B. Horowitz: Russian Idea – Jewish Presence

Cover
Titel
Russian Idea – Jewish Presence. Essays on Russian-Jewish Intellectual Life


Autor(en)
Horowitz, Brian
Erschienen
Brighton, MA 2013: Academic Studies Press
Anzahl Seiten
307 S.
Preis
$59.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anke Hilbrenner, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Die jüdische neue Kulturgeschichte hat vor allem in den letzten Jahren wesentlich zum Verständnis der Geschichte des russischen Vielvölkerreiches beigetragen. Ein Beispiel dafür ist etwa Jeffrey Veidlingers „Jewish Public Culture in the Late Russian Empire“ aus dem Jahr 2009. Demgegenüber hat die Geistesgeschichte in der jüdischen Geschichtsschreibung eine lange Tradition. Bereits im 19. Jahrhundert hatte der große jüdische Meistererzähler Heinrich Graetz die Kontinuität der jüdischen Geschichte vor allem aus der Abfolge von Denkern und Gelehrten hergeleitet. Die jüdische Geschichte war nach Graetz vor allem „der Reflex einer Idee“.1 In die Tradition dieser Geistesgeschichte, und nicht so sehr als Teil der neueren Kulturgeschichte, ist der Essayband von Brian Horowitz „Russian Idea – Jewish Presence“ einzuordnen. Denn Kulturgeschichte ist bei Horowitz vor allem die Geschichte von Intellektuellen, wie dem Historiker Simon Dubnov oder dem Literaturkritiker Michail Gerschenson. Dabei berührt Horowitz die Frage nach Zugehörigkeit: Bereits im Titel verweist er auf das Spannungsfeld zwischen dem Russischen und dem Jüdischen in der russisch-jüdischen Geschichte. Dieses Thema zieht sich in unterschiedlicher Weise durch das gesamte Buch. Was ist eigentlich russisch an wichtigen Persönlichkeiten der russisch-jüdischen Geistesgeschichte? Was bedeutet dieser Begriff der „russischen Juden“ überhaupt? Immerhin hat Eli Lederhendler bereits 1995 die Frage gestellt, ob es vor 1917 überhaupt eine „russische Judenheit“ gegeben habe.2 Horowitz behandelt diese Frage nicht explizit, sondern eher anhand einer Reihe von Einzelfällen. Die Antworten auf die Frage nach dem spezifisch Russischen fallen deshalb je nach Einzelfall ganz unterschiedlich aus.

Der Sammelband besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil versammelt unter anderem Essays über unterschiedliche jüdische Persönlichkeiten, die neben ihrer Tätigkeit als Autoren meist auch in politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen im späten Russischen Zarenreich hervorgetreten sind. So wird der Historiker Simon Dubnow porträtiert, der als erster die jüdische Geschichte in der Diaspora als moderne Nationalgeschichte interpretierte und der als Gründer der Jüdischen Volkspartei den jüdischen Diaspora-Nationalisten im Russischen Reich eine politische Heimat gab. Ein weiterer Artikel widmet sich Maxim Winawer, einem der führenden Köpfe der Partei der Konstitutionellen Demokraten, der zugleich eine politische Gruppe der jüdischen Integrationisten anführte. Auch der russische Zionist Avram Idelson steht im Mittelpunkt eines Aufsatzes. Ein Text beschäftigt sich mit dem jüdischen Aufklärer Michail Morgulis und der Gesellschaft zur Verbreitung der Aufklärung unter den russischen Juden in Odessa. In weiteren Aufsätzen beleuchtet Horowitz zentrale Fragen der russländischen jüdischen Geschichte. In dem Beitrag über die Bedeutung der „Jüdischen Massen“ zeigt er, wie die Haltung der jüdischen intelligencija sich während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelte. In den 1860er-Jahren lehnten jüdische Aufklärer wie Lew Lewanda die vermeintliche rückständige Lebenswelt der Bevölkerung im jüdischen Ansiedlungsrayon ab. Im Laufe der Jahre allerdings wurde die vermeintlich authentische Lebenswelt des shtetl immer mehr zu einem Idealbild nationalen jüdischen Lebens, das schließlich durch den jüdischen Ethnographen Salomon An-Sky musealiert wurde.

Der Aufsatz „Both Crisis and Continuity“ thematisiert eine anhaltende Diskussion innerhalb der jüdischen Historiographie. Der jüdische Historiker Jonathan Frankel hat die Krise zum bedeutenden Strukturmerkmal der russisch-jüdischen Geschichte erklärt. Deshalb, so Frankel, wurde das Jahr 1881, in dem die Juden des Russischen Reiches Opfer von Pogromgewalt wurden, zum Wendepunkt der Russisch-Jüdischen Geschichte. Während die gebildeten Juden vor 1881 Anschluss an die Russische Kultur und Emanzipation im russischen Rahmen suchten, erstarkten nach den Pogromen die jüdischen nationalen Kräfte. Andere Historiker wie Benjamin Nathans oder Erich Haberer haben im Gegensatz zu Frankel den Blick eher auf die Kontinuitäten der jüdischen Geschichte gelenkt, die über die Krise von 1881 hinauswiesen. Horowitz macht indessen einen synthetisierenden Ansatz stark, der sowohl die Zäsur von 1881 als auch die Kontinuitäten in den Blick nimmt.

