I. Gleichauf: Hannah Arendt und Karl Jaspers

Cover
Titel
Hannah Arendt und Karl Jaspers. Geschichte einer einzigartigen Freundschaft


Autor(en)
Gleichauf, Ingeborg
Erschienen
Göttingen 2021: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
197 S., 10 SW-Abb.
Preis
€ 23,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Huhnholz, Institut für Politikwissenschaft, Leibniz Universität Hannover

Das Motiv der Philosophin und Schriftstellerin Ingeborg Gleichauf, eine Biographie des deutsch-schweizerischen Existenzphilosophen Karl Jaspers (1883–1969) und der deutsch-jüdisch-U.S.-amerikanischen Politischen Theoretikerin Hannah Arendt (1906–1975) zu verfassen, wirkt prima vista harmlos: weil es „keine einzige Monographie zum Thema“ gebe (Klappentext), Jaspers’ Bedeutung für Arendt bisher wenig Aufmerksamkeit erfahre und wiederum der „ganz persönliche Karl Jaspers […] [n]irgendwo sonst“ so „sichtbar“ werde (S. 90). Auch die populären Darstellungen wie Margarethe von Trottas Film über Arendt (2012) oder Ken Krimsteins Graphic Novel (2018/19) hätten auf ihn verzichtet. Dass es um die Forschung eigentlich gut bestellt ist, der Briefwechsel vorliegt und von der Arendt-Gesamtausgabe viel zu erwarten ist, rückt dabei in den Hintergrund.1 Schnell macht Gleichauf nämlich klar, dass sie ein größeres und generelleres Thema traktieren will: Freundschaft.

Arendt und Jaspers seien Anschauungsmaterial dafür, „was Freundschaft sein kann“ (S. 20). Dieser „völlig neu[e]“ Blick tue, als „hätte man bisher überhaupt keine Ahnung gehabt davon, wie Freundschaft zu leben wäre. Über Arendt und Jaspers schreiben hieße dann, über Freundschaft schreiben, als hätte es noch niemand zuvor getan.“ (S. 11) Wie so ein Experiment gelingen soll? Nun, offenbar indem auf die Zuhilfenahme der Forschungsliteratur vollständig verzichtet wird, die Leitmotive und Werkphasen, Rezeptionsstränge und -methoden perfekt sortiert hat.

Das dritte der insgesamt dreizehn Kapitel, „Der Philosoph und die Denkerin“, betrachtet dann Gemeinsamkeiten zwischen beiden. Arendt tritt zunächst als Schülerin und Studentin, dann als Lebensfreundin Jaspers’ hervor, der wohl auch etwas verliebt gewesen sei; Jaspers wiederum erscheint als ein Gegenbild zu Heidegger, dem gemeinsamen Lehrer und dem Geliebten der jungen Arendt. Darum muss sich Heidegger ein weiteres Kapitel widmen. Darin zeigt sich zwar erneut nicht, worauf Gleichauf hinauswill, wohl aber, wie sie vorgeht. Bekannte Quellen unterschiedlichster Zeiten und Zustände werden kompiliert; es fallen alle beliebten Stichworte, wenigstens zu Arendt. Allgemeine Informationen zu Grundzügen der Personen und Werke stehen neben risikolosen Spekulationen: „Es ist aber sehr gut vorstellbar […], dass dies über so viele Jahre geführte Gespräch […] Faszination behalten hat […].“ (S. 106) Mitunter werden Exzerpte eingemischt: „Spannend sind auch die Porträts, die in Arendts 1948 erschienener Essaysammlung […].“ (S. 84) Gelegentlich ergänzt werden Spezialaspekte, mal passende, mal verträumte.

Die Binnenstruktur und die gesamte Anordnung der weiteren, unnummerierten Kapitel erschließen sich noch weniger. Sie müssen hier nicht im Detail aufgezählt werden. Weder Chronologie noch andere größere Argumentationsführungen verbergen sich hinter Überschriften wie „Denken und Schreiben“, „Sprechen und Handeln“, „Natur und Welt“, oft aber Anspielungen auf Werk-, gelegentlich auf Gesprächsthemen. Weil Arendt und Jaspers über fast alles plaudern, schreiben und „im Gespräch sind“, sie ihre Entwürfe diskutieren und Arbeiten schicken, ist alles Mögliche relevant, oder eben auch nicht. Sicher: Man kann würdigen, dass es Mühe kostet, interessante Stichworte aus der Korrespondenz zu filtern. Orientiert wird man dadurch nicht. Nirgends verzichtet Gleichauf hingegen auf ausführliches Zitieren erbaulicher Freundschaftsbekundungen, des vertraulichen Zuspruchs, der liebevollen Dankesformeln, der „‚Abschiedsstimmung[en]‘“ usw. Das letzte Kapitel heißt passenderweise „Ins Offene gesprochen“.

