Forschungen zur figurativen Poesie

Kwapisz, Jan; Petrain, David; Szymański, Mikołaj (Hrsg.): The Muse at Play. Riddles and Wordplay in Greek and Latin Poetry. Berlin 2013 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-027000-6 IX, 420 S. € 109,95

Ernst, Ulrich; Ehlen, Oliver; Gramatzki, Susanne (Hrsg.): Visuelle Poesie. Historische Dokumentation theoretischer Zeugnisse. Band 1: Von der Antike bis zum Barock. Berlin 2012 : de Gruyter, ISBN 978-3-11-019646-7 VIII, 965 S. € 149,95

: The Greek Figure Poems. . Leuven 2013 : Peeters Publishers, ISBN 978-90-429-2745-2 X, 219 S. € 56,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Wienand, Historisches Seminar III, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf

Eine Dissertation (und zugleich eine kritische Textedition), ein Tagungsband und ein Quellenreader – so unterschiedlich die wissenschaftlichen Genera der drei Werke sind, die hier besprochen werden: sie eint die Auseinandersetzung mit einem Grenzbereich der antiken Literatur, in dem Dichtung in figurative Kunst übergeht – formal im Sinne der visuellen Poesie oder semantisch als Sprach- und Wortspielerei. Lange Zeit wurden solch „hirnverbrannte Versspielereien“, so Helm zu den Figurengedichten des Optatianus Porfyrius1, marginalisiert oder auch ganz offen verachtet. Erst seit den 1970er-Jahren lässt sich eine breitere Tendenz der Forschung erkennen, die ästhetische Qualität der antiken Figurendichtung unvoreingenommen zu studieren. Die neuesten Studien, von denen drei Meilensteine hier diskutiert werden sollen, zeugen von einer neuen Stufe der Auseinandersetzung, die auf eine umfassende Durchdringung der spezifischen Ästhetik von figurativer und enigmatischer Poesie, ihrer Gattungskonventionen und Gattungsentwicklung sowie ihrer historischen Kontexte abzielt.

Seit über zwanzig Jahren erforscht Ulrich Ernst, emeritierter Literaturwissenschaftler an der Bergischen Universität Wuppertal, Form, Entwicklung und Bedeutung der visuellen Poesie in epochen- und kulturübergreifender Perspektive. Bereits 1991 hat Ernst im Böhlau Verlag das monumentale Opus „Carmen figuratum“ vorgelegt2, mit dem die randständige Literaturgattung von ihren Ursprüngen in ägyptischen Hymnen und minoischen Inschriften bis zu den Figurengedichten des hohen und späten Mittelalters erstmals systematisch und umfassend literaturwissenschaftlich aufgearbeitet wurde. Seither hat sich Ernst in zahlreichen Aufsätzen mit den unterschiedlichsten Aspekten der figurativen Dichtung befasst und auch als Leiter der Forschungsstelle Visuelle Poesie wichtige Impulse gesetzt. Nun ist von ihm (in Verbindung mit Oliver Ehlen und Susanne Gramatzki) der erste Band zu einer umfangreichen zweibändigen Dokumentation der Theoriebildung der visuellen Poesie erschienen, publiziert vom de Gruyter Verlag (Berlin). Der erste Band widmet sich der Entwicklung von der Antike bis zum Barock, der zweite, aktuell im Druck befindliche Band befasst sich mit der Zeit vom 18. Jahrhundert bis heute.

