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Titel
Cutting Words. Polemical Dimensions of Galen's Anatomical Experiments


Autor(en)
Salas, Luis Alejandro
Reihe
Studies in Ancient Medicine (55)
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 328 S.
Preis
€ 140,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lutz Alexander Graumann, Klinik für Allgemein-, Viszeral-, Thorax-, Transplantations- und Kinderchirurgie, Justus Liebig Universität Gießen

„Cutting words“, schneidende Worte, ist der sehr vielversprechende, chirurgisch-philologische Titel dieser neuen Monographie über die aus der Antike überlieferten anatomischen Experimente des Arztes, Philosophen und Vielschreibers Galen von Pergamon. Hierbei handelt es sich um die erweiterte Fassung von L. A. Salas‘ Dissertation (PhD) an der Universität von Austin/Texas. Hauptaugenmerk ist dabei Galens „monolithische Abhandlung“ (S. 24) De anatomicis administrationibus (Anat. Administr., kurz AA), aber im Weiteren auch De naturalibus facultatibus (Nat. Fac.), De usu partium (UP), An in arteriis natura sanguis contineatur (Art. Sang.) sowie Aristoteles‘ zoologische Werke De generatione animalium (GA) und De partibus animalium (PA). Der Untertitel „polemische Dimensionen von Galens anatomischen Experimenten“ deutet schon auf den kommenden Schwerpunkt hin (S. 38: „just how cutting Galen’s polemical could be“). Formal besteht diese knapp 300-seitige Abhandlung aus acht Kapiteln, umrahmt von einer Einleitung und einigen Schlussbemerkungen sowie einem allgemeinen Register und einem Index Locorum.

In seiner ausführlichen Einleitung (S. 1–15) führt der Autor in die rhetorisch-polemische und kompetitive Art und Weise der griechisch-römischen Medizin ein und beschreibt die Argumentationsketten seiner sozialhistorischen Studie über die kultivierte Erzählweise der durch Galen selbst durchgeführten und für die Nachwelt schriftlich fixierten medizinischen Experimente („Experimente als Schrifttum“) (S. 3). Dies tituliert Salas wiederum etwas zirkulär als Teil Galens ärztlicher Berufspraxis wie auch repräsentativ für den zeittypischen, elitären Wissenschaftsdiskurs im Alltag und Schrifttum (S. 4/9). Dabei stechen, so Salas, die relativ ausführlichen Beschreibungen in Galens anatomischen Studien über verschiedene Tiersektionen wie auch -vivisektionen mit seiner eigentümlichen Analogie zum menschlichen Organismus als relativ einzigartig in der überlieferten antiken Literatur heraus (S. 7).

Im ersten Kapitel diskutiert Salas den öffentlichen Rahmen sowie die Modalitäten der anatomischen Experimente bzw. Demonstrationen (S. 16–55). Er beschreibt zunächst die zentrale Bedeutung der Schriftstellerei in Galens ärztlicher Praxis, insbesondere die Entstehungsgeschichte und das breite, nicht nur medizinische Zielpublikum seiner „Anatomischen Studien“. Dabei diskutiert Salas auch plausible Gründe für das komplette Fehlen von Illustrationen in dem Werk (S. 25–27; technische Herstellung von Schriftrollen, rhetorischer Rahmen, zugrundeliegende öffentliche Demonstrationen der Sektionen). Wiederholt verweist er auf den deskriptiven Detailreichtum, Galens „narrativer Lupe“ (S. 29), in Bezug auf die Sektionsmethoden und auf die sezierten Organe, hauptsächlich Tierorgane (Makaken-Affen, Schweine, Ziegen, Ochsen). Schließlich diskutiert Salas noch Galens doxographische Rhetorik, d.h. seinen Status als elitärer Intellektueller anhand wiederkehrender gebildeter Verweise, Zitate von Vorgängern. Galen gelänge es mit seinem Text, die spannende Situation seiner anatomischen Live-Sektionen schriftlich zu rekreieren (S. 50–55).

Im zweiten Kapitel (S. 56–102) diskutiert Salas ausführlich den kulturellen Hintergrund und Zweck der anatomischen Untersuchungen für die antike medizinische Lehre und Praxis am Beispiel Galens. Dabei präsentiert sich Galen selbst als der überhaupt am besten ausgebildete Arzt, oftmals sehr polemisch als Besserwisser (S. 70). Mit seinen „praktischen anatomischen Sektionen“ zeige Galen seine allgegenwärtige „Kontrolle über den menschlichen Körper“ („command of the body“, S. 87). Salas’ plakativer Hinweis auf die weitgehend fehlende praktische Relevanz von Galens anatomischer Lehre für die Antike selbst sollte hier aber nicht unwidersprochen bleiben: Gefäß-, Nerven- und Muskellage waren mindestens für die sichere Durchführung des Aderlasses von Bedeutung.

Im dritten und vierten Kapitel (S. 103–168) erklärt Salas Galens teleologische Analogie-Anatomie anhand seiner makroanatomischen Studie eines toten Elefanten in Rom (AA 7,10; „wie eine Lupe“ lange vor Erfindung der Lupe) und seinen zahlreichen, durch theoretische Vorannahmen bedingten Fehlinterpretationen, wie z.B. das fehlgedeutete Vorhandensein einer Gallenblase (S. 133). Im Weiteren erklärt Salas auch die Fehldeutung eines Herzknochens beim Elefanten („Observationsversagen“) vor dem Hintergrund der zeittypischen hitzigen Diskussionen um die jeweils zentralere Bedeutung von Gehirn und Herz im menschlichen Körper.

