Astrid Lindgrens (1907–2002) Bücher haben durch ihren jahrzehntelangen Erfolg nicht nur den Blick auf Kindheit und Erziehung stark geprägt, sondern auch die deutsche Vorstellung von Schweden maßgeblich mitgeformt. Umso interessanter war es, als 2015 ihre zwischen 1939 und 1945 geschriebenen „Kriegstagebücher“ auf Schwedisch und fast zeitgleich auf Deutsch publiziert wurden.1 Diese Tagebücher geben gleichermaßen einen Einblick in die Anfänge ihres schriftstellerischen Arbeitens als auch in ihre frühe Politisierung. Darüber hinaus sind die Kriegstagebücher als Zeitdokument und aus materieller Perspektive interessant, denn Lindgren ließ nicht nur ihre persönlichen Eindrücke in den Text einfließen, sondern sie ergänzte ihre eigenen Beobachtungen durch fremde Perspektiven, sei es in Form von journalistischen Publikationen oder von Briefen.
Der von Anja Ballis und Marlene Zöhrer herausgegebene Sammelband „Astrid Lindgren und der Zweite Weltkrieg. Interdisziplinäre Annäherungen an Leben und Schreiben in Zeiten des Krieges“ nähert sich ausgehend von den Tagebüchern der Autorin und ihrem Alltag an: „Das Tagebuch dient als Ausgangs- und Kristallisationspunkt, um der Autorin in ihrem Alltag und bei der Arbeit zu begegnen.“ (S. 10) Der Band folgt dabei einem interdisziplinären Ansatz: Die Beiträge – mehrheitlich basierend auf Vorträgen, die auf einer Münchner Konferenz gehalten wurden – stammen aus der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaft, der (skandinavistischen) Literaturwissenschaft und -didaktik, der Buchwissenschaft sowie der Zeit- und Sozialgeschichte. Lindgrens Tagebücher sollen einen „Resonanzraum der Ausführungen bilden und eine Vielstimmigkeit der Zugangs- und Betrachtungsweisen des Lindgrenschen Werks erzeugen“ (S. 11). Darüber hinaus werden in der Einleitung kaum methodologische Ansätze ausgeführt. So wäre beispielsweise eine Reflexion über die Gattung des Tagebuchs wünschenswert gewesen oder eine Einordnung, wie mit Lindgrens Tagebüchern konkret als Quelle umgegangen wird. Diese werden in einigen Beiträgen als historische und objektive Quelle zu Lindgrens Leben, in anderen als literarisch ausgeschmückte und damit stark subjektive Lebenserzählung behandelt. Vorwiegend letztere erhellen auf besonders ergiebige Art und Weise Lindgrens frühes Werk und ihr Werden als Autorin.
Der Band ist in fünf Hauptkapitel gegliedert, die sich jeweils unterschiedlicher Thematiken aus den Tagebüchern oder ihres historischen Kontextes annehmen. Im ersten Kapitel findet sich neben der Einleitung ein wertvoller kursorischer Überblick der germanistischen Literaturwissenschaftlerin Bettina Kümmerling-Meibauer über die skandinavische, deutschsprachige, englische und italienische Lindgren-Forschung. Obwohl sie nur Monographien und Sammelbände beachtet und dadurch einige wichtige Forschungsbeiträge vernachlässigt, kann sie dennoch verdeutlichen, dass die Lindgren-Forschung primär in Schweden beheimatet ist. Sie plädiert daher für eine Intensivierung der deutschsprachigen Lindgren-Forschung, in den allfälligen Sprachbarrieren macht sie allerdings ein Hindernis aus. Dies ist tatsächlich ein Mangel, der sich in mehreren der folgenden Beiträge zeigt, die keinerlei schwedische Forschung berücksichtigen.
Das zweite Kapitel beleuchtet „Astrid Lindgren und die politische Situation in Schweden“. Neben einem historischen Abriss über die schwedische Rolle im Zweiten Weltkrieg hinterfragt der Historiker Niels Weise in seinem Beitrag die häufig konstatierte Neutralität Schwedens. Orna Keren-Carmel wiederum liefert in dem folgenden Beitrag einen informativen Überblick über die Verfolgung von Menschen jüdischen Glaubens in Skandinavien. Wie in Sammelbänden nicht unüblich, widerspricht sie dem vorherigen Beitrag, wenn sie meint, dass Schweden das einzige Land im Norden gewesen sei, „that succeeded in keeping its neutrality throughout the war“ (S. 56). Der Fokus des Bandes auf die Kriegstagebücher wirkt in diesen beiden Beiträgen etwas erzwungen. In Weises Beitrag tönen die Tagebücher zwar immer wieder an, sie werden aber kaum in die Analysen integriert. Keren-Carmel wiederum erwähnt die Kriegstagebücher gar nicht. Cornelia Rémis Aufsatz „Astrid Lindgrens politische Positionsbestimmungen vor dem Schritt in die Öffentlichkeit“ ist folglich der erste Beitrag des Kapitels, der sich dezidiert mit Lindgrens Tagebüchern auseinandersetzt. Rémi kann aufzeigen, wie Lindgren sich bereits während des Zweiten Weltkrieges politisch positionierte, auch wenn sie erst ab den 1970er-Jahren als politische Autorin wahrgenommen wurde.
