G. Mante: Die deutschsprachige prähistorische Archäologie

Titel
Die deutschsprachige prähistorische Archäologie. Eine Ideengeschichte im Zeichen von Wissenschaft, Politik und europäischen Werten


Autor(en)
Mante, Gabriele
Reihe
Internationale Hochschulschriften 467
Erschienen
Münster 2007: Waxmann Verlag
Anzahl Seiten
280 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Brather, Institut für Ur- und Frühgeschichte, Universität Freiburg

Dieser in Essen entstandenen, aber an der Humboldt-Universität Berlin eingereichten Dissertationsschrift merkt man die anregende Atmosphäre eines interdisziplinären Forschungsverbunds an und wundert sich zugleich über allzu persönliche Schilderungen in der Einleitung.

Die Schrift führt Paradigmen der deutschsprachigen prähistorischen Archäologie vor. Das Inhaltsverzeichnis weist neun Kapitel aus, doch sind die wesentlichen Aspekte in den Kapiteln 2 bis 5 zu finden. Sie werden soweit möglich in ungefährer chronologischer Anordnung vorgeführt.

Als „Traditionen“ beschreibt Mante zunächst klassifizierende Forschungsansätze, die seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurden. Mit dem Begriff „antiquarisch“ bezeichnet man seit langem Bemühungen, die archäologischen Quellen zu erfassen und zu klassifizieren – als notwendige Grundlage für alle weiteren Interpretationen, wie auch sämtliche Kritiker einräumen. Oft ist damit die Suche nach chronologischer Ordnung verbunden, womit aber sofort auch die räumliche Ordnung in den Blick gerät – hier als „regionalistischer Ansatz“ separat behandelt. Das ist logisch inkonsequent, doch pragmatisch zu begründen, denn mit der Abgrenzung ‚archäologischer Kulturen’ ist zugleich das lang diskutierte Problem der ‚ethnischen Deutung’ verbunden. Nur gelegentlich riefen Diskussionen um zeitliche Unterscheidungen ähnlich heftige Debatten hervor, und zwar eben dann, wenn es um ‚ethnische’ Fragen ging. Mit Gustaf Kossinna nennt die Verfasserin den Begründer dieses kulturregionalen Paradigmas und mit Ernst Wahle einen wichtigen Kritiker. Gero von Merhart dient als Beispiel für primär antiquarische Bemühungen. Rudolf Virchow, der bekannte Berliner Anatom und Politiker, steht für einen „universalistischen“ Ansatz, der interdisziplinär und international ausgerichtet ist. Mit der Ausdifferenzierung der von Virchow noch zusammengehaltenen Disziplinen Archäologie, Ethnologie und Anthropologie geriet diese Perspektive im allgemeinen zunehmend aus dem Fokus, doch könne das Deutsche Archäologische Institut mit seinen weltweit operierenden Abteilungen als aktueller Gegenbeweis gelten. Dass das DAI beim Auswärtigen Amt angesiedelt ist, verweist auf seine kultur- und außenpolitische Bedeutung – über seine wissenschaftlichen und Dienstleistungsaufgaben hinaus.

Einen zweiten Schwerpunkt des Buchs bildet dann – nach einem überraschenden zeitlichen und inhaltlichen Sprung – die DDR-Archäologie. Die SED-Politik schrieb ihr den ‚Historischen Materialismus’ als Deutungsschema vor, der mit Mante als ‚im Prinzip’ universalistisch anzusehen ist, weil er global die gleichen gesellschaftlichen Entwicklungsstadien annimmt. Universalistisch waren des Weiteren die postulierte enge Verbindung mit der Ethnologie und die, wenn auch angesichts der Möglichkeiten begrenzte, internationale Tätigkeit. Das Bemühen von DDR-Archäologen um marxistische Ansätze erklärt die Verfasserin zu Recht mit dem Bemühen, ihrem Fach seine Existenzberechtigung zu erhalten und es mit seiner Bedeutung für die „gesellschaftliche Praxis“ zu rechtfertigen. Auch wenn man angesichts der Entwicklung des Fachs bis 1945 und beispielsweise des 1947 gescheiterten Versuchs Wilhelm Unverzagts, eine Professur an der Humboldt-Universität zu erlangen, einen besonderen Bedarf der Prähistorie vermuten kann, hatte sich in der DDR alles diesem ‚Praxistest’ zu unterziehen, der oft nur auf dem Papier stehen konnte. Die seinerzeitigen Bemühungen Karl-Heinz Ottos müssen aber wohl auch unter einem persönlichen Blickwinkel gesehen werden: mit seinen zahlreichen Vorschlägen suchte er sich offenbar selbst eine dominierende Stellung innerhalb der neu zu strukturierenden DDR-Archäologie zu schaffen, wie die zitierten Dokumente nahelegen. Die vom zuständigen Ministerium erlassenen, fachspezifischen Studienpläne der 1970er-Jahre spiegeln eher politische Absichtserklärungen als tatsächliche Ausbildungsinhalte wider, nicht unähnlich den gegenwärtigen Bemühungen um die Konzeption von BA- und MA-Studiengängen.

