Cover
Titel
Sex – richtig!. Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts


Autor(en)
Laukötter, Anja
Erschienen
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Anzahl Seiten
543 S., 129 Abb.
Preis
€ 46,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Olaf Stieglitz, American Studies, Universität Leipzig

In der Kölner Innenstadt gibt es einen Buchladen, zu dessen Alleinstellungsmerkmalen es gehört, eines seiner Schaufenster für „Filmbücher“ zu reservieren. Darin können sich Interessierte stets über ausgewählte Neuerscheinungen in dieser Nische des Buchmarkts informieren, über aufwendig gestaltete Bildbände zu Hollywood Blockbustern ebenso wie über Biografien zu bundesdeutschen Nachkriegsregisseur:innen. In diesem Frühjahr konnte man darin auch ein Exemplar von Anja Laukötters neuem Buch finden. Daran, das ist leider zu vermuten, war der Schutzumschlag nicht ganz unschuldig: Der Titel Sex – richtig! findet sich darauf in riesigen Buchstaben am oberen Rand, und zur Untermauerung seiner verheißungsvollen Ankündigung ist in der unteren Hälfte ein kreisrundes Foto platziert, auf dem Jugendliche zu sehen sind, die gebannt einem Film folgen, den ihnen ein zugeknöpfter Lehrer vorführt. Dem Wallstein Verlag ist zu gratulieren; sein Anliegen, eine über 500 Seiten lange geschichtswissenschaftliche Habilitationsschrift publikumswirksam zu vermarkten, ist beinahe vorbildlich aufgegangen.

Doch auch die Inhalte des Buchs und seine Argumentation rechtfertigen den exponierten Platz im Schaufenster. Der Untertitel – Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts – verspricht womöglich immer noch mehr, als die Autorin tatsächlich anzubieten hat, doch zeigt er Pfade in eine Studie auf, die erhebliche Desiderate in der deutschsprachigen Geschichtsschreibung zur Sexualaufklärung sowie zum Film als Medium der Wissensvermittlung zu beseitigen hilft. Welche Rolle spielten Filme in der Sexualaufklärung im Verlauf des 20. Jahrhunderts? Wie wurden Filme über Reproduktion, Verhütung und vor allem Geschlechtskrankheiten in medizinischen, pädagogischen, moralischen, medientheoretischen oder politischen Debatten wahrgenommen und diskutiert, wie wurden sie in sich wandelnde Kino- und andere Vorführinfrastrukturen platziert, wie wurde die Rezeption durch verschiedene Publika erforscht und zu steuern versucht? Wie waren die Versuche, mit Filmen vermeintlich wissenschaftlich abgesichertes Wissen vermitteln zu wollen, an Emotionen gekoppelt, oft an Vorstellungen von Angst und Scham, bisweilen aber auch an Lust und Freude? In welchem Verhältnis konstruierten diese Filme das Verhältnis von Bevölkerung einerseits und Individuum andererseits; welche Politiken der Subjektivierung lassen sich aufzeigen? Welche privaten, öffentlichen sowie staatlichen Organisationen bemühten sich um filmische Sexualaufklärung, und inwieweit war der Wunsch nach wirkmächtigen Filmen transnational verflochten? Diesen und anderen Fragen geht die Autorin in ihrer quellengesättigten Untersuchung auf mehreren, ineinander verwobenen Ebenen nach, in die sie in ihrer Einleitung umfassend einführt.