Der erste Teil der Essaysammlung untersucht also vor allem jüdische nationale Themen innerhalb der russländischen Geschichte. Der zweite Teil setzt deutlich andere Akzente. Er stellt den russischen Literaturkritiker, Historiker und Philosophen Michail Gerschenson in mehreren Essays vor. Brian Horowitz hat bereits in den 1990ern eine Dissertation über Gerschenson als wichtigen Denker des Russischen Silbernen Zeitalters vorgelegt und diesen Schwerpunkt setzt er auch in den im zweiten Teil des Buches versammelten Essays. Anders als die russischen Juden Dubnow, Winawer, Idelson oder auch Morgulis war Michail Gerschenson trotz seiner jüdischen Abstammung in erster Linie ein russischer Intellektueller. Zwar wurde er wegen seiner Herkunft von Antisemiten als jüdisch bezeichnet, auch bearbeitete er in einigen seiner Bücher jüdische Themen. Vor allem beschäftigte er sich aber mit wichtigen Fragen der russischen Kultur und beteiligte sich an den zentralen Debatten der russländischen intelligencija. Sein bedeutendster Beitrag war vielleicht die Idee zu dem Sammelband „Vechi“ (russisch für „Wegzeichen“), den er schließlich im Jahr 1909 gemeinsam mit Petr Struve herausgab. Die „Vechi“ waren in den Jahren zwischen den Revolutionen die geistesgeschichtliche Sensation im Russischen Reich. Ihre Autoren stellten sich der Verantwortung für das Scheitern der Revolution. Damit setzten sie sich zwischen alle Stühle und wurden heftig kritisiert, zeigten aber auch, dass tatsächlich ein Raum für öffentliche Debatten entstanden war.3

Horowitz zeichnet in seinem Beitrag über die „Vechi“ die Kontroversen zwischen den beiden Herausgebern, Struve und Gerschenson, nach und macht deutlich, wem welche Verdienste für dieses „Jahrhundertbuch“ zukommen. Damit räumt er Gerschenson, dessen Verdienste stets im Vergleich zu Struve ein wenig im Hintergrund bleiben, einen wichtigen Platz in der Rezeptionsgeschichte der „Vechi“ ein.

Ein weiterer bedeutender Debattenbeitrag Gerschensons, der bereits in die Zeit nach der Oktoberrevolution fiel, war der 1921 erschienene „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“, die Korrespondenz zwischen Gerschenson und Wjatscheslaw Iwanow, die sich in der „Moskauer Heilanstalt für Wissenschafts- und Literaturarbeiter“ im Jahr 1920 ein Zimmer geteilt hatten. Ihr Briefwechsel wurde als Zeugnis für die Reaktion der russischen intelligencija auf die revolutionären Ereignisse wahrgenommen. Ebenso wie die „Vechi“ meist mit dem Namen Petr Struve verbunden werden, so wird auch der „Briefwechsel zwischen zwei Zimmerwinkeln“ häufig vor allem als Werk des großen Poeten Wjatscheslaw Iwanow gelesen. Auch hier gebührt also Horowitz das Verdienst, Gerschensons Perspektive auf die Ereignisse und seine Beiträge zum Buch in den Vordergrund zu rücken.

Die meisten der Artikel, die Brian Horowitz in dem Essayband versammelt hat, sind bereits zuvor an anderer Stelle erschienen, einige davon allerdings in deutscher, russischer oder hebräischer Sprache. Vier Aufsätze sind in dem Band zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich, drei davon beschäftigen sich mit Gerschenson. Die beiden Teile des Bandes sind für sich verdienstvoll, fallen aber weit auseinander. Während die Persönlichkeiten und Themen, die im ersten Teil des Buches verhandelt werden, sehr deutlich der jüdischen Politik oder der jüdischen Wissenschaft im Russischen Reich zuzuordnen sind, ist die Frage, was an Gerschensons literarischem und philosophischen Wirken jüdisch war, ungleich schwerer zu beantworten. Gerschenson war z.B. kein Historiker des jüdischen Volkes wie Dubnow, sondern er beschäftigte sich mit der Geschichte des slawophilen Denkens. Er „universalisierte“ den Zugriff auf diese Denker aber und weigerte sich, zum Christentum zu konvertieren. Deshalb wurde er als Jude zur Projektionsfläche des großrussischen Chauvinismus (S. 13).

Brian Horowitz‘„Russian Idea – Jewish Presence“ ist eine Sammlung von Beiträgen zu den unterschiedlichsten jüdischen Persönlichkeiten und Themen im Russländischen Vielvölkerreich. Es ist stark von einem traditionell geistesgeschichtlichen Zugang inspiriert, der sich vor allem an wichtigen Texten und Persönlichkeiten bzw. ihren Schriften orientiert. Er ermöglicht einen guten Zugang zu den einzelnen angesprochenen Personen, Institutionen, Texten und Themen. Er erlaubt aber keinen Gesamtzugriff auf die komplexe Geschichte der Russischen Juden vor 1917 – möglicherweise ist das aber auch mehr, als ein Essayband leisten kann.

Anmerkungen:
1 Heinrich Graetz, Die Konstruktion der jüdischen Geschichte. Eine Skizze, Berlin 1846, S. 9.
2 Eli Lederhendler, Did Russian Jewry exist prior to 1917?, in: Yaacov Ro’i (Hrsg.), Jews and Jewish Life in Russia and the Soviet Union, Portland 1995, S. 15–27.
3 Karl Schlögel, Grenzland Europa. Unterwegs auf einem neuen Kontinent, München 2013, S. 244–249

Redaktion
Veröffentlicht am
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension