Cover
Titel
Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg


Autor(en)
Sofsky, Wolfgang
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Scharnefsky, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Wolfgang Sofsky gehört seit dem Erscheinen seiner Studie über "Die Ordnung des Terrors. Das Konzentrationslager" (1993) zu den bekanntesten deutschen Soziologen. Das Buch hat jedoch nicht nur der sozialwissenschaftlichen Forschung zum System der nationalsozialistischen Konzentrationslager neue Impulse gegeben, sondern vor allem auch unter den Historikern heftige, aber notwendige und weiterführende Debatten ausgelöst. Gleiches gilt für seinen drei Jahre später erschienenen "Traktat über die Gewalt", der die neuere soziologische und geschichtswissenschaftliche Beschäftigung mit Krieg, Gewalt und Frieden nachhaltig beeinflusst hat. Sofsky veröffentlicht zudem regelmäßig Beiträge in den Feuilletons der wichtigsten deutschsprachigen Tages- und Wochenzeitungen und findet so auch über den engeren Kreis der "scientific community" hinaus große Aufmerksamkeit. Eine Auswahl dieser Essays liegt nun in seinem 2002 erschienenen Buch "Zeiten des Schreckens. Amok, Terror, Krieg" in gesammelter und überarbeiteter Form vor und wird durch einige Originalbeiträge ergänzt. Sofsky verzichtet zwar auf ein Vorwort oder eine längere Einleitung, dennoch beziehen sich die vier Teile des Bandes, die jeweils drei Aufsätze enthalten, zumindest implizit aufeinander und sind beispielhaft für die zentralen Themen, mit denen der Göttinger Soziologe sich seit Jahren befasst.

Der erste Teil ("Jenseits der Grenze") ist grundsätzlichen Überlegungen zum Wesen der Gewalt gewidmet und zeigt die nach Meinung Sofskys vorhandenen Möglichkeiten und Grenzen der wissenschaftlichen Erforschung menschlicher Grausamkeit. Sofsky versteht Gewalt weder als natürliche Folge einer genetischen Veranlagung, noch allein als rationales Mittel zur Durchsetzung von persönlichen oder politischen Zwecken und auch nicht als Ausbruch krankhafter Triebkräfte oder ausschließlich als Folge sozialer Benachteiligung und wirtschaftlicher Krisen. Für ihn liegt die menschliche Fähigkeit zur Gewaltausübung vor allem in der Fähigkeit des Menschen zur Freiheit begründet: "Die Gewalt ergibt sich aus der spezifischen Menschlichkeit des Menschen. [...] Weil er nicht aus seiner Mitte heraus von Instinkten gelenkt wird, sondern als geistiges Wesen ein Verhältnis zu sich selbst hat, kann er sich schlimmer aufführen als jede Bestie. [...] Weil er niemals ganz bei sich ist, muß er seinen Tod fürchten und die Freiheit der anderen. Die Freiheit ist ein hohes, wenn nicht das höchste Gut. Aber mitnichten garantiert sie das moralisch Gute. Der Preis der Freiheit ist das Leiden, das Böse. Denn die Freiheit der Wölfe ist der Tod der Lämmer." (S. 13f.) Der Mensch besitzt jedoch nicht nur die Freiheit zur Ausübung von Gewalt, sondern auch die Freiheit zum Verzicht auf Gewalt. "Was fördert mithin den Gebrauch der Freiheit zur Gewalt, wie geschieht die Überschreitung der Grenze, und welche Welt öffnet sich dahinter?" (S. 27)

