D. Semmelmann, G. Prengel u.a. (Hgg.): Eisenhüttenstädter Lesebuch

Titel
Eisenhüttenstädter Lesebuch.


Herausgeber
Semmelmann, Dagmar; Prengel, Gudrun; Krüger, Ursula
Anzahl Seiten
495 S.
Preis
€ 14,85
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Evemarie Badstübner

Pünktlich zum 50. Jahrestag des Baubeginns in Eisenhüttenstadt präsentierte die 1994 gegründete lokale Geschichtswerkstatt das Eisenhüttenstädter Lesebuch der Öffentlichkeit. Per Zeitung, brieflich und persönlich hatte sie über einen längeren Zeitraum hinweg Mitbürgerinnen und Mitbürger eingeladen, in Diskussionsrunden oder Einzelgesprächen von ihrem Leben in der "Ersten sozialistischen Stadt Deutschlands" zu erzählen. Spurensuche wollte sie betreiben, Vergangenes dem Vergessen entreißen, aber auch dem Umdeuten, Verzerren oder Verklären der jüngsten Vergangenheit entgegenwirken.

Etwa 200 Personen folgten der Aufforderung. Die mit ihnen in rund 40 Zusammenkünften geführten Gespräche wurden auf ca. 70 Tonbändern festgehalten, eine Auswahl der darauf basierenden verschriftlichten Aufzeichnungen befindet sich auf den ersten dreihundert Seiten des vorliegenden Bandes.

Kommen in diesem Teil des Buches vor allem Erbauer und langjährige Bewohner der Stadt mit ihren Erinnerungen zu Wort, offeriert der zweite unter der Überschrift "Abermals Gründerzeit" zahlreiche Texte und Firmenporträts, die die Bemühungen der jüngeren Generationen dokumentieren, sich den neuen gesellschaftlichen Bedingungen nach Verschwinden der DDR zu stellen. Im Hinblick auf Darbietungsformen und Erzählstil unterscheiden sich beide Teile gravierend, denn die neuen Firmengründer resp. -ausgründer (bezogen auf das Eisenhüttenkombinat Ost) wurden nicht befragt. Sie unterstützten das Projekt vor allem in finanzieller Hinsicht, als Gegenleistung erhielten sie die Möglichkeit, im Band mit Statements vertreten zu sein, die auf Effizienz und Kompetenz ihrer jungen mittelständischen Unternehmen aufmerksam machen.

Problemstellung und Struktur der Gesprächsrunden mit ihrer wechselnden Teilnehmerschaft lassen die ordnende und hinterfragende Einflußnahme oral-history-erfahrener Wissenschaftler erkennen. Letzteres trifft vor allem auf die studierte Philosophin Dagmar Semmelmann zu, die schon zu DDR-Zeiten mit dieser Methode experimentierte und die seinerzeit zu dem Betreuerteam von DDR-Seite gehörte, das die westdeutsche Forschergruppe um den Historiker Lutz Niethammer 1987 bei ihren u. a. in Eisenhüttenstadt angestellten Befragungen begleitete. 1988/89 führte Semmelmann hier auch eigene Erhebungen und Befragungen durch. Für den Interviewteil des Buches verfaßte sie ein reflektierendes Nachwort, das die ansonsten unkommentiert veröffentlichten oral-history-Materialien sowie den Prozeß ihres Zustandekommens hinterfragt und einer kritisch-bilanzierenden Sicht unterzieht (S. 286-302).

Das Buch ist dennoch keine vorrangig an Wissenschaftler gerichtete Edition, sondern im wahrsten Sinne des Wortes ein Lesebuch für viele, bietet aber Kulturwissenschaftlern reichlich Stoff für weitergehende Untersuchungen und Analysen, denn die vorgelegten Quellen interessieren nicht zuletzt wegen der ihnen innewohnenden kulturgeschichtlich relevanten Fragen.

Die Gesprächsrunden waren thematisch ausgerichtet. Entsprechend wurde auch der redaktionell bearbeitete und gestaltete Interviewteil des Buches untergliedert: Ankunft und Herkunft; Der erste Hochofen; Die "angefangene Stadt"; "Was hast Du am 17.Juni gemacht?"; Vom Alltag der fünfziger Jahre; Aus Klein-Texas durch die Alte Ladenstraße zum Textilkaufhaus; "...bitten wir Sie, nach Fürstenberg zu ziehen"; Kultur - "von Anfang an groß geschrieben"; POS, UTP usw.; Neue und alte Bräuche; Der Eichwald und andere Sparten; "Was haben wir bewegt?".

Bei den Interviewten handelte es sich mehrheitlich um ältere Stadtbewohner (darunter ehemalige SED-Mitglieder und Kommunalpolitiker), geboren meist zwischen 1925/26 und 1938/39. Sie alle hatten in ihren jungen Jahren die spezifischen Katastrophensituationen des 20. Jahrhunderts erlebt - Faschismus, Krieg, Nachkriegsarmut, Umsiedlung, eigenes Verstricktsein in die Naziwelt, Verlust von Familienmitgliedern.

Der Aufbau des Eisenhüttenkombinates Ost (EKO) sowie der dazugehörigen Wohnstadt, die bekanntlich kurze Zeit den Namen Stalinstadt trug, übte auf Personen mit diesen Erfahrungen eine große Anziehungskraft aus. Hier erwartete sie zwar schwere Knochenarbeit, aber sie konnten auch mit günstigem Verdienst, Aufstiegsmöglichkeiten, besserer Versorgung und baldiger Zuteilung von Wohnraum rechnen. Das große Glücksgefühl, eine eigene Wohnung beziehen zu können, mochte sie zunächst auch noch so dürftig eingerichtet sein, schwang selbst in den späten Interviews noch mit.

Ihr DDR-Leben beurteilten die Angehörigen der Aufbaugeneration im wesentlichen positiv, ein Umstand, der die Mitglieder der Geschichtswerkstatt aufstörte und umtrieb, hatten sie doch eher Auseinandersetzung und kritische Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit, aber nicht "eine Tendenz zur Verklärung" erwartet. Schließlich wollten sie ein breites Spektrum an "Einstellungen und Sichtweisen auf DDR-Geschichte zur Sprache bringen" (S.294 ff.) und auch "unangenehme, negative Erlebnisse" erfassen. Nur traten bei den hier dokumentierten Veranstaltungen ausgesprochen DDR-kritische Bürger oder Benachteiligte kaum in Erscheinung. In der Diskussionsrunde über den 17. Juni allerdings problematisierten die Teilnehmer einerseits die Streikunwilligkeit der Hochöfner, beschrieben aber gleichzeitig die Protestveranstaltungen der Bauarbeiter und darauf folgende willkürliche Verhaftungen (z.B. von Jugendlichen in "Westnickis").

Daß die älteren Generationen ihre Eisenhüttenstädter Zeit vor 1989 als gute Zeit empfanden, sollte indes nicht verwundern - waren sie doch zu einem gewissen Wohlstand und zu einer dauerhaften sozialen Absicherung gelangt, hatten tragfähige Techniken des Durchkommens und Fortkommens ausgebildet, Aufstiege erfahren und sich eingerichtet. Solche Kriterien wurden auch in den Auswertungsgesprächen der Werkstatt in Anschlag gebracht.

Darüber hinaus scheint aber die Überlegung am Platze, ob die z. T. selbstquälerischen Reaktionen der Vereinsmitglieder auf "Verdrängungstendenzen" (Motto: Was haben wir falsch gemacht?) nicht zuletzt einer dezidiert politikgeschichtlichen Herangehensweise geschuldet waren, welche lebensweltlichen Eigen-Sinn nicht so recht anerkennen mochte und zu wenig berücksichtigte, daß Geschichte auch ein plurales Geschehen ist.

Wie in der DDR allgemein üblich, definierten sich die Befragten in erster Linie über ihre Arbeit. Und warum sollten die Angehörigen dieser älteren Personengruppe ihre eigene Lebensleistung entwerten? Immerhin hatten sie Werk und Stadt nicht nur als Beobachter wachsen sehen, sondern mit oft primitivem Werkzeug (anfangs sogar aus den eigenen privaten Beständen) auf dem kargen märkischem Sandboden unter großen Schwierigkeiten selbst aufgebaut und zum Funktionieren gebracht. Bei aller Berücksichtigung der Tatsache, daß Zeitzeugen als individuelle Subjekte Geschichte im professionell-wissenschaftlichen Sinne nie "richtig" erinnern, sondern fast immer verklären und verdrängen, kann ihnen das Recht auf Selbstbewußtsein und Anerkennung ihrer Lebensleistung nicht abgesprochen werden. Die differenzierte, kritische und um Objektivität bemühte Vergangenheitsaufarbeitung gehört eben doch vorrangig in den Aufgabenbereich der Wissenschaft.

Ohnehin kommen die Erlebnisberichte der einstigen Hochöfner oder Bauarbeiter nicht als Feenmärchen daher, sondern handeln von schwierigen, sich nur allmählich bessernden Lebensverhältnissen, gefährlicher und schweißtreibender Arbeit auf den Gichtbühnen oder auf dem Bau und mehr oder weniger bescheidenen (in der Bauphase auch wilden) Vergnügungen. Andererseits wurde in den Erzählungen immer wieder mit Stolz und sichtlicher Zufriedenheit konstatiert, daß Eisenhüttenstadt auf Grund der großen volkswirtschaftlichen Bedeutung des EKO im Hinblick auf Versorgung und Lebensqualität stets einen Sonderstatus innehatte.

Daneben kamen so manche DDR-typischen individuellen wie kollektiven Alltagspraxen, Tricksereien und Schlampereien zur Sprache - das festlich begangene "planmäßige" Anblasen des ersten Hochofens, der in Wirklichkeit noch gar nicht funktionsfähig war, Einkaufsfahrten nach Westberlin, "schwarz" gebaute Parkanlagen, waghalsige Beschaffungsaktionen der Einkäufer des Handels, die Besteckdiebstähle in der Werkkantine u.ä.

Viele Details sind interessant - wichtige wie Angaben zu Löhnen und zur Konsumkultur, skurrile wie die über einen bildenden Künstler, der während seines Studiums 14 Stalinporträts pro Nachtschicht anfertigen konnte und folgerichtig in der Werbeabteilung des EKO landen sollte, wegen des höheren Verdienstes aber lieber als Anstreicher arbeitete.

Die in den Materialien enthaltenen Auskünfte über Lebensbedingungen von Frauen dokumentieren, daß sie es in diesem eher männlich geprägten Arbeitermilieu (Hüttenarbeiter und auch Bauarbeiter sind schließlich Archetypen des männlichen Industriearbeiters) keineswegs leicht hatten, obwohl sie sich durchaus Respekt verschafften. Auch sie waren mit großen Hoffnungen ins EKO gekommen und hatten keine schwere Arbeit gescheut - nicht das Bäumefällen oder das Ausheben der Baugruben von Hand. Einige wurden sogar zur Hochöfnerin ausgebildet. Gesundheitliche Bestimmungen verwehrten ihnen aber später wegen der Gichtgase eine Tätigkeit in Ofennähe. Zunächst noch fehlende Kindergartenplätze führten so manche von ihnen vorübergehend ins Hausfrauendasein zurück und danach landeten sie auf den schlechter bezahlten Arbeitsplätzen im Handel oder in Büros bzw. Sekretariaten der Chefs. Ihr Selbstverständnis und die positive Beurteilung des eigenen Lebens wurden davon kaum beeinflußt.

Aus alledem ergeben sich viele Fragen: Haben die Erbauer und älteren Einwohner Eisenhüttenstadts etwa doch eine Art Eigentümerbewußtsein ausgebildet? Entstand hier etwa gar eine spezifische Milieu- bzw. kleinräumige Regionalkultur, die Eisenhüttenstadt von anderen Arbeitermilieus der DDR unterschied? Und wie verhielten sich die jüngeren Generationen?

Doch über die Befindlichkeiten der nachgeborenen Generationen oder gar Generationskonflikte ist kaum etwas zu erfahren. Wenigstens einige Informationen über die in den 50er/ 60er Jahren und danach zur Welt gekommenen Kinder und Enkelkinder lassen sich den Erzählungen der Väter und Mütter entnehmen, wenn diese deren mangelndes Interesse an früheren Gemeinschaftsorientierungen, an Ordnung und Sauberkeit, an Hausgemeinschaftsgeselligkeiten und gepflegten Kleingärten beklagen. Aber die Jüngeren selbst meldeten sich nicht zu Wort. Das mag u.a. an den hin und wieder altmodischen, eben mehr politikgeschichtlich intendierten Fragestellungen der öffentlichen Gesprächsrunden gelegen haben (vom Aufwachsen in Eisenhüttenstadt oder von Jugendproblemen der 60er/70er Jahre war nur selten die Rede, höchstens im Zusammenhang mit der Jugendweihe) oder auch daran, daß sich diese Bevölkerungsgruppe aus Existenzgründen lieber zurückhielt.

Immerhin fand die am meisten kritische Diskussion offensichtlich zum Thema "Schule" statt, wenn auch herausgefordert durch Mitglieder der Geschichtswerkstatt. Politische Heuchelei, Anpassungszwang und autoritäre Disziplinierungsmethoden wurden angeprangert, die anwesenden Lehrer wiederum relativierten diese Vorwürfe und verwiesen auf ihr Eingebundensein in eine engstirnige Volksbildungspolitik.

Zu erklären, was denn nun das Sozialistische an Eisenhüttenstadt gewesen sei, fiel den Gesprächsteilnehmern, die die Qualität ihrer Lebenswelt sowohl über- als auch unterschätzten, offensichtlich schwer. Von angenehmen Wohnbedingungen wurde gesprochen, von dem engen Beziehungen zwischen Werk und Stadt, vom Gemeinschaftsdenken und von Verlustgefühlen nach der Wende, d.h. im Alltagsbewußtsein der hier zu Wort Gekommenen fungierte Sozialismus vornehmlich als Synonym für soziale Sicherheit, Solidarverhalten und Heimat. Über das Scheitern des Sozialismusprojekts mochte kaum jemand reden.

Alles in allem liegt eine Publikation vor, die ihre Leserinnen und Leser wohl in erster Linie im regionalen Umfeld finden wird. Ihr Blick auf Alltag und Geschichte einer Kommune im östlichen Teil Deuschlands sollte aber darüber hinaus interessieren, unbeschadet der Tatsache, daß Eisenhüttenstadt und EKO schon mehrfach Gegenstand von Ausstellungen und Untersuchungen gewesen sind. Überdies wäre eine Fortführung des Projekts mit neueren, eventuell stärker kultur- und mentalitätsgeschichtlich orientierten Fragestellungen wünschenswert. Doch schon jetzt ist beträchtliches Material aufgehäuft worden, das es wissenschaftlich weiter zu erschließen gilt. Vor allem darauf sollte aufmerksam gemacht werden.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/
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