Sinn und Zweck des Werkes bestimmt Ernst wie folgt: „Ziel war ein Korpus literar-ästhetischer Äußerungen zu Prinzipien und Formen poetischer Bild-Text-Komposition von der Antike bis zur Moderne als Beitrag zu einer durch historische Quellen fundierten Theoriegeschichte der Visuellen Poesie“ (S. V). Zunächst und vor allem sollen also die Zeugnisse selbst zusammengestellt und eingeordnet werden. Ernst und seine Mitarbeiter haben hierzu eine beachtliche Quellensammlung zusammengetragen, in der nicht nur die fraglichen poetischen Erzeugnisse, sondern etwa auch begleitende Scholien und Briefe berücksichtigt werden, sofern sie zur Erhellung der Frage nach der historischen Theoretisierung der visuellen Poesie beitragen. Die Dokumentation ist in 21 chronologisch arrangierte Kapitel aufgebaut, die jeweils einem Autor gewidmet sind und insgesamt zu drei großen Abschnitten zusammengefasst werden: Der erste Abschnitt widmet sich der Antike und Spätantike (mit Werken von Simias von Rhodos, Publilius Optatianus Porfyrius, Decimus Magnus Ausonius und Venantius Fortunatus), der zweite Abschnitt dem Mittelalter (Hrabanus Maurus, Hincmar von Reims, Eustathios von Thessalonike, Nicolò de’ Rossi, Christian von Lilienfeld, Iacobus Nicholai de Dacia), der dritte Abschnitt der Frühen Neuzeit (Iulius Caesar Scaliger, Richard Wills, Michel Eyquem de Montaigne, Blaise de Vigenère, Étienne Tabourot, George Puttenham, Balthassar Bonifacio, Johann Heinrich Alsted, Emanuele Tesauro, Juan Caramuel y Lobkowitz und Paschasius). Jeder Abschnitt wird eigens eingeleitet, und jedes Kapitel wird von einem einleitenden Kurzüberblick zu Autor und Werk und von einem Resümee mit Literaturhinweisen gerahmt. Einleitungen, Resümees und Literaturhinweise sind knapp gehalten und dienen nur der ersten Orientierung. Zur Vertiefung bleibt der Leser also weiterhin auf Ernsts „Carmen figuratum“ und sonstige Forschungsliteratur angewiesen, was dem primär als Materialsammlung konzipierten (und ohnehin schon umfangreichen) Werk aber keinen Abbruch tut.

Die Zeugnisse selbst sind fast durchgängig in Originalsprache mit deutscher Übersetzung wiedergegeben, wobei die weitaus meisten Übersetzungen eigens für dieses Werk angefertigt wurden. In einigen Fällen lehnen sich die neuen an bestehende Übersetzungen an, teilweise werden hier aber überhaupt erstmals deutsche Übersetzungen vorgelegt. Die Originaltexte werden jeweils ohne Testimonia und kritischen Apparat aus den gängigen Standardeditionen übernommen, die Übersetzungen werden dann je nach Bedarf mehr oder weniger intensiv durch entsprechende Fußnoten erläutert. Um der Leserschaft auch die visuelle Qualität der verzeichneten Texte nahezubringen, wurde eine hohe Zahl an Umzeichnungen, schematischen Darstellungen und Abbildungen aus mittelalterlichen Codizes wie frühneuzeitlichen Drucken eingebunden, die in der Regel eine einigermaßen gute Qualität aufweisen, aber leider auch dort nur in schwarz-weiß wiedergegeben werden, wo die Farbigkeit einen elementaren Bestandteil des poetischen Konzeptes darstellt und von Ernst auch explizit als eigenständige „Farbästhetik“ diskutiert wird (etwa bei den polychromen carmina cancellata Optatians oder den buchmalerisch ausgestalteten Kreuzgedichten des Hrabanus Maurus).

Während bei Ernst das Visuelle im Zentrum des Interesses steht, widmet sich der von Jan Kwapisz, David Petrain und Mikołaj Szymański edierte Sammelband „Muse at Play“3 dem Feld der „Sprachspielereien“ der antiken griechischen und lateinischen Literatur, ohne dass sich das Konzept der Sprachspielerei (im weitesten Sinne ist damit generell enigmatische Literatur gemeint) allerdings präzise abgrenzen ließe; die Arbeitsdefinition des Bandes ist entsprechend weit: „what […] all instances of wordplay have in common – is that they toy with the boundaries of language, skating along ist periphery without, crucially, quite going beyond (into the realm of nonsense or gibberish)“ (S. 3). Ebenso divers sind die kulturellen Kontexte, in denen sich antike Sprach- und Wortspielereien verorten lassen: Schon in den ersten drei Beiträgen, die gemeinsam den ersten Teil des Bandes bilden („Discourses of Play“), zeigt sich ein breites Spektrum unterschiedlicher gesellschaftlicher Zusammenhänge vom archaischen und klassischen Symposion über die hellenistische Komödie bis hin zu Wortspielereien in der römischer Subkultur, wie sie etwa in pompeianischen Wandkritzeleien zu greifen sind. Die zweite und mit sechs Beiträgen umfangreichste Sektion („The Ancient Riddle: Theory and Practice“) geht der Frage nach, welche linguistischen Eigenschaften griechisch-hellenistische und römische Wort- und Sprachspielereien aufweisen, welche Kompositionstechniken zu Grunde liegen, welches Verständnis von Rätselhaftigkeit und welche entsprechenden Lösungsstrategien sich in der Antike greifen lassen.

