M. Rasch: Das Luftbild in Deutschland

Cover
Titel
Das Luftbild in Deutschland von den Anfängen bis zu Albert Speer. Geschichte und Rezeption des zivilen "Stiefkindes der Luftfahrt"


Autor(en)
Rasch, Marco
Erschienen
Paderborn 2021: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
452 S.
Preis
€ 79,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Noemi Quagliati, Forschungsinstitut für Wissenschafts- und Technikgeschichte, Deutsches Museum, München

In den letzten Jahren ist das Interesse an „the world from the air and outer space“, wie der Untertitel von Beaumont Newhalls 1969 erschienener Pionierstudie „Airborne Camera“ lautet, gewachsen. Allein 2022 wurden die politischen, epistemologischen und ästhetischen Dimensionen des „Blicks von oben“ in zahlreichen internationalen Symposien, Zeitschriftenartikeln und Ausschreibungen untersucht.1 Jüngst hat sich das Deutsche Museum mit der materiellen Infrastruktur hinter dem Luftbild beschäftigt und ein Projekt der technischen Geschichte der Luftbildfotografie gewidmet.2 Die gegenwärtige Auseinandersetzung mit Luft- und Satellitenbildern lässt sich wahrscheinlich durch die Notwendigkeit holistischer Ansätze zur Beantwortung der Umwelt- und Klimakrise sowie der globalen Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine erklären, der die Verbreitung des „vertikalen Blicks“ in den Medien noch intensiviert hat.

In diesem fruchtbaren Forschungsfeld stellt Marco Raschs Buch Das Luftbild in Deutschland von den Anfängen bis zu Albert Speer einen wesentlichen Beitrag dar, um unser Wissen über die historische Entwicklung und die öffentliche Rezeption der zivilen Luftbildfotografie in Deutschland bis 1945 zu erweitern: ein Thema, so argumentiert der Autor, das aufgrund des primären Interesses der Forschung an der militärischen Reichweite der Luftbilderkundung bisher unterschätzt wurde. Die umfangreiche und detaillierte Studie basiert auf der Dissertation des Autors. Die Inspiration dafür bezog er von einer geheimnisvollen Luftbildsammlung im Deutschen Dokumentationszentrum für Kunstgeschichte - Bildarchiv Foto Marburg (DDK), deren Geschichte mit dem Architekten Albert Speer verbunden ist. Im DDK befinden sich seit 1986 Schrägansichten von Stadtgebieten, die zwischen 1922 und 1944 zur Unterstützung der Stadtplanung und des Wiederaufbaus (mit besonderem Schwerpunkt auf der Kriegszeit) aufgenommen wurden. Sie stehen im Zusammenhang mit Speers Tätigkeit zunächst als Generalbauinspektor für die Reichshauptstadt und dann als Reichsminister für Rüstung und Kriegsproduktion. Die fesselnde Rekonstruktion der Provenienz, der Datierung und der Funktionen dieser Sammlung sowie ihres Fundes auf einem Dachboden in Osterode am Harz in den 1980er-Jahren wird besonders das Laienpublikum zu schätzen wissen, das für einen Moment den Eindruck haben könnte, einen Krimi statt einer wissenschaftlichen Arbeit zu lesen.

Der Autor nutzt die 3.326 Luftbilder von 325 (hauptsächlich in Deutschland gelegenen) Orten des sogenannten „Konvoluts“, um grundlegende Fragen darüber aufzuwerfen, erstens wie deutsche Unternehmen nach dem Ersten Weltkrieg die Herstellung und Verbreitung von Luftbildern systematisierten und zweitens wie bestimmte Sektoren (Stadt- und Regionalplanung, Kunst, Wissenschaft und Wirtschaft) die Relevanz von Luftbildern im Laufe der Zeit einstuften, wie sie diese in Auftrag gaben und verwendeten. Um die Wirkungsbereiche der Luftbildfirmen und ihrer Auftraggeber nachzuzeichnen, konsultierte Rasch neben dem DDK sechs weitere Archive: das Bundesarchiv in Berlin und Koblenz, das Deutsche Museum in München, das Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt, das Landesarchiv Nordrhein-Westfalen und das Staatsarchiv in Wrocław.

