J. D. Klier: Russians, Jews, and the Pogroms

Cover
Titel
Russians, Jews, and the Pogroms of 1881-1882.


Autor(en)
Klier, John Doyle
Erschienen
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
£ 66.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Richter, Forschungsprojekt "Antisemitismus in Europa 1879-1914", Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Der Historiker John Doyle Klier, Professor für Jüdische Studien am Londoner University College und anerkannter Experte für die Geschichte der Juden im Russischen Reich, starb 2007 kurz vor der Fertigstellung seiner Studie über die Pogrome von 1881–82. Dass diese nun doch noch vorliegt, ist der redaktionellen Arbeit seiner Frau Helen Klier sowie François Guesnets und Lars Fischers (beide University College London) zu verdanken.

Kliers Studie ist nur auf den ersten Blick eine Fortsetzung seiner Monographien zur Geschichte der Juden und Judenfeindschaft im Russischen Reich in den Jahren 1772–18251 und 1855–1881.2 Auf den zweiten handelt es sich um eine methodisch deutlich breitere Herangehensweise an eine Kette von Ereignissen, über die bisher viel gesprochen, aber erstaunlich wenig geforscht wurde: Die Pogrome der Jahre 1881-82. Die maßgeblichen Studien von I. Michael Aronson3, Jonathan Frankel4 und Hans Rogger5 zu diesem Thema, auf die sich Klier an mehreren Stellen bezieht, sind bereits zwanzig Jahre alt. Der Mangel an Erforschung dieser beiden so wichtigen Jahre ist der Grund dafür, dass sich der eigentlich seit langem widerlegte Mythos, die Pogrome seien durch die zarische Regierung angestiftet worden, hartnäckig hält. Zugleich, so Klier, habe die Konzentration der Forschung auf die ungleich blutigeren Pogrome im 20. Jahrhundert dazu geführt, dass Forschungserkenntnisse unzulässigerweise auf die Ereignisse von 1881–82 rückprojiziert worden seien. Das Ziel seiner Studie ist daher ein doppeltes: zum einen die Beschreibung der Pogrome in Form von Mikrostudien, zum anderen eine Kontextualisierung auf der Grundlage jüngerer Forschungen zu ethnischer und kollektiver Gewalt.

Insbesondere die erste Aufgabe löst Klier mit Bravour. Die drei Pogromwellen im Südwesten des Reiches sowie die außerhalb dieser Wellen ausgebrochenen Pogrome in Warschau und Balta sind dicht und eindrücklich beschrieben. Klier schildert in seinem ersten Kapitel überzeugend die Hilflosigkeit der hoffnungslos unterbesetzten und schlecht ausgebildeten Polizei gegenüber den Ausbrüchen kollektiver Gewalt. Zudem weist er nach, dass es sich bei den Pogromisten nicht um verarmtes Wanderproletariat handelte, sondern größtenteils um in der Region fest verwurzelte Bauern. Als „Bystanders“, deren Tatenlosigkeit auf die Bauern eine affirmative Wirkung hatte, weist Klier auch den Vertretern der „besseren Gesellschaft“ Verantwortung für die Ausbreitung der Pogrome zu.

Durch die Schilderung der Ausbreitung in Wellenform wird klar, dass es sich bei den Pogromen keineswegs um rein städtische Phänomene handelte. Die zahlreichen Pogrome auf dem Land mündeten jedoch seltener in tödlicher Gewalt als in den Städten. „Moderne“ Züge trugen die Pogrome daher im urbanen Raum, wo sie sich durch Mittel der Massenkommunikation – vor allem der Presse – zügig ausbreiten konnten. Was aber laut Klier die Ausschreitungen von 1881-82 besonders „modern“ mache, sei, dass durch sie überhaupt erst das Konzept des Pogroms und somit ein „precedent, and a model, for future riots“ (S. 59) geschaffen wurde.

Im Gegensatz zu den eingangs erwähnten Studien, die sozioökonomische Gründe für die Pogrome betonten, nähert sich Klier den Pogromen mit einer kulturwissenschaftlichen Herangehensweise und beschreibt die Ausschreitungen gegen Juden als semiotisches System, das von rituellen Formen und „Regeln“ bestimmt war. Jüdischer Besitz durfte zerstört oder geplündert, Juden selbst aber nicht verletzt werden. Von den Juden hingegen wurde erwartet, dass sie sich gegen die Gewalt auf keinen Fall mit Schusswaffen zur Wehr setzten. Das Ausbrechen von Pogromen an christlichen Feiertagen, die zudem mit Markttagen zusammen fielen, habe eine karnevalsartige Atmosphäre geschaffen. Entscheidend, so Klier, seien jedoch weniger die religiösen Faktoren gewesen, sondern „a complex matrix of visible and assumed differences that divided Jews from their non-Jewish neighbors“ (S. 71).

Im zweiten Kapitel des Buches beschreibt Klier überzeugend die Reaktionen des Staates, der russischen sowie der internationalen Öffentlichkeit auf die Pogrome. Dem Widerspruch zwischen militärischer Härte gegen Pogromisten auf der einen, und milden Gerichtsurteilen auf der anderen Seite lag der feste Glauben an „Jewish exploitation“ (S. 121) zugrunde: Die Pogrome galten als „misguided and undesirable, but nonetheless understandable“ (S. 88), als Aufbegehren der Bauern gegen die unmoralische jüdische Wirtschaft. Während die jüdische wirtschaftliche Elite um Baron Ginzburg die rechtliche Emanzipation der Juden anstrebte, waren die Staatsbeamten mehrheitlich der Meinung, dass es eigentlich die Bauern seien, die vom schädlichen Einfluss der Juden zu befreien seien (S. 147). Die berüchtigten Mai-Gesetze von 1882 waren die logische Konsequenz dieser Überzeugung und sollten zukünftige Pogrome verhindern. Von den Zeitgenossen als provisorisch und defizitär bewertet, wurden sie nach der Entlassung des federführenden Innenministers Ignatjew 1882 abgemildert.

