A. Unfricht: Religion und Kult im Peloponnesischen Krieg

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Titel
Religion und Kult im Peloponnesischen Krieg. Facetten des Politischen bei Thukydides


Autor(en)
Unfricht, Armin
Erschienen
Graz 2021: Leykam
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jan Kerkmann, Philosophisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

In einem berühmten, wahrscheinlich im zeitlichen Kontext des Peloponnesischen Krieges entstandenen Fragment rekonstruiert Kritias, Onkel Platons und der spätere Anführer der Herrschaft der Dreißig, die Genesis des moralischen Gottes.1 Weil die Menschen, sobald sie unbeobachtet waren und der staatliche Sanktionsapparat sie nicht erfassen konnte, schwerwiegende Delikte begingen, habe ein exzeptioneller Weiser die Existenz eines allsehenden, strafenden Gottes statuiert. Zu etwa derselben Zeit verkündet Kallikles im platonischen Dialog Gorgias, dass die wahre Gerechtigkeit in dem Regiment der Stärkeren über die Schwächeren beruhe. In diesem ethischen Naturalismus ist die Dechiffrierungsstrategie präfiguriert, jede Berufung auf eine transzendent-göttliche Norm als ideologisches Instrument zur Durchsetzung von Machtinteressen zu dekuvrieren.2

Vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der im fünften vorchristlichen Jahrhundert bereits durch Naturphilosophen wie Anaxagoras oder Sophisten wie Protagoras und Gorgias forcierten griechischen Aufklärung mutet die Hauptthese der vorliegenden Untersuchung ebenso couragiert wie überraschend an. Weit davon entfernt, dass die hauptsächlichen Konfliktparteien Athen und Sparta eine – im Fortgang des Peloponnesischen Krieges womöglich sogar noch verschärfte – opportunistische und zynische Relation zu überlieferten Formen des religiösen Kultes entwickelt hätten, müsse vielmehr die permanente Übereinstimmung mit dem prätendierten Willen der Götter als zentraler Faktor ihrer politischen und militärischen Entscheidungen betrachtet werden.

Von gewichtiger Bedeutung ist für den Verf. also die Distinktion zwischen der aufgeklärt-kritischen Perspektive des Thukydides auf der einen Seite, der die Götter als in die innerweltlichen Kausalketten eingreifende Akteure negiert, und der identitätsstiftenden Dimension des religiösen Kultes auf der anderen Seite. Die auf Götter und Heroen zurückgeführte, genealogische Selbstverortung hatte direkte politische Auswirkungen: Die These des Verf. lautet, dass sich die Könige, Demagogen und Strategen im Peloponnesischen Krieg zwangsläufig an der Autorität des lokalen Kultes orientieren mussten, weil dessen Wahrheitsgeltung bei der Bevölkerungsmehrheit in den Poleis noch ungebrochen war (vgl. S. 19). Die Tragweite des religiösen Kultes spiegelt sich darüber hinaus in einer bemerkenswerten Registratur von Handlungszusammenhängen wider. Diese äußert sich sowohl in der tiefschürfenden Angst vor Miasmen wie in der machttaktisch eingesetzten Insinuation des Frevels gegenüber unliebsamen Antagonisten. Ihre Kehrseite zeigt sich aber auch in der Manipulierbarkeit durch Seher und Orakeldeuter. Nicht zuletzt wird der Nimbus des Sakralen in der Anerkennung von Tempeln als Asylstätten für politisch Verfolgte ostensibel. In ökonomischer Hinsicht offenbart sich die Wichtigkeit des Kultes anhand der privilegierten Selektion von Heiligtümern, die als unantastbare Verwahrungsorte des Schatzes der Polis dienen sollten.

Die Monographie lässt sich in drei übergreifende Abschnitte gliedern: Das erste Kapitel widmet sich terminologischen Definitionsfragen (vgl. S. 11–24) und das zweite Kapitel (vgl. S. 25–127) befasst sich mit der umfänglichen Exposition von Fallbeispielen. Das dritte Kapitel (vgl. S. 129–187) kategorisiert den Nexus von Frömmigkeit, nomoi und Kriegsrecht und thematisiert mannigfaltige Aspekte griechischer Heiligtümer. Es behandelt die Relevanz von Opfer, Eid, Orakel, Frevel und Reinigung in der Ereignisgeschichte des Peloponnesischen Krieges, um mit einer synoptischen Bestimmung von Religion und Kult als „Komponenten eigener Identität, zwischenstaatlicher Verhältnisse und kolonialer Verbindungen“ (S. 176) zu schließen.

Im lesenswerten ersten Kapitel definiert der Verfasser die strukturverleihenden Kernbegriffe des Kultes, der Religion und des Politischen. An dieser Stelle begegnet die maßgebliche hermeneutische Schwierigkeit, inwieweit diese Definitionen unmittelbar aus dem Geschichtswerk des athenischen Strategen destilliert werden können oder ob eine einzelne (ihrerseits in der Ideenhistorie allererst entstandene) philosophische oder religionssoziologische Position rückdeutend favorisiert werden soll. Der Verf. löst diese intrikate Problematik, indem er die „griechische Religion“ in einer geographisch-kulturellen Phänomenumgrenzung als zwischen dem 8. und 3. Jahrhundert v.Chr. intakte Gesamtordnung kollektiv-kultischer Symbolsysteme klassifiziert, die sich vom Schwarzen Meer bis nach Süditalien erstreckte (vgl. S. 190).