Die Gliederung des Buches ist sehr kleinteilig nummeriert. Obwohl ein solches Inhaltsverzeichnis für nicht-deutsche Leser:innen übermäßig didaktisch erscheinen mag, bietet es den unterschiedlichen Zielgruppen ein hilfreiches Instrument, um sich schnell über einen bestimmten Aspekt zu informieren, in einem Band, der ein breites Spektrum von Disziplinen anspricht. Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel, von denen die ersten zwei den Hauptteil einleiten. Es folgen eine historische Übersicht zur Entwicklung der Luftbildfotografie in Deutschland bis 1945 (Kapitel 3), eine Untersuchung der Nutzung dieser visuellen Information in verschiedenen Anwendungsbereichen (Kapitel 4) sowie eine Schlussbetrachtung.

Ausgehend von der etymologischen Bedeutung von „Vogelschau“ und „Luftbild“ in der Einleitung beschreibt Rasch im zweiten Kapitel die eigentlichen qualitativen Merkmale des Luftbildes (sowohl schräg als auch senkrecht) wie Räumlichkeit, Serialität, Objektivität, Detailreichtum, Bildauswertung und den Unterschied zwischen der Luftbildfotografie und anderen Zeichentechniken. Der Autor beginnt dieses Kapitel mit der Beschreibung des Fluges, wie er in der griechischen Mythologie von Dädalus und Ikarus dargestellt wird. Die berühmten Vorläufer der fotografischen Vogelperspektive aus der Renaissance werden dabei nicht vernachlässigt. Im Unterschied zu vorhergehenden Studien bringt Rasch hier jedoch den interessanten Fall der dreidimensionalen Stadtmodelle vom 16. Jahrhundert bis zu den architektonischen Erneuerungsplänen des „Dritten Reiches“ ein. Zum Abschluss dieses Kapitels beschreibt er die Luftaufnahmen von Fabriken auf Firmenbriefköpfen ab den 1830er-Jahren.

Kapitel 3, betitelt als Historische Entwicklung der Luftbildaktivitäten bis 1945, befasst sich mit der notwendigen technologischen Infrastruktur, um die Welt aus der Luft zu fotografieren und folgt dabei einer chronologischen Erzählung, die mit der Ballonfotografie in Frankreich (Nadar) und Nordamerika (James Wallace Black) beginnt. Anstelle einer vergleichenden Studie der Luftbildtechnologien verschiedener Länder stellt Rasch jedoch wenig bekannte Initiativen der Luftbildfotografie im Deutschland des 19. Jahrhunderts in den Fokus. Er konzentriert sich auf die ersten Versuche, die Fotogrammetrie auf die Luftperspektive anzuwenden, sowie auf die ersten Verwendungen der Luftbildfotografie für die zivile Vermessung und militärische Aufklärung in Preußen. Um die Jahrhundertwende wurde Berlin zu dem Zentrum für Ballonfotografie in Deutschland: Dort wurden die ältesten erhaltenen Luftbilder aufgenommen, abgedruckt 1886 in der illustrierten Zeitschrift Die Gartenlaube. Einschränkungen durch die Drucktechnik (auf die der Autor allerdings nicht näher eingeht) sind jedoch eine der Ursachen für die relativ geringe Verbreitung der Luftbildfotografie außerhalb elitärer Kreise vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs.