Noch deutlicher erscheint die Diskrepanz zwischen „semantischen Umbauten“, das heißt marxistischen Begriffs- und Konzeptformulierungen, und dem Forschungsalltag. Joachim Herrmann hat sich um die Formulierung von Forschungsperspektiven besonders und an führender Stelle bemüht. Praktisch unterschieden sich aber ‚sozialökonomische Gebiete’ nicht von ‚archäologischen Kulturen’, und auch die ‚sozialökonomische Analyse’ oder die ‚militärische Demokratie’ blieben Postulate ohne praktische, methodische Relevanz für die unternommenen Studien. Herbert Jankuhns Einschätzung, welche die Verfasserin teilt, wird man folgen können: mit dem Blick auf Lebensumstände und Sozialstrukturen schienen ‚marxistische’ Ansätze neue wissenschaftliche Perspektiven zu eröffnen, ohne dies aber methodisch innovativ umsetzen zu können; ähnlich äußerte sich Joachim Werner. Im Wesentlichen dürfte dies daran gelegen haben, dass eine offene Diskussion über Forschungsziele und -methoden unter den politischen Umständen nicht möglich war und sich deshalb die meisten Fachvertreter mangels Alternative auf ‚traditionelle’ Paradigmen zurückzogen. So lange keine Grundsatzfragen berührt waren, bestanden jedoch Spielräume.

Als Kontrast zur ‚materialistischen’ DDR-Archäologie baut die Verfasserin einen westdeutschen ‚Idealismus’ auf. Hermann Müller-Karpe, Karl J. Narr und Hansjürgen Müller-Beck werden als Prähistoriker genannt, die monotheistische Vorstellungen sehr weit zurückprojizierten. Aus dieser Sicht komme dem Geist – und damit einem Schöpfer – der Primat zu, während man in der DDR die ‚Arbeit’ oder die ‚Macht des Gemeinwesens’ an die erste Stelle setzte. Dies trifft wohl nur ideengeschichtlich zu und zeigt damit die Grenzen dieser Perspektive. In der Praxis waren derart explizite und einseitige Ansichten auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze in der Minderheit, wie die Verfasserin auch unumwunden einräumt. Grundsätzlich lassen sich Entwicklungen und Wirkungen von Ideen nur erklären, wenn man die politischen und sozialen Umstände ausreichend berücksichtigt, wie es die gegenwärtige Wissenschaftsgeschichte fordert und unternimmt. Die ‚Systemauseinandersetzung’ zwischen Ost und West wirkte sich nur an der Oberfläche und programmatisch aus. Insgesamt wird man dennoch feststellen können, dass man tendenziell in der DDR eher anthropologischen und in der Bundesrepublik eher historistischen Konzepten folgen wollte, es in der Praxis häufig aber gar nicht tat.

