J. Frölich u.a. (Hrsg.): Fortschritt durch sozialen Liberalismus

Cover
Titel
Fortschritt durch sozialen Liberalismus. Politik und Gesellschaft bei Friedrich Naumann


Herausgeber
Frölich, Jürgen; Grothe, Ewald; Kieseritzky, Wolther von
Reihe
Staatsverständnisse (151)
Erschienen
Baden-Baden 2021: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
303 S.
Preis
€ 64,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frederick Bacher, Landesarchiv Baden-Württemberg

Friedrich Naumann (1860–1919) zählte wohl zu den außergewöhnlichsten Politikern des deutschen Kaiserreichs. Schließlich war der ausgebildete protestantische Geistliche nicht nur ein glänzender Redner, der seine Zuhörerinnen und Zuhörer mit einer affektgeladenen Sprache in den Bann zog, sondern auch ein ebenso guter Sachbuchautor, der seinen Leserinnen und Lesern politische, theologische und kulturelle Inhalte auf besondere Art und Weise verständlich nahebrachte.1 Naumann, so formulierte einst der spätere Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss in einem pathetisch aufgeladenen Ton, „gehörte zu den Menschen, deren Charisma Menschen band“.2

Auf der anderen Seite konnte Friedrich Naumann mit seinem 1896 gegründeten Nationalsozialen Verein (NSV) keine politischen Erfolge erzielen. Zwar hatte der Reichstagsabgeordnete der Freisinnigen Vereinigung (FVg) bzw. Fortschrittlichen Volkspartei (FVP) die Probleme des Liberalismus früh erkannt, doch wusste er auch als Vorsitzender der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) den Siegeszug der massentauglichen „demokratischen Integrationsparteien“3 nicht mehr aufzuhalten. Ein Staatsamt bekleidete er nie. Seine Vision von einem Brückenschlag zwischen Arbeiterbewegung und Bürgertum in einer parlamentarischen Monarchie ist heute nur noch wenigen Historikerinnen und Historikern bekannt.

Trotzdem war es Friedrich Naumann, und nicht etwa Reichskanzler Gustav Stresemann, Außenminister Walther Rathenau oder Innenminister Hugo Preuß, der 1958 unter Mithilfe von Theodor Heuss zum Namenspatron einer liberalen Parteistiftung auserkoren wurde. Denn Heuss und andere Naumannianer hatten bereits unmittelbar nach Naumanns Tod im Jahr 1919 mit der Gedächtnispflege an Friedrich Naumann begonnen. 1937 verfasste Heuss schließlich eine dicke, aber immer noch gut lesbare Naumann-Biografie. Mit diesem Opus magnum wurde Heuss „zum Mittelpunkt und Erbwalter im Geisterreich der Naumann-Gemeinde“.4

Die Herausgeber Jürgen Frölich, Ewald Grothe und Wolther von Kieseritzky, allesamt für die „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ tätig, möchten nun mit dem Sammelband „zur neuerlichen Beschäftigung mit der Ideenwelt und dem politischen Wirken dieses […] ungewöhnlichen Liberalen anregen und zum Verständnis seines schon ein Jahrhundert andauernden ‚Nachlebens‘ beitragen“ (S. 11f.). Das Buch „Fortschritt durch Liberalismus. Politik und Gesellschaft bei Friedrich Naumann“ knüpft damit an eine vor ca. 20 Jahren von Rüdiger vom Bruch geleitete Tagung über Friedrich Naumann an (vgl. S. 10f.).5

Der Band vereint unter drei Rubriken (I. Soziale Frage und kulturelle Themen bei Friedrich Naumann, II. Politik und Staat bei Friedrich Naumann, III. Die Nachwirkung von Friedrich Naumann) insgesamt 14 Beiträge auf 303 Seiten. Die allermeisten Beiträgerinnen und Beiträger sind bereits durch Forschungen zu Naumann ausgewiesen.

Der Historiker Frank-Michael Kuhlemann zollt dem Gefühlsmenschen Friedrich Naumann hohe Aufmerksamkeit. Darüber hinaus stellt er die Frage, „ob und inwieweit sich in der Kategorie des Kulturellen möglicherweise ein angemessener Schlüssel für die Interpretation von Naumanns Denken und Handeln insgesamt finden lässt“ (S. 15). Ursula Krey, die bereits mehrere Aufsätze zum Naumann-Kreis vorgelegt hat, geht in ihrer Darstellung vor allem auf Naumanns „Beitrag zur Verhältnisbestimmung von Staat und Kirche in der Weimarer Verfassung“ ein, den sie als dessen „langlebigstes politisches Vermächtnis“ wertet (S. 56). Peter Theiner, der Verfasser einer politischen Naumann-Biografie6, legt dar, wie Naumann auf „die Herausforderungen der industriellen Moderne“ (S. 72) reagierte. Zudem zeigt Theiner, dass für Naumann ein Liberalismus ohne soziale und machtpolitische Handschrift nicht haltbar war (vgl. S. 68f.). Birgit Bublies-Godau interessiert sich für Naumanns „ambivalentes Verhältnis zur Frauenemanzipation“ (S. 79). Sie schildert anhand konkreter Beispiele, wie der Politiker zur „vollständigen staatsbürgerlichen Gleichberechtigung“ und zur „ökomischen Gleichstellung“ (S. 100) der Frau stand. Ulrich Sieg beleuchtet in seinem Beitrag nicht nur „Naumanns Einstellung zum Imperialismus“, sondern fragt auch nach Naumanns Haltung zum Judentum und zur „armenischen Frage“ (vgl. S. 106). Dabei setzt sich der Artikel auch mit Götz Alys Thesen zu Naumann auseinander, die 2011 in einer deutschen Tageszeitung formuliert wurden.7