Darum seien zwei Vertiefungswünsche erwähnt. Geschmackssache scheint zu sein – das zum Ersten –, wie man sich zum gefühligen Zugriff verhält. Immerhin ist die ach so kluge und dabei noch witzige Hannah seit zwei Jahrzehnten eine allzu einfache Projektionsfläche geworden. Keine Schule oder Shopping Mall, so scheint es, die sich nicht nach ihr benennen wollte. Keine Arendt-Aussage auf Wühltischpostkarten („Niemand hat das Recht zu gehorchen.“), die noch tiefenphilosophisch verständlich statt bloß äußerlich schön und scheinbar zeitgemäß wäre. Mit der billigen Instant-Freundin sind Jedermann und Jederfrau immer auf irgendeiner genau richtigen Seite. Das aber ist nicht nur angesichts der traurigen Themen Arendts bizarr, die ja völlig zu Recht als „Denkerin der Stunde“ gehandelt wird.2 Hinsichtlich der entlarvenden Rolle der „Herrschaft des Niemand“, also gemessen am Banalität-des-Bösen-Theorem, ist es auf vergnügte Weise „dumm“. Wenn wir nicht sehen (wollen), wie die staatstragende Vorzeige-Jüdin und die liebe Freundin Hannah die radikale politische Denkerin Arendt entschärfen, verkommt sie zum Label für belangloses Reden, für bloßes Meinen statt reflektiertes Urteilen.

Verkauf und Forschung wurden durch die geschichts- und moralpolitische Gefälligkeit dieser neuen Hannah Arendt der Berliner Republik sicher belebt. Jedes publikumswirksamere Buch über sie schimmert aber in diesem Zwielicht. Ein solches Risiko nimmt auch Gleichauf entweder hin – oder sie spielt damit. Von den ersten Zeilen an schmiegt sie sich an ihre Protagonistin, probt den Spagat zwischen großer Sensibilität und großer Allgemeinheit. Ich gestehe, dass ich bis zur letzten Seite unsicher geblieben bin, ob das bewusste Strategie ist oder aber Folge des benannten Syndroms. Sollte es – sodann: esoterisch gelungene! – Strategie sein, stellt sich gleichwohl die Frage, welchen aufklärerischen Wert eine Darstellungsmethode hat, die die „Provokation Arendt“ verschweigt und das seichte Interesse an der Guten Hannah bedient. Man stelle sich nur Arendts Gesicht vor, wenn jemand sie als „Stichwortgeberin für weiterführende Diskussionen und Erörterungen“ (S. 30) unserer Zeit von „Corona“ bis „Reckwitz“ bewirbt (S. 29), als Vehikel, um uns eigene „Eindrücke“ zu „Klimawandel“ und über die „vielen Kriege und Bürgerkriege in der Welt“ mitzuteilen (S. 169).

Zum Zweiten: Gleichauf nähert sich Jaspers und Arendt als eine Philosophin mit Beziehungsinteresse – also ohne Quellenkritik oder dynamische Kontextualisierung. Dass es dafür nur die bekannten Ego-Dokumente in unterschiedlichsten Editionen und Auflagen braucht, ist okay. Doch mehr Aufwand wäre bei der Ortsbestimmung des „Gesprächs“ zu wünschen gewesen. Denn hier hat Gleichauf einen Ansatz gefunden, der hochinteressant und traditionsreich sein könnte – nähme sie ihn ernster. Sie nennt ihn eine „Schule des gelingenden Gesprächs“ (S. 27) und beschreibt ihn unaufhörlich mit Spatialmetaphern. Wenn Jaspers und Arendt von Anfang an „ins Gespräch treten“ und den „Faden auf[]nehmen“ (S. 184), konturiere ihre Freundschaft einen „Gesprächsraum“, der sich „weitet“ und nie „enger wird“ usw. (S. 12). Dass die Bewegungsab- und -verläufe des Sprechens Erkenntniswerkzeuge sind, wissen wir seit Sokrates’ Spaziergängen. Bei Gleichauf ist es von Beginn an das Haus Jaspers’, in das Arendt zurückkehrt wie in eine „Heimat“ (S. 9), damit sie nicht „irgendwo in der Welt verloren“ geht (S. 37). Arendt verorte „das Denken auch im Rückzug aus der Welt, aber sie würde ihren Wohnsitz niemals in der Einsamkeit des Denkens sehen“ (S. 55).

