U. Frietsch u.a. (Hrsg.): Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens

Cover
Titel
Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens. Ein Handwörterbuch


Herausgeber
Frietsch, Ute; Rogge, Jörg
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Engelschalt, Universität Bielefeld, Center for InterAmerican Studies

Im deutschsprachigen Raum hat die Selbstreflexion der Kulturwissenschaften in Form fachspezifischer Handbücher eine bislang recht überschaubare Tradition. Als Standardwerk kann das von Friedrich Jäger und Jörn Rüsen herausgegebene, dreibändige Handbuch der Kulturwissenschaften aus dem Jahr 2004 gelten, das mit Reflexionen namhafter Autor/innen zu Grundlagen und Schlüsselbegriffen (Band 1), Paradigmen und Disziplinen (Band 2) sowie Themen und Tendenzen (Band 3) eine Reihe wesentlicher Aspekte kulturwissenschaftlicher Selbstreflexion abzudecken vermag.1 Darüber hinaus liegt inzwischen eine Reihe wertvoller Publikationen zu Grundlagen, Theorien und Methoden der Kulturwissenschaften vor, deren Beitrag zu einer Historiographie der Kulturwissenschaften nicht unterschätzt werden sollte.2

Weitgehend unterbelichtet oder lediglich angedeutet blieb hingegen bislang die Frage nach den Spezifika kulturwissenschaftlichen Forschens als Praxis. „Gibt es einen kulturwissenschaftlichen Habitus?“, lautet konsequenterweise die Ausgangsfrage des am Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz angesiedelten Projekts „Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens“, dessen Ergebnis im Jahr 2013 in Form eines gleichnamigen Handwörterbuchs erschienen ist. In insgesamt 84 Artikeln reflektieren 62 Kulturwissenschaftler/innen über die „konkrete Praxis und die Bedingungen“ (S. vii) ihres Fachs. Und auch bei der Zusammenstellung des Autor/innenkollektivs geht das Projekt um Ute Frietsch und Jörg Rogge neue Wege; hier schreiben nämlich nicht ausschließlich Koryphäen eines vorgeblich einheitlichen Fachs „Kulturwissenschaft“, sondern eine bunte Auswahl von Forscher/innen verschiedener kulturwissenschaftlicher Fächer aus unterschiedlichen akademischen Statusgruppen kommt zu Wort. Dieser Ansatz ist bewusst gewählt, geht es doch darum, aufzuzeigen, „wie sich kulturwissenschaftliches Arbeiten heute aus der Perspektive von Akteurinnen und Akteuren institutionell vollzieht, in welchen praktischen Traditionen es steht und wie die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen wahrgenommen werden“ (S. 2).

Die Auswahl der Schlüsselbegriffe, die Eingang ins Wörterbuch gefunden haben, orientiert sich an drei einander überlappenden und ergänzenden Themenbereichen: „Wissen und akademische Praktiken; Medien, Materialien und Stil; sowie Räume, Verkörperungen und performative Prozesse“ (S. 2). Die alphabetische Anordnung der Lemmata – von „Abbildung“ bis „Zitieren“ – ermöglicht nicht nur eine einfache Handhabung des Wörterbuchs, sondern unterstreicht ebenfalls den Anspruch, den Leser/innen keine Hierarchisierung durch die Anordnung nach Themenbereichen oder Subdisziplinen vorzugeben. Und auch die innere Struktur der einzelnen Artikel folgt einem klar erkennbaren Schema: Auf eine knappe Definition folgen eine historische Herleitung des jeweiligen Begriffs, ein Abriss bzw. eine Diskussion des Forschungsstands, ein Anwendungsbeispiel, gegebenenfalls einige kurze Bemerkungen zu weiteren gängigen Verwendungsweisen und schließlich eine Reihe von Literaturhinweisen.

Dass diese Grundstruktur von den Autor/innen durchaus flexibel gehandhabt wird, zeigt sich beispielhaft an Ute Schneiders Artikel zum Lemma „Rezension“ (S. 346–351), in dem sie der puren Begriffsdefinition einige weitere Überlegungen zu Funktionen und Leistungen dieser Textgattung hinzufügt, bevor sie ihre Tradition seit dem Aufkommen erster wissenschaftlicher Zeitschriften beschreibt. Ebenfalls in Abweichung von der ursprünglich vorgestellten Gliederung bietet der Artikel darüber hinaus einige knappe Bemerkungen zu den durch aktuelle medientechnische und wissenschaftliche Entwicklungen hervorgerufenen Umbrüchen in der Verbreitung und Verwendung von Rezensionen. Angesichts dieses Beispiels zeigt sich die Schwierigkeit, jedes Lemma eineindeutig unter die drei thematischen Säulen zu subsumieren – schließlich hat die Rezension unbestreitbar einem gewissen Stil zu genügen und wird innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft medial transportiert; zugleich stellt sie ebenso unzweifelhaft eine Form wissenschaftlichen Wissens und letztlich eine Handlungsform dar, durch die sich (nicht nur die Kultur-)Wissenschaft selbst definiert und stabilisiert.