Im dritten Teil („Visual Poetry in the Text and on the Stone“) widmen sich vier Beiträge dem ästhetischen Grenzbereich zwischen literarischen und visuellen Ausdrucksformen und untersuchen optische Verfahren wie Kalligramme, Akrosticha und Konturgedichte bzw. technopaignia und carmina figurata, wobei speziell auch epigrafische Zeugnisse berücksichtigt werden. Die drei Beiträge des vierten Teils („Case Studies“) untersuchen dann in Form detaillierter Einzelanalysen ausgewählte Fallbeispiele aus hellenistisch-römischer Zeit und Spätantike. Die beiden letzten Beiträge, die den fünften Teil („Playful Receptions“) des Bandes bilden, befassen sich anhand ausgewählter Beispiele mit dem Nachleben antiker Rätseldichtung bzw. antiker Wort- und Sprachspielereien in der literarischen Kultur der frühen Neuzeit. Insgesamt zeugt der mit viel Sachverstand zusammengestellte und sorgfältig redigierte Band nicht nur davon, wie überraschend vielschichtig der antike Phänomenkomplex enigmatischer und figurativer Sprache und Literatur ist, er erweist auch das hohe literaturwissenschaftliche Niveau, das die wissenschaftliche Durchdringung dieser randständigen und lange vernachlässigten Gattungen inzwischen erreicht hat. Für die weitere Auseinandersetzung mit dem Feld antiker Rätselliteratur werden sich zudem die durchweg gut recherchierten Bibliografien der Einzelbeiträge als überaus hilfreich erweisen.

Abschließend soll ein Blick auf die Monografie „The Greek Figure Poems“ geworfen werden – die überarbeitete Fassung einer philologischen Doktorarbeit, mit der Jan Kwapisz (einer der Herausgeber des soeben diskutierten Tagungsbandes) im Jahr 2009 in Warschau promoviert wurde; die Arbeit ist unter der Supervision von Mikołaj Smymański entstanden (ebenfalls Mitherausgeber des rezensierten Sammelbandes). Mit seiner Arbeit hat Kwapisz eine kritische Edition mit englischen Übersetzungen und ausführlichem philologisch-historischem Kommentar zu den sechs griechischen Technopaignia vorgelegt, die sich in der Anthologia Palatina und den bukolischen Theokrit-Manuskripten überliefert haben; konkret handelt es sich um die Figurengedichte in Form einer Axt, eines Flügel und eines Eis des Simias von Rhodos, der Syrinx des Ps.-Theokrit und der beiden Altäre von Dosiadas („Dorischer Altar“) und Iulius Vestinus („Ionischer Altar“).

Kwapiszs Edition stellt die erste kritische Edition aller sechs griechischen Technopaignia seit Haeberlin 1887 dar und weist durch ihre ausführliche Kommentierung einen hohen Wert für die Erforschung der hellenistischen Technopaignia auf. Zu jedem einzelnen Gedicht werden die Überlieferungslage dargelegt und ein kritischer Text mit Apparat und englischer Übersetzung geboten; der entsprechende Kommentar bietet dann in einer Einleitung zunächst eine historisch-philologische Verortung nebst einem Überblick zur Struktur des Gedichtes, ferner solide recherchierte Literaturverweise auf Übersetzungen und Forschungsdiskussionen (sofern nicht älter als Haeberlins Edition) und einen ausführlichen Kommentar. Die Scholien werden nicht systematisch ediert und kommentiert, finden in der Kommentierung aber Berücksichtigung, sofern dem Autor dies sinnvoll erschien. Bei der Erstellung des kritischen Textes hat Kwapisz nicht alle Manuskripte berücksichtigt4, er hat aber, wie er auf Seite 8 schreibt, einige der wichtigen bukolischen Manuskripte studiert und auf die Anthologia Palatina besondere Aufmerksamkeit gelegt.