Diese Fragen lassen sich nach Auffassung Sofskys nicht mit den Mitteln der herkömmlichen Gewaltforschung beantworten, die sich mit den vermeintlichen "Ursachen" von Gewalt beschäftigt habe, ohne sich dem Phänomen der Gewalt selbst zuzuwenden. Sofsky plädiert dagegen für eine anthropologische Beschreibung der Gewalt als sozialen Prozess. Diese Beschreibung "zielt nicht auf den Sinn, sondern auf die Formen sozialen Verhaltens. Sie ist nicht kulturalistisch, sondern universalistisch angelegt. Ihr Thema ist die Eigendynamik sozialer Wechselseitigkeit. [...] Nicht historische Ereignisse stehen im Vordergrund, sondern jene Tatsachen, welche jeder Geschichte zugrunde liegen." (S. 26f.) Eine wesentliche Quelle der Gewalt ist nach Sofsky die menschliche Vorstellungskraft, die sich immer neue Arten der Grausamkeit auszudenken vermag. Der Übergang von der Phantasie zur Wirklichkeit – das Überschreiten der Grenze zur Gewalt – kann auf verschiedene Weise erleichtert werden. Sofsky nennt hier u.a. den Befehl und weist darauf hin, dass der Befehl nicht nur Zwang, sondern vor allem auch Lizenz zur Gewaltausübung ist: "Willige Vollstrecker tun stets mehr, als befohlen ist. Sie führen Befehle aus, die gar nicht erteilt worden sind." (S. 32) Wenn die Grenze zur Gewalt einmal überschritten ist, kann es bei einem einzelnen Übergriff bleiben, oder aber die Gewalt wird Gewohnheit, Arbeit und Routine, unterbrochen von Exzessen, die für den Täter Höhepunkt der Freiheit sein können – und für die Opfer der tiefste Punkt der Hölle.

Im zweiten Teil des Aufsatzbandes ("Terror und Verfolgung") bezieht Sofsky Position in der Debatte um "Moderne und Barbarei". Er lehnt alle gängigen Theorien zum Zusammenhang zwischen Gewalt und Zivilisation ab, denn ihr analytischer Wert sei bescheiden und sie bedienten lediglich das "Bedürfnis nach historischer Sinndeutung": "Immun gegen die Detailanalyse taugen sie eher zum Entwurf von Weltbildern als zum Verständnis der Ereignisse. In den luftigen Höhen der Globaltheorie sind die Abstraktionsverluste hoch." (S. 67f.) Ebenso wenig vermag Sofsky der Versuch zu überzeugen, den Massenterror des 20. Jahrhunderts mit bürokratischer Rationalität zu erklären: Die Redeweise vom "bürokratischen" Völkermord sei ganz konzentriert auf Westeuropa, während im Osten die meisten jüdischen Opfer vor ihrer Ermordung nicht erst namentlich erfasst wurden. Auch das Konzentrationslager war "trotz der nicht unbeträchtlichen Papierarbeit [...] kein Teil der bürokratischen Kultur" (S. 71). Für Sofsky sind es dagegen "drei gesellschaftliche Ordnungsformen, welche den Keim der Verfolgung in sich tragen: die Herrschaft, die Gemeinschaft und die Nation." (S. 72) Herrschaft solle zwar Gewalt unterbinden, stütze sich aber ihrerseits auf Gewalt bzw. auf die Drohung mit der Gewalt. Gemeinschaft definiere Zugehörigkeit durch Ausschluss, und "gegenüber Fremden gelten die Gesetze der Gastfreundschaft nur so lange, wie sie ihre Koffer noch nicht ausgepackt haben" (S. 75). In der Nation seien Herrschaft und Gemeinschaft schließlich vereint: "Sobald sich staatliche Instanzen daranmachen, die Homogenität der Kultur aktiv durchzusetzen und die Trugbilder der sozialen Gemeinschaft zu Leitlinien der Politik zu erklären, ist der Damm zur systematischen Verfolgung durchbrochen." (S. 77) Im Anschluss beschreibt Sofsky verschiedene Formen des Verfolgungsterrors und untersucht unter dem Titel "Terrorzeit" die spezifischen Merkmale des Attentats im Vergleich zu Razzia und Todesmarsch.

