Lea Pfäffli legt in ihrem Buch Arktisches Wissen das Hauptaugenmerk auf die Zusammenarbeit zwischen dem dänischen Kolonialhandel und den beiden Grönlandexpeditionen des Schweizer Meteorologen Alfred de Quervain in den Jahren 1908 bis 1913 und fokussiert dabei auch auf die Praktiken einer Wissensgeschichte der Arktis. Sie setzt damit einen weiteren Akzent in die Forschungslandschaft, in der beispielsweise die frühe deutsche Gletscherforschung in Grönland oder europäische Antarktisexpeditionen um 1900 und deren Expeditionsnetzwerke behandelt werden.1 Zu Zeiten des Imperialismus stritten die beiden Amerikaner Frederick Cook und Robert Peary darum, wer als erster am Nordpol war, während am Südpol der Norweger Roald Amundsen das Wettrennen mit dem Briten Robert Falcon Scott für sich entscheiden konnte. Der Erste zu sein versprach Ruhm und Ehre, von dem erhofften Karriereschub ganz zu schweigen. Aus europäischer Sicht bot sich Spitzbergen als nahgelegenes Forschungsziel an, wurde aber häufig auch zum Test- und Trainingsgebiet für weitere Polarexpeditionen. Größere Forschungsfragen sollten jedoch in Grönland gelöst werden, dessen Landesinnere noch weitgehend unerforscht war. So wurde Grönland durch die dänischen Restriktionen zur Forschungsinsel stilisiert, zu der nur diejenigen eine Einreiseerlaubnis erhielten, deren Forschungsergebnisse für Dänemark relevant bzw. deren Motive opportun waren. Pfäfflis Buch spielt in dieser Zeit zunehmender imperialer Spannungen in den Polargebieten und verortet die Schweizer Expeditionen und ihre Akteure darin.
Anhand von schweizerischem, dänischem und auch grönländischem Archivmaterial sowie von naturwissenschaftlichen Publikationen untersucht Pfäffli, wie das Zusammenspiel zwischen de Quervain und der dänischen Verwaltung ablief und analysiert es in Verbindung mit entsprechenden Wissenschaftstheorien. Wie wurde finanziert und bezahlt bzw. wie wurde der Zugang nach Grönland von dänischer Seite verwaltet und reguliert? Wie wurden die Ausländer von der Königlichen Handelsgesellschaft kontrolliert und wie waren die Kontakte zu den Inuit? Die damit verbundene Ausbildung des Expeditionswesens als neuer Erwerbszweig der grönländischen Bevölkerung, der die Robbenjagd ergänzte, wird ebenfalls thematisiert.
Damals war der von Dänemark verwaltete Teil Grönlands im Allgemeinen für ausländische Expeditionen gesperrt. Pfäffli legt dar, dass die Einreiseerlaubnis für de Quervain eine Auszeichnung war, um mit seiner privat finanzierten Expeditionen 1909 ins Landesinnere vorzudringen und 1912 die grönländische Eiskappe von West nach Ost zu durchqueren. Zudem durfte er vor Ort Unterstützung in Anspruch nehmen, Ausrüstung kaufen und Inuit anstellen. Pfäffli erläutert, wie die Abhängigkeit zwischen dem dänischen Grönlandhandel und den Schweizer Forschungsexpeditionen gelagert war und wie jede Gruppe voneinander profitierte. In diesem Fall war es die Möglichkeit, vielleicht künftig eine Transportverbindung zwischen West- und Ostküste über das Inlandeis zu eröffnen. Im Gegenzug erhielten die Schweizer Hinweise auf Heilpflanzen oder geologische Lagerstätten.
Interessanterweise waren innerhalb von sechs Jahren vier Schweizer Expeditionen in Grönland. Martin Rikli und Hans Bachmann legten 1908 mit Unterstützung der Dänisch-Arktischen Station in Godhavn biologische Sammlungen an und der Geologe Arnold Heim suchte 1909 im dänischen Auftrag nach Kohle und anderen Rohstoffen. Alfred de Quervain wollte 1909 mit zwei Begleitern an der grönländischen Westküste Erich von Drygalskis Untersuchungen am großen Karajakgletscher (1892/93) mit moderner Photogrammetrie wiederholen, um Veränderungen der Gletscherzunge festzustellen und außerdem mit Pilot- und Fesselballonaufstiegen die höheren Luftschichten untersuchen.2 Die geplante Durchquerung Grönlands von West nach Ost musste jedoch bereits nach rund 100 km abgebrochen werden. Ohne finanzielle Unterstützung des Schweizer Bundesrats, bei dem die Expeditionen auf wenig Echo stiessen, dauerte es bis 1912, private Gelder für eine zweite Expedition mit sechs Männern zu bekommen. Auch die Neue Züricher Zeitung gab Geld und bekam dafür das Recht, die ersten Berichte zu publizieren – um nur einen der von Pfäffli thematisierten Akteure zu nennen, die der Vermarktungslogik der großen Expeditionen zum Nordpol folgten.
Leider erfährt man nichts über den Verlauf der beiden Expeditionen de Quervains, so dass ich mir Informationen darüber anderweitig besorgen musste.3 Erst dadurch offenbarte sich, dass de Quervain und seine Begleiter nach der Durchquerung bereits im selben Jahr wieder in die Schweiz zurückkehrten, während drei weitere Männer an der Westküste noch bis 1913 eine Wetterstation unterhielten, die parallel zu Alfred Wegeners Überwinterungsstation an der Nordostküste während der dänischen Expedition unter Johann Peter Koch in Betrieb war, die das Inlandeis erst 1913 nach Westen durchqueren wollte. Auch dieser Umstand wird nicht erwähnt.