Nach dem Zweiten Weltkrieg – und in der Nachkriegszeit liegen die Schwerpunkte der quellenmäßig greifbaren Korrespondenz, liegen die Europareisen Arendts und darum auch die Schwerkräfte von Gleichaufs Beispielen – bietet also der „häusliche“ Jaspers in Basel ein Heim, eine heile schweizerische Insel im Zentrum des ansonsten kriegsverwüsteten Kontinents. Bei inkompatiblem Besuch darf Arendt nicht mit zu Tisch. Ab 1962 hat auch Jaspers’ Assistent hier ein Zimmer; immer ist alles „schön“, lässt der später wissen (S. 33). Überdies verbinden Arendt und Jaspers dann ja auch die gemeinsam „verlorenen“ Orte, namentlich die für beide unterschiedlich traumatische und mythische Universitätsheimat Heidelberg sowie der Freiburg-Meßkirch-Raum Heideggers, dessen „Wohnsitz“ Arendt symbolstrotzend eine „‚Falle‘“ nennt (S. 58–61).

All das ist in Basel präsent. Man bräuchte mindestens einen Grundriss vom Haus Jaspers, von Grundstück, Lage und Umgebung, um zu erfassen, was sich hier wie entfalten kann, wie sich Denken und Gespräch bewegen, welche behagliche Atmosphäre wer wie genau einrichtet. Hierzu gelingen Gleichauf vortreffliche Stilisierungen. Über diese erführe man gern Genaueres. Man assoziiert doch politphilosophische Urkategorien von oikos und polis, wenn – der gesundheitlich seit Kindheit zur Ruhe genötigte – Jaspers für das Heim steht, Arendt für die Welt, er für Haushalt, sie für die Haltlosigkeit des „Denkens ohne Geländer“, er für das Private, sie für das Öffentliche, er für den Rückzug, sie für den Schnellzug.

Den beiden antisemitisch Verfolgten und Geflohenen fuhrwerkt bei alldem eben noch der daseinsräumliche Antisemit Heidegger in die Quere. Auch im neutralisierten Baseler Idyll sind Arendt und Jaspers immer wieder zurückgeworfen auf das Thema Heidegger und fragen sich, wie sie sich zu diesem Abgrund und zu Heidegger persönlich verhalten sollen. Diaspora, Exil, die ewige Wanderschaft etc. – die Themen „stehen im Raum“ wie ein weißer Elefant.

All die Metaphorik Ingeborg Gleichaufs ist also ganz wundersam und geistreich funkelnd. Aber was sie für die Tiefenstruktur des Gesprächs der Freunde genau bedeuten soll, wäre wichtig gewesen zu erfahren. Denn wie die Autorin verschiedentlich andeutet: Der Raum der Begegnung, zumal die öffentlichen Begegnungsforen von Polis und Republik, und die zeitenthobene Ewigkeit des Denkens sind für Arendts Politische Theorie im Unterschied zu ihrer mit Jaspers gewünschten Ideenschau erhebliche Größen.

Anmerkungen:
1 Jüngst Carmen Lea Dege, „Standing behind your phrase“: Arendt and Jaspers on the (post-)metaphysics of evil, in: European Journal of Political Theory, Online First, 24.11.2021; Hannah Arendt / Karl Jaspers, Briefwechsel 1926–1969, hrsg. v. Lotte Köhler und Hans Saner, München 1985, ungekürzte Tb.-Ausg. 2001; Karl Jaspers, Korrespondenzen. Philosophie. hrsg. v. Dominic Kaegi und Reiner Wiehl, Göttingen 2016.
2 Thomas Meyer, Die Denkerin der Stunde? Neue Schriften von und über Hannah Arendt, in: Politische Vierteljahresschrift 62 (2021), S. 341–361, https://doi.org/10.1007/s11615-021-00308-z (16.02.2022).

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