Laukötter verortet ihre Arbeit zur Geschichte des Sexualaufklärungsfilms in vier historiografische Forschungsperspektiven. Erstens nimmt sie die These vom 20. Jahrhundert als „Jahrhundert der Bilder“ auf, kennzeichnet ihre Forschung als Teil einer Visual History und fragt danach, wie die Bilder der Aufklärungsfilme „nicht nur Sehpraktiken, sondern auch Einstellungen, Verhalten und Handeln der Menschen“ veränderten (S. 23). Das ist einerseits bemerkenswert, denn bislang finden Filme im Feld der (deutschsprachigen) Forschung zur visuellen Kultur der Dekaden nach 1900 noch immer viel zu wenig Beachtung, auch wenn sich dies in den vergangenen Jahren langsam zu ändern beginnt. Andererseits konzentriert sich die Autorin auf nicht-fiktionale, wissenschaftlich-pädagogische Produktionen – dem Spielfilm und seiner Rolle im Aushandlungsprozess von „richtigem“ oder „falschem“ Sex, der größeren Dimension von Körperpolitik und Gefühlserziehung im Kino des 20. Jahrhunderts, kann und will die Studie nicht nachgehen und verweist so auf die umfangreiche Forschung, die hier in Zukunft noch zu leisten wäre.

Eine besondere Bedeutung kommt der zweiten Perspektive der Studie zu. Die Geschichte der Emotionen gehört gegenwärtig zu den besonders dynamischen Forschungsfeldern, und es ist anregend, die dort diskutierten Zusammenhänge aktiv mit Filmen und Filmrezeptionen in Zusammenhang zu bringen. Eine solche Analyse vermag nicht nur Geschichts- und Filmwissenschaft in einem theoriegeleiteten Rahmen miteinander zu verbinden, sie ermöglicht auch eine dezidiert historische, quellennahe Betrachtung, schließlich haben zahlreiche Autor:innen aus Wissenschaft, Pädagogik und Medienpraxis im Verlauf des Untersuchungszeitraums die Interaktion von Wissensvermittlung und emotionaler Publikumssteuerung zu beleuchten versucht.

Dies steht bereits in engem Verhältnis zur dritten zentralen Forschungsperspektive: Der Wissenschaftshistorikerin ist es ein besonderes Anliegen, „die Entstehung, Produktion und Vermittlung wissenschaftlichen Wissens auch außerhalb des universitären und wissenschaftlichen Rahmens deutlicher in den Blick zu nehmen“ (S. 30). Emotionen, so Anja Laukötter, seien von diesen Praktiken der medial-populären Wissensvermittlung nicht zu trennen, und dem geht sie in den sehr öffentlichen Räumen und Praktiken des Kinos nach.

Viertens schließlich begreift sich die vorliegende Arbeit als eine Geschichte des Körpers und der Sexualität. Auch in diesem Feld soll sich die Analyse filmischer Quellen als besonders ertragreich erweisen, denn in Sexualaufklärungsfilmen „werden Körper visuell umfassend präsentiert, zugleich sind sie Gegenstand von politischen Debatten und Zuschauerforschung […]“ (S. 33). Die Studie ist mithin ein Versuch, Diskurse und Praktiken der Sexualaufklärung über das Medium Film gemeinsam und aufeinander bezogen zu verhandeln.

Dieses Programm setzt die Autorin in einer Langzeitstudie über das ganze 20. Jahrhundert hinweg um, die zwar einen klaren Schwerpunkt auf Entwicklungen in Deutschland legt, diesen aber ausdrücklich transnational unter Berücksichtigung französischer und US-amerikanischer Filme und Debatten erweitert. Insgesamt räumt Anja Laukötter der Verflechtungsgeschichte einen beträchtlichen Stellenwert ein, und auch dem historischen Vergleich zwischen der Bundesrepublik und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) erwächst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine tragende Rolle. Auf der Basis von zahlreichen ausführlich vorgestellten und diskutierten Filmen1, unter Rückgriff auf umfangreiche schriftliche Dokumente aus staatlichen, wissenschaftlichen und filmwirtschaftlichen Archiven sowie nicht zuletzt unter Berücksichtigung der breiten öffentlichen Diskussion von Filmen zur Sexualaufklärung, führt die Autorin ihre Leser:innen auf eine dichte und detailreiche Reise in Kinosäle, Kasernen, Schulen und andere Orten, in denen ein oft junges Publikum über vermeintlich richtigen Sex, über Empfängnisverhütung und die Gefahren sexuell übertragbarer Krankheiten unterrichtet werden sollte.

