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Titel
Der lange Weg zum Internet. Computer als Kommunikationsmedien zwischen Gegenkultur und Industriepolitik in den 1970er/1980er Jahren


Autor(en)
Röhr, Matthias
Reihe
Histoire (193)
Anzahl Seiten
373 S.
Preis
€ 50,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Simon Donig, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

Mit seiner Monografie Der lange Weg zum Internet, die auf eine 2020 an der Universität Hamburg abgeschlossene Dissertation zurückgeht, begibt sich Matthias Röhr auf die Suche nach Wurzelsträngen eines umfassend und tiefgreifend transformativen Kommunikationsmediums. Der geografisch zunächst unbestimmte Titel zeigt eine der zentralen Herausforderungen, mit denen sich eine Geschichte dieses mit universalem Anspruch auftretenden Mediums konfrontiert sieht: Sie lässt sich weder einseitig technologiedeterministisch als eine Geschichte von Hardware, Software und Infrastrukturen schreiben noch allein als eine Geschichte wirtschaftlicher Entwicklungen oder gouvernementaler Lenkungs- und Aushandlungsprozesse, zumal diese als Teil eines umfassenderen Globalisierungsweges begriffen werden können. Sie schließt darüber hinaus notwendigerweise breitere gesellschaftliche Diskurse und Gegenkulturen ein – und bedarf doch einer Verortung, um nicht beliebig zu sein.

Auch wenn er die Wurzelmetapher selbst nicht bemüht, adressiert Röhr genau diese Gemengelage, indem er den jeweiligen Strängen in unterschiedlicher Tiefe, Breite und Verästelung in die Vergangenheit folgt. Geografisch wandert seine Aufmerksamkeit zwischen der Bundesrepublik Deutschland der 1970er-und 1980er-Jahre, die der engere Gegenstand der Untersuchung ist, und den Vereinigten Staaten hin und her, wo Entwicklungen bis in die 1960er-Jahre zurückverfolgt werden. Die unterschiedliche Zeitlichkeit hat ihren Ursprung gerade auch in der Perzeption und Funktion der USA als einer Referenzfläche, die in verschiedener Weise prägend für alle Länder Europas war, insbesondere auch durch jenes Phänomen, das häufig als technologische Lücke (technology gap) bezeichnet worden ist.

Zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen macht Röhr die offenkundige historische Zäsur, das rasche Fremdwerden der Vergangenheit, das er mit einem Zitat von Wau Holland einführt, des Mitbegründers des Chaos Computer Clubs (CCC). Holland äußerte in einem Vortrag 1998, dass für ihn die Situation zu Beginn der 1980er-Jahre schon so weit zurückliege „wie’s Mittelalter“ (zit. auf S. 11). Röhr spürt in seiner Arbeit genau diesem Bruch nach: zwischen einem durch das Fernmeldemonopol regulierten Markt, in dem die Hacker- und Mailbox-Szene, die mit oft selbstgebauten Modems online ging, sich in Konfrontation zur Ordnungsmacht befand, und einem liberalisierten Markt der Individualkommunikation Ende der 1990er-Jahre, der schon recht nahe an Hollands in den 1980er-Jahren artikuliertem Ideal der „freien Information“ und des „Menschenrechts auf freien Datenaustausch“ (S. 319) zu sein schien.

Die Monografie gliedert sich in drei Teile und einen knappen Ausblick auf die 1990er-Jahre, der die Brücke zum Internet selbst schlägt. Die Hauptteile befassen sich mit der Entwicklung von Computern und Telekommunikation in den USA der 1950er-/1960er- sowie der Bundesrepublik der 1970er-/1980er-Jahre sowie mit ihrer Rezeption in den Gegenkulturen der 1970er- und 1980er-Jahre. Röhr formuliert dabei die grundlegende These, dass sich die Auseinandersetzungen des Chaos Computer Clubs sowie der Hacker- und Mailbox-Szene mit dem Staat in einen „langfristigen, (mindestens) transatlantischen Aushandlungsprozess einordnen [lassen], durch den der vernetzte Computer als Kommunikationsmedium geformt und in gesellschaftliche, ökonomische, kulturelle und politische Strukturen eingeordnet wurde“ (S. 13).