Anne C. Nagel untersucht, „wie sich Naumann zur aufkommenden Moderne und dem damit verbundenen Wandel der Lebensverhältnisse stellte“ (S. 125). Sie kommt dabei explizit auf „Naumanns allgemeine ästhetische Vorstellungen“ zu sprechen (S. 124), die in seinen Texten über das Wohnungs- und Verkehrswesen deutlich zum Vorschein kommen. Christoph Jahr beleuchtet zum einen die „Bedeutung der Presse für Naumanns Wirksamkeit“ (S. 153). Zum anderen liefert er einen konzisen Überblick über die Geschichte der beiden Zeitungen des Naumann-Kreises „Die Hilfe“ und „Die Zeit“ (vgl. S. 143–151). Herausgeber Jürgen Frölich fragt in seinem ersten Beitrag, ob Naumann ein außenpolitisches Konzept verfolgte (vgl. S. 159). In seinem zweiten Beitrag steht Naumanns Verbindung „zu den liberalen Parteien seiner Zeit“ (S. 201) auf dem Programm. In beiden Aufsätzen nimmt Naumanns Kampf gegen den Versailler Vertrag viel Platz ein (vgl. S. 172f., 217). Der Germanist Philippe Alexandre, emeritierter Professor an der Université de Lorraine, beschäftigt sich einmal mehr mit Naumanns Verhältnis zu Frankreich, vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. S. 177–200). Herausgeber Ewald Grothe analysiert Friedrich Naumanns Arbeit an den Grundrechten in der Weimarer Reichsverfassung, also Naumanns Versuch, volksverständliche Grundrechte zu etablieren. Diese haben sich „nicht nur vom Umfang, sondern auch in Inhalt und Stil“ vom letztendlich beschlossenen Teil in der Weimarer Verfassung unterschieden (S. 229). Zudem kommt Grothe auf Naumanns Rolle in den Debatten über die berufsständische Vertretung und im Bereich der kirchenrechtlichen Artikel zu sprechen (vgl. S. 232f.).

Norbert Friedrich rekonstruiert Friedrich Naumanns Wirken als politischer Erzieher (vgl. S. 244). Er legt dabei den Schwerpunkt auf Naumanns Aufsätze und auf Naumanns „Mitarbeit an der Initiierung und dem Ausbau der Staatsbürgerschule als einer liberalen Einrichtung für die Erziehung zur Demokratie“ (vgl. S. 244) in den Jahren 1918/19. Ines Soldwisch zeigt, wie sich Theodor Heuss und Naumann „in ihrer staatspolitischen Auffassung trafen bzw. unterschieden“ (S. 265). Dabei wird erneut deutlich, wie stark Heuss von Naumann im politischen Denken beeinflusst wurde (vgl. S. 276–278). Im letzten Beitrag steht die Rezeption Naumanns in den 1950er- bis 1970er-Jahren im Fokus. Herausgeber Wolther von Kieseritzky fragt „nach den Bezugspunkten für einen sozialliberal verstandenen Naumann in der zweiten deutschen Demokratie“ (S. 283). Er demonstriert, dass sich Naumanns innenpolitische Ideen vor allem im Grundsatzprogramm der Freien Demokratischen Partei (FDP) – den sogenannten Freiburger Thesen – von 1971 widerspiegelten.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es den Autorinnen und Autoren gelungen ist, einige wichtige Facetten des vielseitigen Politikers auszuleuchten. Leider haben die Beiträgerinnen und Beiträger dabei wegen der Corona-Krise auf archivische Quellen weitgehend verzichtet. Doch die Herausgeber wollten auch kein neues oder „endgültiges Naumann-Bild“ zeichnen (vgl. S. 11). Ihnen ging es vielmehr darum, mit dem Buch einen zuverlässigen und „einfachen Zugang“ zu Friedrich Naumann zu eröffnen (vgl. S. 11). Dieses Ziel darf als geglückt bezeichnet werden.

Anmerkungen:
1 Vgl. Frederick Bacher, Friedrich Naumann und sein Kreis, Stuttgart 2017.
2 Theodor Heuss, Führer aus Deutscher Not. Fünf politische Porträts, Berlin 1927, S. 8.
3 Neumann nennt die SPD, aber auch das Zentrum als Beispiele „demokratischer Integrationsparteien“. Vgl. Sigmund Neumann, Die Parteien der Weimarer Republik, Stuttgart 1965, S. 105f.
4 Joachim Radkau, Theodor Heuss, München 2013, S. 215.
5 Rüdiger vom Bruch (Hrsg.), Friedrich Naumann in seiner Zeit, Berlin 2000.
6 Peter Theiner, Sozialer Liberalismus und deutsche Weltpolitik. Friedrich Naumann im Wilhelminischen Deutschland (1860–1919), Baden-Baden 1983.
7 Götz Aly, Die Leiche im Keller der FDP, in: Frankfurter Rundschau, 24.1.2011.

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