Der Aufbau des Buchs ist chronologisch und orientiert sich an den Zäsuren der deutschen Geschichte; dass das in einer transnationalen Studie zu einer meist auf internationale Kooperation ausgerichteten Filmwirtschaft nicht immer ganz passgenau ist, kalkuliert die Autorin ein. Kapitel eins thematisiert die Anfänge des Sexualaufklärungsfilms und diskutiert dann ausführlich dessen Rolle im Ersten Weltkrieg, als die Sexualität der Frontsoldaten als Gefährdung in den Blick geriet. Zugleich unterstreicht das Kapitel, dass die Entwicklung dieser Aufklärungsfilme von Beginn an in einer engen Beziehung zur Erforschung der Emotionen im Publikum stand.

Das zweite Kapitel über die 1920er-Jahre kreist um Versuche, ein erkennbares Genre-Format für Aufklärungsfilme und deren Konzepte zur Visualisierung von Wissen zu stabilisieren. Diese Bemühungen wurden nicht zuletzt durch internationale Zusammenarbeit vorangetrieben, die allerdings immer auch von nationalen Debatten um Zensur oder politische Vereinnahmung flankiert waren.

Im dritten Kapitel und mit den Filmen des Nationalsozialismus diskutiert Laukötter eine filmische Strategieverschiebung, die sie als „Medialisierung des positiv Emotionalen“ charakterisiert: „Dabei wird deutlich, dass von einer Weimarer Didaktik, die mit Gefühlen wie Angst oder Scham arbeitete, Abstand genommen wurde. […] in dem Soldaten-Film über Geschlechtskrankheiten sollten sie mit dem Angebot eines positiv konnotierten Gefühls überwunden werden“ (S. 197). Das vierte Kapitel zur Besatzungszeit stellt die so genannten atrocity-Filme dieser Jahre, in denen die deutsche Bevölkerung über Scham und Schuld adressiert wurde, in eine produktive Beziehung zum Aufklärungsfilm und fragt so nach einer „Reeducation der Emotionen“ (S. 255ff.) als filmpolitische Strategie der Besatzungsmächte.

Kapitel fünf und sechs verhandeln jeweils ausführlich die Entwicklungen in der Bundesrepublik sowie in der DDR. In diesem Vergleich bis in die 1980er-Jahre hinein betont die Autorin eher systembedingte Unterschiede denn Gemeinsamkeiten, allerdings treten in beiden Staaten und ihren Filmproduktionen deutlich sichtbare Kontinuitätslinien hervor, sowohl bei der wissensvermittelnden Gestalt der Aufklärungsfilme als auch im Versuch der emotionalen Publikumsadressierung.

Sex – richtig! ist eine sehr anregende, kenntnisreiche und inspirierende Studie, das Buch ist aber – das sei der Laufkundschaft vor dem Kölner Schaufenster gesagt – keine leichte Lektüre. Es ist sprachlich sehr formal verfasst und in seinem Bemühen, Kontinuitäten und Wandel über ein ganzes Jahrhundert ausweisen zu wollen, mitunter auch etwas redundant. Die Diskussion von organisationshistorischen Aspekten fällt an manchen Stellen sehr lang aus und verstellt so bisweilen die interessante Sicht auf die Filme, das Publikum und die Diskussion drumherum. Die transnationale Erweiterung ist besonders in den ersten Teilen der Untersuchung eine wichtige und gelungene Horizonterweiterung, sie tritt dann aber in den letzten Kapiteln zu sehr hinter dem deutsch-deutschen Vergleich zurück. Das ändert indes nichts daran, dass Anja Laukötter eine wertvolle Untersuchung vorgelegt hat, die den Sexualaufklärungsfilm als historische Quelle ernst genommen und ihn als lohnendes Objekt einer Emotions- und Wissensgeschichte etabliert hat.

Anmerkung:
1 Einige für die Studie wichtige Filme hat die Autorin auf dieser Website dokumentiert: https://medfilm.unistra.fr/wiki/Sex_richtig (30.09.2022). Darüber hinaus werden diese und andere Filme an verschiedenen Stellen des Buchs ausführlich eingeführt.