Die Studie von Jörg Hackmann zur Vereinskultur in Nordosteuropa untersucht das Phänomen der Vereine aus sozial- und strukturgeschichtlicher Perspektive. Die ausführlichen topographischen und statistischen Angaben sowie rechtlichen und formalen Rahmenbedingungen umfassen die Zeit von der Gründung der ersten freiwilligen Assoziationen im 18. Jahrhundert bis zu ihrer Auflösung nach der sowjetischen Okkupation. Die aus den Recherchen gewonnenen Erkenntnisse werden in einen größeren Kontext eingebettet und dienen zur Beantwortung der Forschungsfrage, ob sich eine „Langzeitwirkung“ (S. 12) des baltischen Vereinswesens bis ins 21. Jahrhundert nachzeichnen lässt. Aus diesem Grund kommt der Verfasser auch immer wieder auf die Zeit um 1990 zu sprechen, und geht damit über den im Titel angekündigten Zeitraum hinaus.
Als Rezensentin der Studie von Hackmann gehe ich von meinem persönlichen Hintergrund als Literaturwissenschaftlerin aus. In der Periode, mit der sich die Studie beschäftigt, gibt es in Estland wohl keine Schriftsteller- oder Übersetzerbiographie, die nicht von der Mitgliedschaft in einem der Vereine oder zumindest von den von Vereinen angeführten Diskussionen beeinflusst worden wäre. Die Erwähnung der Mitgliedschaft in Vereinen ist als Bestandteil biographischer Übersichten ein dermaßen verbreitetes Phänomen, dass sie sich auch in die gegenwärtigen biographischen Angaben zu heutigen Schriftstellerpersönlichkeiten übertragen hat, obwohl sich die gesellschaftliche diskursive Macht der Vereine von heute nicht mit den Vereinen im 19. Jahrhundert messen lässt.
Die vom Verfasser dargebotene vergleichende Übersicht der Vereine im Baltikum wird mit Hilfe von zahlreichen Tabellen und Grafiken belegt. Bei den vielen statistischen Angaben wäre es leserfreundlicher gewesen, zumindest die Angaben, für die ähnliche Daten aus unterschiedlichen Vereinen vorhanden sind, vergleichend nebeneinander zu stellen oder zumindest ähnliche Präsentationsformen für die Daten zu wählen. So werden etwa die Mitglieder der Kurländischen Gesellschaft für Literatur und Kunst (S. 122) über einen Zeitraum von 1815 bis 1914 in einer Tabelle (11) aufgeführt, unterteilt in korrespondierende Mitglieder, auswärtige Mitglieder, lokale Mitglieder und Ehrenmitglieder. Die gleichen Informationen für die Estländische Literärische Gesellschaft (S. 127) werden aber als Grafik präsentiert. Bei einer vergleichenden Studie hätte es sich gelohnt, mehr in die vergleichende Darstellung der Daten zu investieren, damit die in der Studie erarbeiteten Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch grafisch beziehungsweise tabellarisch plastischer und verallgemeinernder sichtbar werden.
Doch es lohnt sich, die vielen detaillierten Daten genauer anzuschauen, denn, wie der Verfasser verspricht, ermöglichen sie faszinierende Einsichten in die Funktionsweisen der Vereine und ihre gesellschaftliche Breitenwirkung. Wenn man bedenkt, dass das Baltikum auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch eine Ständegesellschaft war, überrascht es doch, dass sich etwa gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Dorpat (heute Tartu) Adlige, Kaufleute, Professoren und Künstler in einem Radfahrer-Verein engagierten (Tabelle 19, S. 173). Die Darstellung der Reichweite der Vereinstätigkeiten unterstreicht ihre gesellschaftliche Bedeutung und Mission. Einem Radfahrer-Verein etwa, der eine Bibliothek unterhält (S. 173), sind neben Sport wohl auch andere Themen wichtig, wie der Verfasser dann auch später ausführt (S. 309). Während man zumindest in der Literaturgeschichte gewöhnlich nur die zentralen Gelehrtenvereine behandelt, zeigt Hackmann, dass viele andere Vereine bezüglich ihrer integrativen kulturellen Breitenwirkung sogar erfolgreicher gewesen sein mögen als die elitären Gelehrtenvereine. Daher helfen die zusammengeführten Daten zu kleineren Vereinen, ihren Gründern, Mitgliederprofilen und Tätigkeitsbereichen auch zum Beispiel bei der Rekonstruktion der Theatergeschichte oder der Geschichte des Lesens in der Region weiter.