In den folgenden Kapiteln geht es um „Elemente des Weltwissens“, „Königlicher Fernhandel“, „Indigenes Wissen“, „Arktische Aneignungen“ und „Populäre Eiswelten“. Pfäfflis Analysen sind sehr interessant, denn sie zeigen erstmals detailliert auf, wie für Ausländer der wissenschaftliche Zugang in Grönland geregelt wurde, über den man in den publizierten Expeditionsberichten nichts erfährt. Sie thematisiert im Weiteren den Wissensaustausch zwischen der Schweiz und Grönland, wobei sie einen breiten Begriff von „Praktiken der naturwissenschaftlichen Wissenskultur“ (S. 17) anlegt und insbesondere auch die grönländische Bevölkerung als Akteure miteinbezieht. Schwarzweißabbildungen und handkolorierte Fotos ergänzen die Darstellung.4
Auf S. 38 hebt Pfäffli hervor, dass de Quervain „die Relevanz heroischer Erstbegehungen“ betonte, die er auch für seine Grönlanddurchquerung in Anspruch nahm, ohne dabei Nansens Pioniertat zu erwähnen. Die Benennung des von der Forschergruppe kartografierten „Schweizerlandes“ an der Ostküste ist im Zusammenhang mit der eigenen Inszenierung als nationaler Polarheld ebenfalls bemerkenswert. In Grönland sollten damals wichtige Fragen zur Baumgrenze und der allgemeinen Zirkulation der Atmosphäre geklärt werden. Zur Untersuchung wurden Pilotballone, die in der Luftströmung nach oben stiegen, mit einem Theodolit verfolgt, an dem man in regelmäßigem Zeitabstand die Richtung und den Höhenwinkel ablas. Später konnte aus den Daten die Flugbahn bzw. die Windrichtung und die Windgeschwindigkeit berechnet werden. Sie wurden allerdings nicht „alle 200 Meter“ gemessen, wie Pfäffli de Quervain unkritisch folgt (S. 39). Es sind auch weitere naturwissenschafts-geschichtliche Ungenauigkeiten im Buch auszumachen: So hat der Wiener Meteorologe Julius von Hann 1906 noch keine „mathematische Modellierung“, die einen großen Rechenaufwand bedeuten würde, durchführen sondern nur Näherungsformeln angeben können (S. 40). Er wird als der „Begründer der modernen Meteorologie“ vorgestellt, dabei denkt man jedoch eher an Vilhelm Bjerknes, der mit der Polarfronttheorie die Grundlagen der numerischen Wettervorhersage gelegt hat (S.43).
Weitere Aussagen hätten leichter überprüft werden können. So lässt Pfäffli etwa die falsche Aussage eines Königlichen Inspektors von 1912, wonach ein Inuk bereits deutsche Forscher im Hundeschlittenfahren trainiert habe, die dann die Antarktis durchquert hätten, unkommentiert stehen (S. 60). Die erste Durchquerung der Antarktis fand erst im Südsommer 1957/58 statt. Zu kurz greift auch der Hinweis, die grönländische Bevölkerung habe weiter an Hundeschlitten, dem bevorzugten Fortbewegungsmittel auf Land und Eisflächen, gefeilt, wenn die entscheidende Änderung von Nansen mit der Erfindung des sogenannten Nansenschlittens unerwähnt bleibt (S. 90). Um die von de Quervain forcierte Schweizer Heldengeschichte fortzusetzen, verweist Pfäffli schliesslich auf die „Schweizer Initiative“ und Robert Haefeli als Initiator der Expédition glaciologique internationale au Groenland (EGIG), die jedoch vom Franzosen Paul Emil Victor ins Leben gerufen wurde (S. 181–182). Ergänzend hätte hier die Beteiligung von insgesamt 74 Schweizern an dänischen Nordostgrönland Expeditionen unter der Leitung von Lauge Koch in den Jahren 1932 bis 1954 erwähnt werden können.5
Von diesen Mängeln abgesehen, die vermutlich nur Meteorolog:innen oder Polarhistoriker:innen auffallen, ist das Buch sehr zu empfehlen, beschreibt es einen bisher unbeachteten Aspekt in der Vorbereitung von Grönlandexpeditionen und des Wissensaustauschs. Allerdings würde das Buch durch Hinzufügung eines Personenindexes und eines kurzen Berichtes von de Quervains Expeditionen z.B. im Anhang weiter gewinnen.
Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Cornelia Lüdecke (Hrsg.), Verborgene Eiswelten. Erich von Drygalskis Bericht über seine Grönlandexpeditionen 1891, 1892–1983, München 2015; Pascal Schillings, Der letzte weiße Flecken. Europäische Antarktisreisen um 1900, Göttingen 2016.
2 Erich von Drygalski, Grönland-Expedition der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin 1891–1893. 2 Bde., Berlin 1897; William Barr, Alfred de Quarvain’s Swiss Greenland expeditions, 1909 and 1912, in: Polar Record 51 (2015), S. 366–385.
3 Barr, Alfred de Quervain’s Swiss Greenland expeditions; Stephan Orth, Opas Eisberg. Auf Spurensuche durch Grönland, München 2013.
4 Acht dieser Farbabbildungen wurden bereits mit Unterstützung der ETH Zürich anlässlich einer Ausstellung in Grönland in einem Buch des Uummannaq Polar Institute publiziert: Erik Torm, Greenland 100 years ago. Hand colored photos from 1909 and 1912, Ummannaq 2013.
5 Arthus Menzi-Biland, Der Anteil der Schweizer an der Erforschung Grönlands. I. Dänische staatliche Expeditionen nach Nord-Ost-Grönland unter der Führung von Dr. Lauge Koch (1926) – 1932–1954, in: Polarforschung, 1. Beiheft, Holzminden 1956.