W. Hardtwig: Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500-1900

Cover
Titel
Macht, Emotion und Geselligkeit. Studien zur Soziabilität in Deutschland 1500-1900


Autor(en)
Hardtwig, Wolfgang
Erschienen
Stuttgart 2009: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
233 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jörg Hackmann, Institut für Geschichte und internationale Beziehungen, Universität Szczecin

Wolfgang Hardtwig zählt zweifellos zu den profiliertesten Forschern in den Themenbereichen Geselligkeit und Vereinskultur in der deutschen Geschichte. Im Vordergrund seiner Arbeiten stehen freilich nicht Lokal- oder Mikrostudien, sondern der Blick auf das gesellschaftsgeschichtliche Ganze. Allerdings sind Hardtwigs einschlägige Arbeiten zu diesem Themenfeld, abgesehen von seinem Buch zur vormodernen Geselligkeit von 19971, bislang nur verstreut publiziert worden. Der vorliegende Band schafft hier Abhilfe und bündelt neun bereits zuvor veröffentlichte Beiträge zur Geselligkeit in Deutschland. Unter ihnen sind zentrale Texte wie das Stichwort „Verein“ aus den „Geschichtlichen Grundbegriffen“, aber auch Beiträge aus einschlägigen Sammelbänden zum Bildungsbürgertum und zum Vereinswesen. Teilweise neu ist, abgesehen von den Titeln zweier Aufsätze, der erste Text in der vorliegenden Publikation zur „‚Genossenschaft‘ in der deutschen Geschichte“.

Vor diesem Hintergrund sollen hier weniger die einzelnen Texte, sondern der sie umspannende Rahmen betrachtet werden. Hardtwig verweist zunächst auf den Entstehungskontext seiner Forschungen, die aus dem Erkenntnisinteresse der 1970er- und 1980er-Jahre an Vereinskultur als Phänomen der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft und der Arbeiterschaft entsprangen.

Diese Forschungsperspektive hat Hardtwig in drei Richtungen erweitert: Erstens durch die im Titel der vorliegenden Publikation mit den Stichworten „Macht“ und „Emotion“ umrissene Blickrichtung. Sie bezieht sich zum einen auf den in Freimaurerlogen, Geheimgesellschaften und studentischen Vereinigungen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert zu beobachtenden Wandel der Gefühlskultur, der sich in der Verbindung von Innerlichkeit und gesellschaftlichem Elitenanspruch manifestierte. Namentlich den studentischen Komments und Vereinsstatuten schreibt Hardtwig eine entscheidende Anpassungsleistung zu, die durch Geselligkeit Orientierung in dem individuellen Streben nach Unabhängigkeit und Verantwortung für die Gesellschaft bot.

Zweitens unterstreicht Hardtwig die „chronologische Tiefenerstreckung“ von Geselligkeit, die keineswegs allein ein Phänomen der modernen Geschichte ist, sondern in Gilden und Bruderschaften Kontinuitätslinien bis in das frühe Mittelalter aufweist. Durch das Herausarbeiten dieser Kontinuität tritt die politisch-ideologische Aufladung der üblicherweise herangezogenen, gegensätzlichen epochalen Ordnungskategorien – Zwangsverband und freiwillige Vereinigung sowie Gemeinschaft und Individualität – hervor.

Drittens betont Hardtwig die Bedeutung begriffsgeschichtlicher Analysen, die sowohl Begriffskonjunkturen wie semantische Verschiebungen in den Bezeichnungen von Vergemeinschaftungen erklären können. Insbesondere die politische Aufladung von „Assoziation“ durch die Konnotation „Sozialismus“ sowie von „Genossenschaft“ als von Hermann Schultze-Delitzsch propagierter Gegenbegriff sind hier zu nennen.

Mit diesen Akzentuierungen kann Hardtwig zum einen die lange Dauer genossenschaftlicher Organisationen zeigen, die auch in den Epochen von Industrialisierung und Globalisierung nicht verschwunden sind. Zum anderen arbeitet er die Universalität des Zusammenhangs zwischen dem Streben nach Selbstbestimmtheit und Gemeinschaftlichkeit heraus. In diesem Spannungsfeld lassen sich zahlreiche große gesellschaftliche Themen erkennen, wie etwa die Abgrenzung von Privatheit und Öffentlichkeit oder die Kontrolle bzw. Teilhabe an sozialer und politischer Macht. Mit der Ausdehnung des Vereinswesens als gesellschaftlichem Strukturmerkmal auch auf die Arbeiterschaft und der Ausdifferenzierung des „politischen Vereins“ aus dem allgemeinen Vereinsbegriff nach 1850 endet das Erkenntnisinteresse Hardtwigs, mit anderen Worten, er konzentriert sich auf die vorpolitischen Aspekte des Vereinswesens, nicht jedoch auf Geselligkeit ohne die Verknüpfung mit politisch-sozialen Zukunftsvorstellungen.

In dieser Verortung von Hardtwigs Forschungen fällt auf, dass zwei Aspekte, die der historischen Vereinsforschung seit den 1990er-Jahren neue Impulse gegeben haben, nicht erwähnt werden: Das gilt sowohl für das sich zunächst in der angelsächsischen Forschung verbreitende Schlagwort der Zivilgesellschaft wie auch für das Interesse an transnationalen Beziehungen im Vereinswesen, also die Frage nach Vorbildern, Transfers von Organisationsformen sowie rechtlichen Entwicklungen, die unter anderem im östlichen, aber auch im nördlichen Europa frühere nationalgeschichtliche Sehweisen modifiziert haben. Über die deutsche Geschichte hinausweisende Bezüge oder Vergleiche nehmen in den hier publizierten Arbeiten Hardtwigs dagegen keinen größeren Raum ein. Die imponierende methodologische Bandbreite und die Vogelperspektive, die sowohl eine Gesamtschau als auch eine Vielzahl präziser Einzelbeobachtungen bietet, gehen bei Hardtwig mit einer recht engen nationalen Fokussierung einher, die freilich in ähnlicher Weise auch jenseits der deutschen Geschichtswissenschaft anzutreffen ist.

Gewiss kann man die vorliegende Zusammenstellung von Texten, die überwiegend zwischen 1984 und 1994 entstanden sind, als vernünftige Resistenz gegen die zahlreichen „turns“ in der Geschichtswissenschaft der letzten Dekade deuten, sie zeugt aber ebenso auch von der nationalgeschichtlichen Orientierung der Gesellschaftsgeschichte. Hier wäre freilich einzuwenden, dass gerade die begriffsgeschichtliche Forschung an sprachliche und damit auch an nationale Rahmen gebunden ist und dass gerade die nationale Blickfeldbegrenzung erst den Blick in die Tiefe ermögliche. Ebenso ließen sich aber auch Ansatzpunkte für transnationale Fragestellungen ausmachen, wie sie mit Blick auf den angelsächsischen Raum und Frankreich ebenso wie mit Blick auf das mittlere und östliche Europa seit einiger Zeit in der Geschichtsforschung anzutreffen sind. Es ist nun keineswegs so, dass sich bei Hardtwig solche Ansatzpunkte nicht finden, sie müssen aber aus den Texten gleichsam herausgeschält werden.

Insofern ist die vorliegende Zusammenstellung weit mehr als nur eine Dokumentation der historischen Geselligkeitsforschung in Deutschland, sondern regt mit ihren exakten Beobachtungen und meisterhaften Bündelungen zu weiteren Forschungsfragen an – gleichermaßen in supranational vergleichender wie in verflechtungsgeschichtlicher Hinsicht.

Anmerkung:
1 Wolfgang Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997.