Das zweite Kapitel konzentriert sich auf signifikante Fallbeispiele, in denen religiös konnotierte Omina, die Ausrichtung sakrosankter Feierlichkeiten sowie das Bedrohungsszenario des Sakrilegs einen unmittelbaren – sei es motivierenden, sei es hemmenden – Einfluss auf militärisch-politische Aktionen nahmen. Stellvertretend können in dieser Rezension vier plakative Fallbeispiele Unfrichts exponiert werden. Diese Exempel können die Assertion des Verf. untermauern, dass Religion und Politik im Selbstverständnis der antiken Griechen eine unauflösliche Einheit formten. Wenngleich diese Symbiose zumeist zugunsten des kultischen Götterglaubens (Fallbeispiele 3 und 4) austariert worden sei, konnte sie in Ausnahmefällen auch unter dem Supremat der Instanz des Politischen (Fallbeispiele 1 und 2) ausgetragen werden.

1. Im Zuge der vertraglichen Vereinbarungen des Nikiasfriedens (421 v.Chr.) wird die vonseiten der Boioter gewaltsam eroberte Festung Panakton an die Athener remittiert (vgl. Kap. 2.19). Die Spartaner halten sich zwar an dieses Versprechen, können den Athenern jedoch nur eine geschleifte Festung offerieren. Verständlicherweise löst dieser Vorgang bei den Athenern ernsthafte Zweifel an der Bündnistreue der Lakedaimonier aus.3 Die Boioter berufen sich ihrerseits auf einen „alte[n] Eid“ (84), wonach sie selbst und die Athener das Land nur gemeinsam bewirtschaften könnten oder es andernfalls zerstört werden müsse. Unfricht optiert dafür, dass dieser Eid von den Boiotern im Sommer 420 fingiert und nachträglich zurückdatiert wurde, sodass hier die religiöse Rhetorik der Verschleierung genuin politischer Ziele diente.

2. Im berüchtigten Melierdialog (416 v.Chr.) porträtiert Thukydides die Melier als Repräsentanten des tradierten Wertekodex, dem zufolge die Götter als Garanten der kosmischen Gerechtigkeit fungieren (vgl. Kap. 2.23).4 Im Kontrast dazu trennen die athenischen Gesandten dezidiert zwischen Macht und Gerechtigkeit. Die militärisch weit überlegenen Athener situieren auch die Götter unter der Ägide einer ubiquitären, naturgemäßen Gesetzmäßigkeit, wonach „der Gott wahrscheinlich, der Mensch ganz sicher allezeit nach dem Zwang der Natur überall dort, wo er die Macht hat, herrscht“5 (vgl. S. 97). Die athenischen Argumente sind der sophistischen Bewegung zuzuordnen und so deklassieren die athenischen Gesandten jede Hoffnung auf eine moralisch begründete Intervention der Götter als irrational und naiv.

3. Den religionskritischen Implikationen des Melierdialoges diametral entgegengesetzt legen die Athener im Zuge des 415 geschehenen Hermen- und Mysterienfrevels6 ein hypersensitives Verhaltensmuster an den Tag, das ihre anwachsende Furcht vor einer göttlichen Ranküne indiziert (vgl. Kap. 2.25). Weil die siegreiche Gestaltung der Sizilienexpedition für die Athener an die Benevolenz der Götter gebunden ist, nimmt die Entdeckung und Verfolgung der mutmaßlichen Täter der Hermenverstümmelung das inquisitorische Gepräge einer unkontrollierten „Hexenjagd“ (110) an.

4. Dass die tiefe Verankerung in den Sinnerzählungen des religiösen Kultes einen realitätsblinden Aberglauben hervorrufen konnte, der den gesamten politisch-militärischen Erfolg gefährdete, versinnbildlicht das tragische Schicksal des athenischen Feldherren Nikias. Hatte sich das Blatt in der Belagerung von Syrakus schon zuvor zugunsten der sizilischen Verteidiger gewendet, begeht der fromme und gewissenhafte Nikias einen verhängnisvollen Fehler, der die katastrophale Niederlage Athens besiegelt. Er interpretiert die Mondfinsternis des 27. August 413 v.Chr. als einen Wink der Götter, die Abreise noch um einen Mondumlauf zu verzögern (vgl. S. 114f.).7 In der verstreichenden Zeitspanne kann der sizilische Staatsmann Hermokrates die maritimen Rückzugswege blockieren, um die desillusionierten und körperlich geschwächten athenischen Soldaten nun seinerseits effektiv anzugreifen.

Resümierend ist hervorzuheben, dass der Kenntnisreichtum des Verfassers besonders im zweiten Kapitel anhand der Sichtung und Kommentierung von 31 Fallbeispielen eindrucksvoll bewiesen wird. Kritisch ließe sich allerdings anmerken, dass die philologische Akribie des Verf. im dritten Kapitel eine enorm feindifferenzierte Gliederung evoziert, weswegen sich die Untersuchung bei der Erkundung der diversen Funktionen der Heiligtümer etwas im Detail verliert. Insgesamt ist Unfricht eine ebenso stringente wie erhellende Studie über die politische Entscheidungsfindung- und Legitimation im Peloponnesischen Krieg gelungen, die ein lebendiges Panorama der griechischen Glaubensinhalte entfaltet.

Anmerkungen:
1 Vgl. Thomas Schirren / Thomas Zinsmaier (Hrsg.), Die Sophisten. Ausgewählte Texte, Griechisch / Deutsch, Stuttgart 2003, S. 280f.
2 Vgl. Platon, Gorg. 482c–492c.
3 Thukydides, Der Peloponnesische Krieg, übers. u. hrsg. v. Helmuth Vretska u. Werner Rinner, Stuttgart 2000, 5,42,1–2.
4 Vgl. Thuk. 5,84,1–116,4.
5 Thuk. 5,105,2.
6 Vgl. Thuk. 6,27,1–29,3; 6,60,1–5.
7 Thuk. 7,50,4.

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