Im folgenden Teil „(Tagebuch-)Schreiben während des Zweiten Weltkrieges“ zeigt die Holocaustforscherin Anja Ballis, dass Lindgren durch Zeitungslektüre und ihre Tätigkeit in der Abteilung für Briefzensur des schwedischen Nachrichtendienstes Wissen über die Verbrechen der Nationalsozialisten erlangte. Besonders überzeugend ist Ballis‘ Beitrag, wenn sie die außergewöhnliche Materialität von Lindgrens Tagebuch betrachtet und dies als eine „spezifische Form der Zeugenschaft“ (S. 100) liest. Sven Hanuschek widmet sich anschließend in erster Linie den Informationsweisen und dem Schaffen von Erich Kästner (1899–1974). Er zeigt auf, wie der Autor trotz Zensur in Berlin seinen Lebensunterhalt mit Schreiben bestreiten konnte. Zusätzlich hinterfragt Hanuschek die Auffassung Kästners als „innerer Emigrant“ (S. 110). Lindgrens Werk rückt im folgenden Beitrag der Kinder- und Jugendliteraturwissenschaftlerin Jana Mikota wieder in den Mittelpunkt. Sie veranschaulicht anhand verschiedener Verbindungen – wie beispielsweise der zwischen der deutsch-schweizerischen Kinderbuchautorin Lisa Tetzner (1894–1963) und Astrid Lindgren – in Ansätzen ein literarisches Netzwerk zwischen (Exil-)Deutschland und Schweden.
Im vierten Kapitel betrachten die Beitragenden „Astrid Lindgren als Kinderbuchautorin“. Die Buchwissenschaftlerin Anke Vogel zeichnet Lindgrens Publikationsbedingungen im Deutschland der Nachkriegszeit nach. Sie kann dabei zeigen, dass trotz der vermeintlich schlechten Ausgangslage im zerstörten und besetzten (West-)Deutschland eine Mischung aus allgemeinem „Bücherhunger“, einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber nicht-deutscher Kinderliteratur und einem spezifischen Wunsch nach einem neuen Erziehungsstil den großen Erfolg von „Pippi Langstrumpf“ enorm begünstigte. In einem zweiten Beitrag fragt Bettina Kümmerling-Meibauer nach den Verbindungen zwischen Lindgrens kinderliterarischem Werk und ihren Kriegstagebüchern. Sie unterscheidet sinnvollerweise zwischen autobiographischen Texten sowie versteckten wie auch fiktionalen Autobiographien. Dabei kann sie nachweisen, dass in allen Textformen Äußerungen „gegen Gewalt, für Frieden, Toleranz und Solidarität“ (S. 173) zu finden sind. Mirjam Burkard und Marlene Zöhrer knüpfen an diese Untersuchung an, indem sie spezifisch die Darstellung von „Schule und Erziehungsideal in Astrid Lindgrens frühen kinderliterarischen Texten“ analysieren. Wenig überraschend stellen sie fest, dass in diesen Werken ein von reformpädagogischen Ideen geprägtes Bild von Schule und Erziehung zu finden ist. Gewinnbringend sind vor allem die diachronen Änderungen, die Burkard und Zöhrer nachzeichnen, beispielsweise von der Ur-Pippi zur gedruckten Fassung.
Der abschließende fünfte Teil fokussiert schließlich das Jahr „1945 als Zeitenwende in der schwedischen Kinderliteratur“. Literatur- und Medienwissenschaftlerin Helene Ehriander untersucht die Bedeutung zweier früher Texte von Lindgren – „Britt-Mari lättar sitt hjärta“ [Britt-Mari erleichtert ihr Herz] und „Kerstin och jag“ [Kerstin und ich] – in Hinblick auf die Erneuerung der Kinderliteratur nach 1945. Dabei konzentriert sie sich insbesondere auf die Darstellung des ländlichen Smålands und auf die Verwendung nostalgischer Elemente in den Erzählungen. Die Skandinavistin Svenja Blume fragt abschließend nach einer Begründung des „Mythos Lindgren“. Diese findet sie weniger in bereits etablierten Erzählmustern der Kinderliteratur, wie besonders selbstständigen und allein agierenden Figuren. Neu bei Lindgren sei stattdessen die besondere psychologische und symbolische Ausgestaltung dieser Erzählweise.
Der Sammelband „Astrid Lindgren und der Zweite Weltkrieg“ präsentiert einen vielschichtigen, interdisziplinären Ansatz, um das Leben und Werk Astrid Lindgrens während des Zweiten Weltkrieges zu erkunden. Die Tagebücher von Lindgren fungieren als wertvolle Quelle, die insbesondere Einblicke in das Alltagsleben während dieser Zeit bietet. Sie zeigen ein Leben auf, das zwar nicht direkt vom Krieg berührt wird, aber dennoch unter seinem Einfluss steht. Die Beiträge im Band konzentrieren sich hauptsächlich auf die internationale Perspektive der Tagebücher und schaffen so Verbindungen zwischen schwedischen sowie deutschsprachigen Kontexten. Dadurch decken sie ein breites Spektrum an Themen ab: von der politischen Situation Schwedens bis hin zur literarischen Bedeutung ihrer Aufzeichnungen sowie ihrer Rolle als Kinderbuchautorin. Besonders hervorzuheben sind jene Beiträge, welche sich mit der Materialität und literarischen Gestaltung der Tagebücher befassen; sie liefern neue Erkenntnisse über Lindgrens frühe Werke und ihre poetologischen Ideen. Ein Kritikpunkt ist jedoch die unzureichende Berücksichtigung schwedischer Forschung in vielen Beiträgen. Die Sprachbarriere stellt auch hier offensichtlich eine Herausforderung dar und erschwert eine umfassendere Analyse dieses Themas sowie eine engere Verknüpfung der deutschsprachigen mit der schwedischen Lindgren-Forschung. Dennoch bietet der Band wertvolle Perspektiven und trägt zu einem vertieften Verständnis von Astrid Lindgren sowie ihrem Werk bei.
Anmerkung:
1 Astrid Lindgren, Die Menschheit hat den Verstand verloren. Tagebücher 1939–1945, Berlin 2015.