Das dritte Kapitel widmet Klier den Reaktionen der Juden selbst. Vertreter der „Neuen Politik“ wie Leo Pinsker oder Mosche Leib Lilienblum reagierten mit dem Entwurf von Plänen zur Emigration der Juden aus Russland – ein Ziel, das der Formierung des Zionismus einen entscheidenden Impuls gab. Während sich die russischen Beamten hinsichtlich solcher Auswanderungsbestrebungen widersprüchlich verhielten, trug besonders die jüdische Presse, die im Untersuchungszeitraum ihr „coming of age“ (S. 296) erlebte, dazu bei, dass die finanzielle und logistische Unterstützung emigrationswilliger Juden effektiver gestaltet werden konnte. Zugleich entstanden Bewegungen religiöser Erneuerer, die der zarischen Argumentation folgten und deren Ziel es war, die Juden zu „productive and useful sons of the Fatherland“ (S. 288) zu machen. Die konservative russische Presse berichtete begeistert, während die jüdische Presse Parallelen zu dem Konvertiten und Verfasser des einflussreichen judeophoben „Buches vom Kahal“, Jakow Brafman, zog.

Der alten säkularen Elite der russischen Juden um Baron Ginzburg wurde in der Forschung in der Vergangenheit häufig eine passive Haltung vorgeworfen. Im Gegensatz zu den „naive and utopian emigration projects“ (S. 324) der Vertreter der „Neuen Politik“ bewertet Klier hingegen ihre Bemühungen, die sich darauf konzentrierten, die rechtliche Lage der Juden zu verbessern, als realistische und engagierte Reaktion. Die Versuche, die russische Politik durch Sammlung von Informationen und Statistiken und Lobby-Arbeit zumindest dazu bewegen, die Mai-Gesetze zu abzumildern, scheiterten letztendlich daran, dass Ignatjew mit dem bis dahin in der russischen Führung dominanten Glauben brach, die Juden seien „not only in need of reform but also capable of it“ (S. 326). Ignatjews Überzeugung, die Juden müssten aus dem wirtschaftlichen Leben des Reiches ausgeschlossen werden, widersprach allen Bemühungen zur Verbesserung ihrer rechtlichen Lage.

In der historischen Gewaltforschung haben sich praxeologische und akteurszentrierte Methoden etabliert, die in der „Pogromforschung“ als Teil der Geschichte des Judentums oder der Antisemitismusforschung lange vernachlässigt worden sind. Kliers Interpretation der Pogrome als ethnische Gewalt entfaltet ihr Potential daher insbesondere dort, wo die Quellen eine dichte Beschreibung zulassen. Dies trifft in erster Linie auf den ersten Teil des Buches zu. Wünschenswert wäre bei diesem Ansatz jedoch eine weitere Einordnung der Pogrome in die Geschichte ethnischer Gewalt im Russischen Reich gewesen. Zum einen würden die Spezifika der christlich/bäuerlich-jüdischen Beziehungen im Vergleich zum Umgang mit anderen „Fremdgruppen“ geschärft werden, zum anderen könnte eine Überbetonung der gewalthaften Aspekte im „dialogue of violence“ (S. 75) vermieden werden – denn, wie Klier richtig schreibt, die Pogrome waren „extraordinary events, not a regular feature of East European life” (S. 58). Somit stellt Kliers Buch einen wichtigen Ausgangspunkt für weitere Forschungen dar, zumal die im Anhang angefügte, umfangreiche und sorgfältig mit Archiverweisen belegte Zeitleiste jedem, der sich mit den Ausschreitungen von 1881-82 beschäftigt, eine unschätzbare Hilfe bietet.

Ein besonderer Verdienst Kliers ist, dass er die Pogrome von 1881-82 unter Einbeziehung aller Akteursgruppen und ihrer jeweiligen Handlungsoptionen beschreibt. Insbesondere im Fall der zarischen Regierungsrepräsentanten zeigt er eindrücklich, dass es sich bei ihren Entscheidungen für eine von mehreren Handlungsoptionen nicht um durch Willkür und irrationale Judenfeindschaft begründete Akte handelte, sondern dass ihnen eine Logik innewohnte, die aus der Überzeugung erwuchs, die Bauern vor den Juden schützen zu müssen.

Anmerkungen:
1 John Doyle Klier, Russia Gathers her Jews. The origins of the “Jewish question” in Russia. 1772–1825, Cambridge 1986.
2 John Doyle Klier, Imperial Russia’s Jewish question. 1855–1881, Cambridge 1995.
3 I. Michael Aronson, Troubled Waters. The Origins of the 1881 Anti-Jewish Pogroms in Russia, Pittsburgh 1990.
4 Jonathan Frankel, The Crisis of 1881–1882 as a Turning Point in Modern Jewish History, in: Berger, David (Hrsg.), The Legacy of Jewish Migration. 1881 and Its Impact, New York 1983, S. 9–22.
5 Hans Rogger, Jewish Policies and Right-Wing Politics in Imperial Russia, London 1986.

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