Am Beispiel der USA zeigt Röhr zunächst, dass es keineswegs selbstverständlich war, dass der Computer überhaupt im zitierten Sinn als Kommunikationsmedium wahrgenommen wurde. Geformt wurde dessen Gestalt zunächst von technischen Entwicklungen, von regulatorischen Entscheidungen sowie letztlich von Funktions- und Rollenzuschreibungen an die Technologie aus verschiedenen Kontexten (grob in dieser Reihenfolge Kapitel 1–3). Prägend war für die USA eine regulatorische Trennung zwischen dem Bereich der eigentlichen Datenverarbeitung und jenem der Telekommunikation, was vor allem kartellrechtliche Gründe hatte. Insbesondere der kybernetisch inspirierten Informationstheorie war es dagegen zu verdanken, Mensch-Maschine-Systeme gemeinsam zu denken, wobei Projekte wie das militärische Luftraumüberwachungssystem Semi-Automatic Ground Environment (SAGE) derartige Visionen seit den 1950er-Jahren implementierten (S. 44). Durch die Entwicklung des Timesharing (also der gleichzeitigen Nutzung eines Rechners durch mehrere Partner) und das Konzept der Computer Utility (des ubiquitären Zugangs zu Rechenleistung quasi aus der Steckdose) entdeckte schließlich die Datenverarbeitungsbranche die Vorteile der Verbindung von Computern über Telekommunikationsnetze. Nachdem lange Zeit Mainframe-Systeme vorgeherrscht hatten, markierte der Durchbruch des Heimcomputers als kommerziellem Massenprodukt, das zum Teil mit überschaubaren Mitteln im Selbstbau an das Telefonnetz gebracht werden konnte, seit Anfang der 1980er-Jahre eine Zäsur. Verbunden mit einem Verzicht der Regulierungsbehörde Federal Communications Commission (FCC) auf die Kontrolle sogenannter Hybrider Dienste (Computer-II-Entscheidung, 1979) ermöglichte dies die Entstehung einer „Modemwelt“, in der zentrale, kommerzielle Dienste und Boards neben einem niederschwelligen Zugang zum Computer als dezentralem, auch nichtkommerziellem Kommunikationsmedium standen.

Ähnlich zeichnet Röhr im zweiten Teil der Monografie die Entwicklung in der Bundesrepublik nach: Telekommunikationssektor und Computerindustrie (Kapitel 4 und 5), Medien- und Industriepolitik sowie die Datenkommunikation auf dem Weg zur Individualkommunikation (Kapitel 6 und 7). Röhr zeigt hier, dass auch für die Bundesrepublik eine zentrale Herausforderung darin bestand, den Computer in das bestehende Mediensystem einzuordnen. Mit Bildschirmtext (BTX), dessen Einführung zunächst für 1976 geplant war, sollte ein zentraler Fernmeldedienst entstehen, bei dem über das Telefonnetz Informationen von einem zentralen Computersystem auf einem Fernsehgerät abgerufen werden konnten. Erst 1984 konnte die Technologie jedoch vollständig umgesetzt werden. Dieses Modell entsprach einer Regulierung der Kommunikation mit einer klaren Trennung zwischen Anbietern und Nutzern. Generell suchte die Bundespost eine Einschränkung des Fernmeldemonopols zu vermeiden, das 1977 durch das Bundesverfassungsgericht gerade auch gegenüber Liberalisierungsbestrebungen von Teilen der westdeutschen Computerindustrie noch einmal gestärkt wurde. Ähnlich wie in den USA zogen sich die damit verbundenen Konflikte so lange hin, bis sich die technische Basis durch das Aufkommen des Heimcomputers grundlegend verändert hatte. Nutzende forderten nun wie in den Vereinigten Staaten eine Liberalisierung des Fernmeldemonopols, die in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre nicht zuletzt unter dem Druck der Europäischen Gemeinschaft dann auch kam.

