Reich, Austin 2001.
2 Joseph Garncarz, Hollywood in Deutschland: Zur Internationalisierung der Kinokultur 1925–1990, Frankfurt am Main 2013; ders., Wechselnde Vorlieben. Über die Filmpräferenzen der Europäer 1896–1939, Frankfurt am Main 2015.