Den statistischen Angaben zu Mitgliedern, Gründungsjahren und Beschäftigungsfeldern wird in der Monographie auch eine räumliche Dimension verliehen, indem die Vereine in der Stadtlandschaft verortet werden. Diese unter „Vereinstopographien“ zusammengefassten Informationen werden auch durch Bildmaterial unterstützt: Man sieht, wie der Raum, welchen die Vereinshäuser in der Stadt einnahmen, mit ihrer Geschichte und mit der gesellschaftlichen Wirkungskraft ihrer Mitglieder korrelierte. Die gesellschaftliche Stellung der Vereine, ob im Zentrum oder in der Peripherie, spiegelt sich auch in den geographischen Dimensionen wieder. Hier wäre es interessant, diese Geschichte nun bis ins Jahr 2024 weiterzuerzählen und nachzuschauen, ob und in welchen Formen die Vereinskultur von früher auch heute als Teil der räumlich erfahrbaren Erinnerungsorte präsent ist. Wie bei den statistischen Angaben muss leider auch bei den Plänen zur Vereinstopographie bemängelt werden, dass sie nicht immer leserfreundlich sind. Insbesondere der Plan 1 zu Reval (heute Tallinn, S. 484–485) ist leider in der gedruckten Form fast unleserlich.
Der Fokus der Monographie liegt auf den Vereinen, die im Staatsgebiet der heutigen Länder Estland und Lettland angesiedelt waren, will jedoch den Blick weiten und auch „transregionale Interferenzen“ (S. 38) einbeziehen. Dafür werden die in der Studie gewonnenen Erkenntnisse zur Vereinskultur mit entsprechenden Entwicklungen in den benachbarten Ländern verglichen, insbesondere im Kapitel V. Baltische Vereinskultur im regionalen Kontext, aber auch in der gesamten Arbeit. Dies geschieht jedoch etwas unsystematisch, es ist nicht leicht nachzuvollziehen, wann welche Parallelen gezogen werden. Die bisherige Praxis der nationalgeschichtlichen Forschungen zur Vereinskultur lässt sich wohl nicht so einfach in eine andere Richtung lenken, da die vorhandenen regionalen Forschungsergebnisse von jeweils unterschiedlichen Perspektiven und Forschungsinteressen ausgehen und Vergleiche daher nicht immer möglich sind. Der Verfasser muss daher konstatieren, dass „eine umfassende Betrachtung interkultureller Zusammenhänge von Vereinskultur in einem ostseeregionalen Rahmen“ im Moment noch „nicht möglich“ ist. (S. 362) Im Kapitel IV. Zivilgesellschaft setzt sich Hackmann dann doch auch mit Themen der Exklusion, Nationalität und Emanzipation auseinander, die aus der Sicht der nationalen Geschichtsschreibung Estlands und Lettlands von Belang sind. Sicherlich ist die Studie aber ein wichtiger Versuch einer dynamischen und mehrperspektivischen Betrachtung gesellschaftlicher Phänomene im baltischen Raum, was auch bereits im Jahr ihres Erscheinens würdigend hervorgehoben wurde.1
Der anfangs zitierten Frage nach der „Langzeitwirkung“ der Vereinskultur in Estland und Lettland und ihrer Rolle im Prozess der Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit und danach wird eher essayistisch nachgegangen, da das quantitativ und qualitativ ausgewertete Material mit dem Jahre 1950 endet. Wie der Leserschaft im Vorwort mitgeteilt wird, ist die Studie eine überarbeitete Version der Habilitationsschrift des Autors aus dem Jahre 2007. Dem Leser weht daher aus dem Buch eine etwas optimistischere Sicht auf die Gegenwart der Region entgegen, als sie heute berechtigt zu sein scheint. Leider kann heute nicht mehr von einer „friedlichen Entwicklung“ und einer „weitgehenden Absenz von nationalistischen Spannungen“ (S. 23) im europäischen Nordosten die Rede sein. Das Fundament der Arbeit wurde eben vor 17 Jahren gebaut, in einer Zeit, die aus heutiger Sicht besser war als die gegenwärtige. Hier im Baltikum wünscht man sich nichts sehnlicher, als in diese Zeit zurückzukehren.
Anmerkung:
1 Karsten Brüggemann / Bradley D. Woodworth, Estonian Modern History in the Twenty-First Century, in: Acta Historica Tallinnensia (26) 2020, S. 79–102, https://doi.org/10.3176/hist.2020.1.04 (15.06.2024).