Zu einer ähnlichen Einschätzung dürfte gelangen, wer den Artikel von Achim Landwehr zum Begriff des Diskurses (S. 118–122) aufschlägt; auch hier überlappen sich bereits im Versuch einer Herleitung des Begriffs aus seinem Gebrauch in der römischen Antike stilistische Fragen mit solchen der Praxis, bevor sich im historischen Teil des Beitrags der Bogen zur in den Kulturwissenschaften gängigeren Verwendung des Diskursbegriffs nach Habermas, Lyotard und, selbstverständlich, Foucault spannt. Die Knappheit des Fallbeispiels – Michel de Certeaus Analyse des Blattes Papier – deutet denn auch auf die Schwierigkeit hin, auf jeden der im Wörterbuch präsenten Begriffe in gleicher Länge bzw. Kürze adäquat einzugehen. Umso dankbarer dürften Leser/innen auf die insbesondere für die Geschichtswissenschaften sehr brauchbare Bibliographie am Ende des Artikels zurückgreifen, um sich in die Materie zu vertiefen.

Anhand eines dritten und letzten Beitrags von Christine Hikel zur „Café/teria“ (S. 80–83) wird schließlich offenbar, dass kulturwissenschaftliche Selbstreferentialität durchaus nicht als Selbstgenügsamkeit zu verstehen ist. Die Definition des Ortes „Café/teria“ fällt verständlicherweise knapp aus, und auch seine Geschichte lässt sich – zumindest auf den europäischen Raum bezogen – relativ schlicht nachzeichnen. Was dieser Beitrag jedoch leistet, ist die Umlenkung des Leser/innenblicks vom Café als Alltagsort hin zur Cafeteria als sozialem Raum, in dem und durch den akademisches Denken und Handeln stattfindet und letztlich katalysiert werden kann (man denke nur an die von der Autorin selbst angeführte Kaffeehauskultur, aber auch an die ebenfalls erwähnte Veränderung des Cafés durch die Einführung des „Coffee to go“). Auf diese Weise wird hier, ganz in kulturwissenschaftlicher Manier, durchexerziert, welche Erkenntnisse die Betrachtung scheinbar banaler Alltagsorte und -handlungen in kulturwissenschaftlicher und -historischer Hinsicht liefern kann. Dass dabei ein gewisses Augenzwinkern unter eben jenen ‚eingeweihten‘ Leser/innen nicht ausbleiben kann, dass Erinnerungen an in der Cafeteria der eigenen Alma Mater geführte Gespräche und gewonnene Einsichten aufblitzen – auch das sind Leistungen, die dieser Wörterbuch-Beitrag zu erbringen vermag.

In genau dieser Leichtigkeit der Darstellung – bedingt durch die Knappheit der Beiträge und die gelegentlich humoristisch anmutende Auswahl der Lemmata – liegt eine der großen Stärken des hier besprochenen Werks, das durchaus als Einladung zu verstehen ist, sich auf Basis des ersten Leseeindrucks weiter mit dem einen oder anderen Begriff, seiner Geschichte und seiner Verwendung in der Forschungsliteratur zu beschäftigen. Damit kann „Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens“ definitiv als Hilfsmittel für Einsteiger/innen in kulturwissenschaftliche Fächer fungieren. Darüber hinaus macht der dezidiert praxeologische Ansatz des Wörterbuch-Projekts den Band jedoch auch für bereits im Fach etablierte Forscher/innen attraktiv, die sich dem einen oder anderen practical oder material turn verschrieben haben und vielleicht neue Zugangsweisen zu und Zusammenhänge zwischen bewährten Begrifflichkeiten suchen. Der angesichts der Kürze der Beiträge unausweichliche skizzenhafte Charakter der Texte mag oberflächlich anmuten; bei näherem Hinsehen entpuppen sich jedoch die bibliographischen Angaben am Ende der Einzelbeiträge wie auch die Bibliographie am Ende des Bandes als Fundgruben für historisch arbeitende Kulturwissenschaftler/innen.

Anmerkungen:
1 Friedrich Jäger / Jörn Rüsen (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Stuttgart 2004.
2 So zum Beispiel Aleida Assmann, Einführung in die Kulturwissenschaft. Grundbegriffe, Themen, Fragestellungen, Berlin 2006; Andreas Reckwitz, Die Transformation der Kulturtheorien, Weilerswist 2000; oder auch Jan Kusber / Mechthild Dreyer / Jörg Rogge (Hrsg.), Historische Kulturwissenschaften: Positionen, Praktiken und Perspektiven, Bielefeld 2010.

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