Rasch weist in vielen Passagen seines Buches zu Recht darauf hin, dass der Erste Weltkrieg ein Schlüsselmoment für die Verbreitung der Luftbildfotografie in alle Schichten der deutschen Gesellschaft gewesen sei: „Größter ‚Förderer‘ war hier der Erste Weltkrieg.“ (S. 251) Jedoch scheint der Autor, auf der einen Seite, vom konzeptionellen Standpunkt die Interpretation des Ersten Weltkriegs als Wendepunkt in der Entwicklung der zivilen Luftfahrt abzulehnen (aufgrund der 1914 erfolgten Unterbrechung der zivilen Anwendungen der Luftbildfotografie zugunsten der militärischen Luftaufklärung). Auf der anderen Seite tragen Sätze wie „Die Entwicklung des deutschen privatunternehmerischen Luftbildwesens lässt sich historisch nur aus der militärischen Aufklärung des Ersten Weltkrieges erklären“ (S. 177) nicht zur Beantwortung der Frage bei, ob Rasch die historische Entwicklung der Luftbildfotografie nun im Sinne einer Kontinuität interpretiert oder stattdessen den Ersten Weltkrieg als eine Zäsur anerkennt. Die Leser:innen finden jedoch, und das ist der Hauptkritikpunkt an diesem Buch, keine eindeutige Erklärung der technischen und kulturellen Auswirkungen des Ersten Weltkriegs auf die zivile Luftbildfotografie, auch wenn der Autor hier und da im Buch Schlüsselakteure (insbesondere Erich Ewald), militärtechnische Weiterentwicklungen und Sekundärliteratur (siehe Fußnoten 14, 31, 32) zum Ersten Weltkrieg erwähnt.

Die Hauptstärke des Buches liegt indes in der tiefgehenden Analyse der Gründung, Expansion und Fusion privater Luftbildunternehmen von der Zwischenkriegszeit bis hin zu deren Zwangszusammenschluss im Nationalsozialismus. Vor dem Hintergrund der vom Versailler Vertrag auferlegten Beschränkungen und der Wirtschaftskrise der Weimarer Republik schildert Rasch die Geschichte der zwei wichtigsten deutschen Luftbildunternehmen, der Hansa Luftbild GmbH in Berlin und der Junkers Luftbild-Zentrale in Dessau. Hinzu kommen Vermessungsprojekte anderer Wettbewerber. Insbesondere das Verhältnis der privaten Unternehmen zum Staat wird dabei ausführlich beleuchtet. Der Autor erläutert den erzwungenen Zusammenschluss aller privaten Luftbildunternehmen zur Hansa Luftbild ab 1933 und die zunehmende totalitäre Kontrolle des NS-Staates über dieses Monopolunternehmen, das bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges zur Sonderluftbildabteilung (Sobia) des Reichsluftfahrtministeriums (RLM) wurde. Eine Zusammenfassung und instruktive Diagramme (S. 22, S. 110, S. 126) helfen den Leser:innen, die Entwicklung dieser Unternehmen zu verfolgen. Das Kapitel endet mit einem Zitat des Direktors der Junkers Luftbild-Zentrale Herbert Arnim Angelroth, der die Luftbildfotografie als „Stiefkind der Luftfahrt“ bezeichnete. Dies scheint ein interessanter Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu sein: In den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bestimmten die Luftbeobachtung und die Fähigkeit, Gebiete aus der Höhe mit Hilfe der Fotografie zu dokumentieren, die Entwicklung der Flugzeugtechnik, insbesondere im militärischen Bereich (d. h. Aufklärungsflugzeuge wurden vor Jagdflugzeugen entwickelt). Welche Gründe dazu geführt haben, dass die Luftbildfotografie in der Luftfahrt als zweitrangig angesehen wurde, wäre eine lohnende weiterführende Forschungsfrage.

Das vierte Kapitel Transformationen des visuellen Wissens – Verwertung der Bildinformationen, der umfangreichste Teil des Buches, befasst sich nicht mit den Produzent:innen, sondern mit den Rezipient:innen von Luftbildern. Rasch untersucht hier die Verwertung in der Raumforschung und Raumordnung (kartografische Forschung, Stadt- und Infrastrukturplanung), in der Kunst (neue künstlerische Methoden, Denkmalpflege, Bildbände) und in der Wissenschaft und Wirtschaft (Archäologie, Geowissenschaften, Forstwirtschaft/ -wissenschaft, Agrarwesen und Meliorationsarbeiten). Das reich bebilderte Kapitel veranschaulicht die Vielseitigkeit des Luftbildes, aber ebenso die Gründe – wie die hohen Produktionskosten –, die eine größere Verbreitung verhindert haben.