Im dritten Teil (Kapitel 8 und 9) verfolgt Röhr gegenkulturelle Bewegungen in den USA und der Bundesrepublik, die sich mit Computern und Telekommunikation auseinandersetzten. In den Vereinigten Staaten traf hier eine Bewunderung des kreativen und spielerischen Potentials der neuen Technik auf eine grundsätzliche Ablehnung der Strukturen und Eigentumsverhältnisse des Telekommunikationssektors, dem kritische Stimmen unter anderem die Unterstützung des Vietnam-Krieges vorwarfen. Auch in der Bundesrepublik war die junge Szene durch ein grundlegendes Misstrauen gegenüber dem Staat und der staatlichen Telekommunikationsinfrastruktur geprägt. Anders als in den USA gelang es mit dem Chaos Computer Club, eine medial erstaunlich wohlwollend betrachtete Gegenöffentlichkeit von White Hats aufzubauen, die sich für freien Zugang zu Information und damit für ein partizipatives, dezentrales Kommunikationsmodell einsetzte. Letzteres war auch deshalb besonders relevant, weil sich die linksalternative Szene anfänglich vielfach als technologiefeindlich erwies, mit dem Vorwurf an die Hacker-Szene, letztlich Arbeit zu verdrängen und bestehende Machtverhältnisse zu verfestigen.

Die Darstellung ist über weite Teile durch die Synthese der inzwischen schon sehr dichten Forschungsliteratur geprägt, die Röhr mit einem reichen Schatz an publizistischen und archivalischen Primärquellen verbindet (vor allem in den Kapiteln 7, 8 und 9). Besonders gelungen ist die Darstellung der unterschiedlichen Pfade, die die Regulierung der Technologien in der Bundesrepublik und den USA genommen hat. Aber auch der vergleichende Blick auf die verschiedenen Ausprägungen von Gegenkultur dies- und jenseits des Atlantiks macht ohne Zweifel einen Kern der Monografie aus.

Gewünscht hätte man sich stellenweise dennoch eine Weitung der Perspektive, um eventuelle Engführungen zu vermeiden, die aus dieser Anlage des Forschungsdesigns resultieren. Entwicklungen in anderen europäischen Ländern kommen eher am Rande vor, obwohl sie für die Frage nach der Spezifik des bundesdeutschen Weges sehr relevant sind. Auch die Untersuchung der Gegenöffentlichkeiten beschränkt sich vorwiegend auf die Perzeption und den Vergleich mit der amerikanischen Counter Culture. Ein wenig irritiert am Ende der Arbeit schließlich der in der Zusammenfassung neu eingebrachte Begriff des „Widerspruchs“, der – fast historisch-materialistisch anmutend – dann jeweils durch neue Entwicklungen „aufgelöst“ wird, der aber sonst in der Monografie als analytisches Konzept keine Verwendung findet und dessen die Arbeit als Erklärungsmuster auch nicht wirklich bedarf. Gern hätte ich zudem auf die inzwischen in Rezensionen verbreitete Anmerkung verzichtet, dass das Lektorat des Verlags – sofern vorhanden – stellenweise doch recht nachlässig war (etwa ein komplett fehlender Halbsatz in Fußnote 74 auf S. 211 oder Tippfehler wie „Softwarekriese“ in Fußnote 98 auf S. 216).

In der Summe aber stellt die Monografie einen spannenden, gut lesbaren Beitrag zur Ausformung des Computers als Kommunikationsmedium dar, der in seinen vertiefenden Teilen die Forschung bereichert und darüber hinaus als nützlicher Überblick dienen kann, der geeignet ist, weitere Forschung anzustoßen. Sowohl der Weg zum Internet als auch der Weg des Internets bieten noch genug Stoff zur Historisierung.