‚Innovationen’ lassen sich – wenig überraschend für eine wissenschaftliche Disziplin – mit der Verfasserin auf verschiedenen Feldern feststellen. Ihre überwiegend implizite Formulierung in deutschsprachigen Arbeiten, soweit es um methodische Grundsatzfragen geht, lässt allerdings jeden Vergleich mit dem englischen Sprachraum schief ausfallen. Mante zählt Weiterentwicklungen von Methoden und Fragestellungen auf, wobei Einflüsse der New Archaeology und anderer Richtungen deutlich werden, des weiteren die Quellenkritik, die besondere Rolle vergleichender Betrachtungen (Sangmeisters Konzept wird auf S. 34 und auf S. 171 zweimal abgedruckt), die Einbeziehung statistischer Verfahren und funktionaler Konzepte, eine zunehmend ‚soziologische’ Betrachtung von ‚Kultur’, die Siedlungsarchäologie Jankuhns und Heiko Steuers großen (und kaum ausreichend rezipierten) Wurf zur Erfassung frühgeschichtlicher Sozialstrukturen sowie strukturalistische und funktionalistische Perspektiven. Insgesamt zeigten diese Entwicklungen, dass die Rekonstruktionen prähistorischer Vergangenheit deutlich dynamischer und bunter geworden sind.

Ein kürzeres Kapitel zu „Europa-Bildern“ wirkt etwas fremd. Es beschreibt äußere Abgrenzungen des Kontinents in ur- und frühgeschichtlicher Zeit und innere Abgrenzungen, indem die Germanen als treibende Kraft herausgestellt werden. Damit sind lang anhaltende Debatten um die ‚Indogermanen’ und germanische ‚Kontinuität’ seit langen Zeiten verbunden, die sich in den letzten Jahrzehnten doch deutlich erschöpft haben. Gegenwärtige Europa-Bezüge in Ausstellungen und Forschungsprogrammen sind weniger ideologisch geprägt als um die Öffentlichkeitswirkung der Archäologie bemüht. Hier wird deutlich, dass Ideengeschichte in einen breiteren Kontext eingebettet werden muss – und ‚Forschungsgeschichte’ besser als ‚Wissenschaftsgeschichte’ unter Berücksichtigung von Personen und Institutionen, wissenschaftlichem und politischem Umfeld zu betreiben ist. Die ‚Abendland’-Debatte der Nachkriegszeit diente der ideologischen Formierung neuer westeuropäischer Identitäten und der Abgrenzung vom bald zementierten sowjetischen Einflussbereich. Darauf zielten auch die heftigen Reaktionen in der DDR, die aber deshalb primär politisch und nicht fachlich zu verstehen sind. Prägend für die DDR-Archäologie war die zentrale Rolle des Berliner Akademie-Instituts einerseits und der fünf Landes(!)museen andererseits. Otto wurde 1964 aus primär politischen Motiven Nachfolger Unverzagts an der Spitze des Instituts; als Organisator scheint er sich nicht bewährt zu haben, denn im Zuge der Akademiereform der späten 1960er-Jahre wurden mehrere Einrichtungen zum Zentralinstitut für Alte Geschichte und Archäologie (ZIAGA) zusammengelegt und mit Herrmann ein junger dynamischer Archäologe als dessen Direktor eingesetzt, der es bis zur Auflösung 1990 leitete. Herrmann verschaffte der Archäologie durch seine Initiativen und vielfältigen Funktionen eine starke Stellung und konnte Großprojekte anschieben, die erwartungsgemäß nicht frei von politischen Rahmenvorgaben blieben.

Dass im ‚Germanen-Handbuch’ der 1970er-Jahre die Goten nicht vorkamen, dürfte man auch mit politischen Rücksichtnahmen gegenüber dem benachbarten Polen erklären können, das damals noch einer starken (slawischen) Autochthonie-Vorstellung anhing und sich akuten innenpolitischen Problemen gegenübersah. Der gegenüber dem ursprünglichen Handbuch-Konzept entfallene Europadisput wird ebenso mit der nun einsetzenden Entspannungspolitik zusammenhängen, aber auch mit dem Führungswechsel von Otto zu Herrmann. Manche Polemik des Kalten Krieges war darüber hinaus ebenfalls nicht wissenschaftlich, sondern politisch motiviert. Wenn im Handbuch ‚Die Slawen in Deutschland’ nur Regionen westlich von Oder und Neiße behandelt werden, lag darin gewiss auch eine von Gerhard Mildenberger seinerzeit kritisierte politische Implikation – die Oder-Neiße-Grenze. Man kann dies als jene Zwänge verstehen, unter denen in der DDR Wissenschaft betrieben wurde, aber auch als eher pragmatische, politisch vernünftige Lösung, die außerdem das Autorenteam nicht zu umfangreich werden ließ. Eine zentralistische Wissenschaftsorganisation trug das ihre bei, doch bot sie für ein kleines Fach wie die Archäologie in einem kleinen Land die einzige Chance der Ressourcenbündelung. Der Zentralismus war zwar politisch erzwungen, aber wie etwa das Beispiel Frankreich zeigt, nicht auf die ‚sozialistischen Staaten’ beschränkt.