Die künstlerische Rezeption von Luftaufnahmen etwa gibt Einblicke in fotografische Trends der Zeit (z.B. die als „Neues Sehen“ bekannte Bewegung) und zeigt Verknüpfungen zu den Bauhaus-Experimenten von László Moholy-Nagy. Robert Petschows einflussreiche Fotografien aus dem Freiballon, die sowohl in Kunstkreisen als auch in populären Publikationen verbreitet wurden, werden ebenfalls analysiert.3 Neben den Anwendungen der Luftbildfotografie in der Polarforschung, der Gebirgsforschung und der Wirtschaftsgeologie versäumt es Rasch nicht, die Luftbildkartierung der deutschen Kolonien zu behandeln. Er macht deutlich, dass die Idee der „Kolonial-Vermessung“ (S. 275) mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und dem Verlust der Kolonialgebiete nicht verschwand. Vielmehr setzte sich dieses Konzept in der Weimarer Republik mit der Kartierung unerschlossener Länder für deutsche Wirtschaftsinteressen fort, bis hin zur Gründung des Kolonialpolitischen Amts der NSDAP und des Reichskolonialbunds während der NS-Diktatur. Rasch beschreibt die Verwicklung zwischen der von Geografen und Geodäten (z.B. Carl Troll und Otto Schulz-Kampfhenkel) geförderten wissenschaftlichen Luftbildfotografie und den kolonialen und militaristischen Zielen der Nationalsozialisten.

Insgesamt machen Marco Raschs umfangreiche Analyse sowie seine präzise Beschreibung des gesamten Systems der Produktion und des Einsatzes der zivilen Luftbildfotografie dieses Buch zu einer grundlegenden und wertvollen Studie für die zeitgenössische Forschung zur deutschen Luftbildfotografie in der Zeit der Weimarer Republik und der NS-Diktatur. Der Band spricht ein breites Publikum von Kunst- und Fotohistoriker:innen, Bildwissenschaftler:innen, Landschaftsarchitekt:innen, Medientheoretiker:innen und ästhetisch interessierten Forschenden an.

Auf dem Umschlag von Raschs Buch ist eine Luftbildaufnahme zu sehen: der Schattenwurf eines Flugzeugs auf der Kuppel der Frauenkirche in Dresden. Dieses Foto aus der Sammlung Albert Speers weckt schnell Erinnerungen an die Trümmer desselben Gebäudes nach dem alliierten Flächenbombardement im Zweiten Weltkrieg. Im Gegensatz zu dieser militärischen Anspielung ist es Marco Rasch gelungen, das ältere Narrativ der Luftbildfotografie als ein rein der Zerstörung dienendes Instrument deutlich zu erweitern, indem er ihre vielfältigen zivilen Verwendungen in einer turbulenten Periode der deutschen Geschichte aufzeigt.

Anmerkungen:
1 Siehe u.a.: Aerial Spatial Revolution in Architecture and Urbanism (Online-Symposium organisiert von USI, Schweiz, im Mai 2022), L'image verticale. Politiques de la vue aérienne (Ausgabe 2022 der Zeitschrift Transbordeur 6, Frankreich-Schweiz), und Machinic Visions of the Planetary (Call for Papers der Zeitschrift „Media + Environment“, Dänemark, ausgeschrieben im November 2021).
2 Siehe: Mit geschultem Blick, https://www.deutsches-museum.de/forschung/forschungsinstitut/projekte/detailseite/mit-geschultem-blick (18.03.2023).
3 Als eine der wenigen Studien der Sekundärliteratur, die sich ganz diesem Weimarer Fotografen widmen, sei hier angeführt: Michael Kempf, Robert Petschow und das Neue Sehen, Berlin 2020. Profitiert hätte der letzte Teil dieses Unterkapitels, der sich mit bekannten Architekten und Malern befasst, außerdem von Christoph Asendorfs Untersuchung Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien 1997.