Der dritte Teil ("Krieg") umfasst Beiträge zu "Kriegsgesellschaften" (Belagerung, Besatzung, Flucht), zur Gewalterfahrung im Krieg (Verteidigung, Angriff, Verwundung) und zum besonderen Charakter des "wilden Krieges". Zum wilden Krieg zählt Sofsky den Krieg der Marodeure, privaten Söldner und Kindersoldaten in zahlreichen Konfliktgebieten und prophezeit, dass diese Kämpfe andauern werden, "bis die Gesellschaften, in denen sie geführt werden, zerstört sind. Und sie werden immer neue Legionäre und Menschenschinder anlocken, für welche Gewalt die einzig denkbare Lebensform ist" (S. 158). Eine andere Dimension des »wilden Krieges« sind die Anschläge terroristischer Gruppen: "Dieser Krieg ist keine Fortsetzung politischer Machtkonflikte mit anderen Mitteln. Die Waffen des Massenterrors heben jede Politik auf." (S. 179) Auch die staatlichen Maßnahmen zur Terrorabwehr nach dem 11. September 2001 können neue Anschläge nicht verhindern: "So gilt im Ausnahmezustand des globalen Krieges der universale Verdacht: Hinter jedem Gesicht, ob auffällig oder unauffällig, kann sich jemand verbergen, der gerade dabei ist, sich für den nächsten Angriff zu präparieren." (S. 183)

Im vierten und letzten Teil seines Sammelbandes widmet sich Sofsky den "Nachwirkungen" von Amok, Terror und Krieg. Ausgehend von Überlegungen zu Rache und Strafe kommt er zu dem Schluss, dass die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts nicht angemessen gesühnt werden können, auch wenn das nicht den generellen Verzicht auf Strafverfolgung nach sich ziehen darf. Kritisch setzt er sich auch mit den Formen der "Erinnerung" an die Verbrechen und mit dem Streben nach "Versöhnung" zwischen Opfern und Tätern auseinander: Die ausgestreckte Hand, die der Täter dem Überlebenden darbiete, sei eine "Beleidigung" und eine "soziale Falle" für das Opfer, denn es werde von ihm geradezu erwartet, dieses Angebot anzunehmen. "So ist die soziale Kommunikation der Versöhnung ein probates Verfahren, das Leiden zu kaschieren und das Opfer ins Unrecht zu setzen." (S. 210) Auch wohlfeile Bekenntnisse zu "Schuld" und "Scham" haben eine entlastende Funktion. Sie leisten einer Flucht in die Innerlichkeit Vorschub, die die Täter und ihre Nachfahren nichts kostet und zur Abwehr von Forderungen nach finanzieller Entschädigung für die Opfer und ihre Angehörigen beiträgt.

Die im vorliegenden Band gesammelten zwölf Essays von Sofsky über "Zeiten des Schreckens" lesen sich mit großem intellektuellen Gewinn, auch wenn man manche Texte schon aus früheren Fassungen kennt und ihnen auch im Buch ihren tagesaktuellen Entstehungskontext immer noch anmerkt. Man muss auch nicht sämtliche Thesen des Autors teilen, um von diesem Buch eingenommen zu sein. Das betrifft vor allem Wolfgang Sofskys dezidierte Ablehnung »globaler« Theorien über mögliche Ursachen der Gewalt zugunsten der dichten Beschreibung konkreter Gewaltformen und Gewaltsituationen. Beide Ansätze müssen sich jedoch nicht gegenseitig ausschließen, sondern können einander ergänzen. Wenn auch "große" Theorien ganz sicher nur begrenzten analytischen Wert haben, so sollten Soziologen und Historiker dennoch den Anspruch nicht aufgeben, zu den Problemen von Gewalt und Zivilisation sowie von Krieg und Frieden wenigstens "Theorien mittlerer Reichweite" (Robert K. Merton) zu entwickeln und in Fallstudien zu prüfen.

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