Das Buch folgt „oft einem mehr darstellenden als wertenden Ansatz“ (S. 8), was ihm nicht immer zum Vorteil gereicht. Dadurch werden Passagen langatmig und Zusammenhänge undeutlich, während Straffungen und pointierte Formulierungen die Lektüre erleichtert hätten; man erwartet schließlich eine Analyse der Ideen und nicht allein deren ausführliche Präsentation. Wenn aber als Ziel formuliert wird, „die angesprochenen Archäologen schlicht selbst zu Wort kommen [zu] lassen und durch die Auswahl der Zitate zum Lesen ihrer Werke an[zu]regen“ (S. 8), dann verfehlt man eine bewertende, vergleichende Analyse. Neben durchaus interessanten Beobachtungen findet sich viel Altbekanntes und stehen gelegentlich eigenwillige Urteile. Manche, besonders explizit geäußerte Ideen werden dabei mehr betont, als es ihrer tatsächlichen Bedeutung oder Wirkung entspricht. Andere, zurückhaltend und methodisch abwägend vorgebrachte Grundsatzüberlegungen wie die von Edward Sangmeister oder Hans Jürgen Eggers scheinen mir dagegen unterbewertet zu sein. Rafael v. Uslar als ‚antiquarischen’ Archäologen präsentiert zu bekommen, wird ihm wohl nicht gerecht. Für v. Uslar spielten historische Interpretationen eine wesentliche Rolle, doch plädierte er zunächst energisch für Vorsicht bei der Interpretation und eine sorgfältige Prüfung der betreffenden archäologischen Quellen. Frauke Stein ist mitnichten eine Schülerin Jankuhns, sondern Werners.

Die Gliederung des Bandes dient auf den ersten Blick einem durchaus plausiblen Überblick über ‚Leitideen’ der prähistorischen Archäologie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Aber welche zentralen Konzepte sind berücksichtigt? ‚Marxistische’ und ‚idealistische’ Vorstellungen haben in der Forschung tatsächlich nur eine marginale Rolle gespielt. Deshalb hätte sich genaueres Hinsehen bei implizit verwendeten, deshalb aber umso wirkungsvolleren und weniger bei programmatisch formulierten Modellen empfohlen, auch wenn dies aufwändig und nur anhand sorgfältig ausgewählter Publikationen möglich gewesen wäre. Gerade dort böte sich die Chance, entscheidenden Einblick in unausgesprochene Konzepte wichtiger Autoren und Publikationen zu gewinnen und das vollkommen falsche Diktum über eine angeblich ‚theorielose’ deutschsprachige Archäologie gründlich zu widerlegen. Schließlich bewegen sich Interpretationen auf unterschiedlichen ‚Ebenen’ – chronologische Ordnungen auf einem anderen Niveau als die Analyse von Sozialstrukturen oder gar von ereignisgeschichtlichen Zusammenhängen. Paradigmenwechsel im Kuhnschen Sinne lassen sich auch in der Archäologie nach allgemeinem Eindruck nicht feststellen; stattdessen ergänzten neue Konzepte die bestehenden ein ums andere Mal und vergrößerten damit die Bandbreite möglicher historisch-archäologischer Erklärungsansätze.

Der weitgehende Verzicht auf Fußnoten und die Integration von Literaturangaben in den laufenden Text erschwert in meinen Augen die Lesbarkeit, statt dass es sie erhöht (S. 8). Bei mehreren Auflagen von Monographien oder anderen Originalarbeiten wäre das direkte Zitieren der Erstauflage hilfreich, wenn es auf deren Rolle und ihren Einfluss ankommt. Ein Personenregister hätte man sich außerdem gewünscht, um feststellen zu können, in welchen Kontexten bestimmte Archäologen behandelt werden.

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