Die folgenden Kapitel 5 bis 7 (S 169–274) bilden den zentralen Schwerpunkt von Salas‘ Studie. Er analysiert hier sehr genau den Kontext und das satirisch anmutende Narrativ von Galens Oberschenkelarterien-Experiment („Leistenarterie“; AA 7,16 sowie Art. Sang. 8). Dieser, ursprünglich von Erasistratos von Keos im 3. Jahrhundert v.Chr. beschriebene, technisch anspruchsvolle Lebendversuch (Vivisektion) mit der nur 3 Millimeter im Durchmesser großen Oberschenkelarterie (Femoralarterie) einer Ziege sollte im antiken Kontext den arteriellen Puls als vom Herz ausgehende, passive, dynamische Welle zum ausschließlichen Transport des spekulativen Stoffes „Pneuma“ erklären (Erasistratos und die Erasistrateer, d.h. die sich auf ihn berufenden Ärzte im kaiserzeitlichen Rom) bzw. die eigene, aktive Arterienfunktion beim Transport von Blut zusammen mit diesem „Pneuma“ beweisen (Galens Physiologie). Salas unternimmt einen sehr ausführlichen Rekonstruktionsversuch beider, diesem Experiment zugrundeliegenden Hypothesen (Kapitel 6,8 Galen; Kapitel 7,9 Erasistratos) und erklärt plausibel die Gründe, wie und warum Galen den Ausgang des Versuches anders als Erasistratos erklärt und „gesehen“ hat.

Im achten Kapitel (S. 265–284) arbeitet Salas schließlich die nicht nur rhetorisch-argumentativen, sondern auch biographischen Ähnlichkeiten zwischen Galen und seinem antiken anatomischen Werk und dem neuzeitlichen, revolutionären anatomischen Werk von Andreas Vesalius (De humani corporis fabrica, 1543) heraus. Die Studie endet mit einer knappen Zusammenfassung (S. 285–287), die nochmals den hochintellektuellen Diskurs im anatomischen Werk Galens betont und Vesalius als Wiedergänger Galens charakterisiert („Galen redivivus“).

Insgesamt handelt es sich um eine spannende, zuweilen fesselnde Studie, die streckenweise durch manche, langatmige Wiederholungen aber relativ anstrengend zu lesen ist. Die Bebilderung ist dabei mit allein zwei Reproduktionen (Titelblatt, Ausschnitt einer Illustration aus Vesalius‘ De Fabrica, S. 284) sehr reduktionistisch gehalten.1 Salas arbeitet sehr ausführlich den nicht-medizinischen Kontext von Galens Werk heraus. Der eigentliche medizinisch-anatomische Anteil (Sektion, Therapie) kommt insgesamt meiner Meinung nach leider ein wenig zu kurz. Salas schildert Galens anatomische Experimente, insbesondere das Femoralarterien-Experiment, wiederholt als sehr detailreich. Das mag formal zutreffen, aus heutiger Sicht bleiben im Sinne der Nachvollziehbarkeit viele schriftliche Darstellungen Galens relativ unscharf und fehlerbehaftet, wodurch sich teilweise die gescheiterten Wiederholungsversuche des Femoralarterien-Experimentes erklären lassen. Gerade bei diesem Experiment lässt Salas erstaunlicherweise die letzte Publikation zu diesem Thema mit ihrem wichtigen Hinweis auf Erfahrungen aus der modernen Gefäßchirurgie völlig unerwähnt.2

Der Kontext, der letztlich zum Studium und Verstehen der anatomischen Schriften Galens notwendig ist (rhetorischer Hintergrund, Werbeschrift, Nachweis Professionalität, „Anekdoten“), wird durch Salas aktualisiert, sehr gut rekonstruiert und somit dem modernen Leser wieder besser ermöglicht. Vielleicht wäre ein kurzer Vergleich mit heutiger Wissenschaftsrhetorik sinnvoll gewesen. Für heutige Mediziner reicht sicherlich der Hinweis auf Galens Leistungen aus heutiger, aktualisierter Sicht mit der Warnung vor dem unvorbereiteten Studium seiner Originalschriften. Anatomen und Medizinhistorikern ist insbesondere das Schlusskapitel mit all seinen interessanten Thesen zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Kleinere Inkonsistenzen bestehen weiterhin im Fehlen bestimmter Angaben zu verwendeten Texteditionen (Platon, Aristoteles, Polybios, Plutarch, Dio Chrysostomos) und dem Fehlen von zitierten Quellen in der Bibliographie (z.B. S. 248f., Anm. 80, zur Schrift „De Spiritu“) bei insgesamt sehr wenigen Fehlern im Quellenverzeichnis.
2 Ronald V. Christie, Galen on Erasistratus. Perspect Biol Med. 30 (1987), 440–449. Auch erörtert Salas gar nicht die etwas problematische, nicht nur terminologische Frage, welchen Teil der Femoralarterie Galen wohl wirklich freigelegt hat: siehe z.B. Brion Benninger, Novel Femoral Artery Terminology: Integrating Anatomy and Clinical Procedures Leading to Standardized Intuitive Nomenclature. Clinical Anatomy 27 (2014), 1085–1088.

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