Kwapisz versteht seine Edition als Beitrag zur Erforschung der alexandrinischen Dichtung. In seiner allgemeinen Einleitung, speziell im Abschnitt zu den Ursprüngen der Gattung, rekonstruiert er entsprechend sorgfältig das literarische und kulturelle Biotop, aus dem die frühesten Figurendichtungen hervorgingen: Im späten 4. und vor allem im 3. vorchristlichen Jahrhundert, einem Umfeld blühender literarischer Kultur, stellt sich – wie Kwapisz überzeugend herausarbeitet – das Figurengedicht als Resultat einer Gemengelage aus Einflüssen der epigrafischen Kultur, metrischer Innovationen, Wort- und Sprachspielereien, dem Umfeld des Symposions und spielerischen Tendenzen der alexandrinischen Dichtung dar. Auch wenn die Ursprünge der Gattung und selbst die Autorschaft einzelner Gedichte teils im Dunkel liegen und damit eine gewisse Vorstellungskraft des Forschers gefragt ist, arbeitet Kwapisz stets mit einer gesunden Skepsis gegenüber voreiliger Hypothesenbildung und beweist Gespür für die jeweiligen literarisch-historischen Zusammenhänge.

In einigen Überlegungen muss man Kwapisz vielleicht nicht folgen, etwa wenn er in den Versen 22 bis 26 ein „polemical stance toward the Doric Altar in Vestinus’ poem“ zu erkennen meint (S. 28 u. 189) oder wenn Dosiadas mit Munatius von Tralles identifiziert und das Gedicht entsprechend in die Zeit des Herodes Atticus datiert wird (S. 26–29). Was es für die Gattung insgesamt bedeutet, wenn sich der „Ionische Altar“ als erstes Figurengedicht direkt an einen Herrscher (nämlich Hadrian) richtet, hätte noch etwas detaillierter herausgearbeitet werden können, auch mit Blick auf die Frage nach den Milieus, aus denen die Dichtung hervorgegangen ist. In Spätantike und Mittelalter zeigt sich dann jedenfalls deutlich, dass gerade die figurative Dichtkunst einen geeigneten Bezugspunkt für die Begegnung von Poet und Herrscher bietet und dass dabei das Erbe der hellenistisch-römischen Gattungstradition immer wieder aufs Neue evoziert wird. Den Gesamteindruck der Edition als einer solide ausgearbeiteten und wertvollen Grundlage für die weitere Forschung schränkt dies allerdings nicht ein.

Zusammengenommen bieten die drei besprochenen Werke einen Querschnitt durch die aktuelle Forschung zur figurativen Poesie. Klar erkennbar ist, dass sich ein zunehmend dynamisches Forschungsfeld innerhalb der Philologie nicht mehr von den ästhetischen Vorbehalten gegen die randständigen Gattungen irritieren lässt und sich auf hohem Niveau mit den lange vernachlässigten Grenzbereichen der klassischen Literatur und mit den Schnittstellen zwischen literarischen und visuellen Ausdrucksformen befasst. Die diskutierten Studien zeigen aber zugleich, dass das Terrain noch weitgehend von literaturwissenschaftlichen Fragestellungen zur Kompositionstechnik und Ästhetik figurativer Dichtkunst, zur Gattungsentwicklung oder zum literarischen Umfeld dominiert wird. Im Bereich einer grundsätzlich intermedial angelegten Ausdrucksform wie dem Figurengedicht bietet es sich sicherlich an, in stärkerem Maße noch die kunstwissenschaftliche Perspektive zu integrieren, um das schillernde Wechselspiel zwischen den unterschiedlichen Gestaltungs- und Rezeptionsebenen überzeugend erfassen zu können. Auch sollte sich das Spektrum genuin historischer Fragestellungen nach der gesellschaftlichen Bedeutung figurativer Dichtkunst nicht auf die literarischen Biotope beschränken, aus denen die fraglichen Kunstformen emergieren. Speziell zur Spätantike stellt sich die Frage, welche Bedeutung der Wort- und Sprachspielerei einerseits und der figurativen Poesie andererseits als Strategie elitärer Distinktion zukommt; zudem konnte sich schon früh eine deutliche Nähe zur höfischen Sphäre und später auch zur Kirche ausbilden: die Gründe hierfür, die Funktionalität der Dichtung als Medium der Interaktion zwischen Poet und Souverän, die Bedeutung der Kunstform für imperiale und religiöse Repräsentation und schließlich auch die Rückwirkungen dieser Entwicklungen auf die literarische Gattung sind noch immer nicht hinreichend erforscht.

Anmerkungen:
1 Rudolf Helm, Art. „Publilius (29) Optatianus Porfyrius“, in: RE XXIII 2 (1959), Sp. 1928–1936, hier Sp. 1928.
2 Ulrich Ernst, Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln 1991.
3 Der Band ging aus einer Konferenz zum Thema „MOUSA PAIZEI. Greek and Latin Technopaegnia, Riddles, Acrostics, Poetic Puns, Metrical Curiosities etc.“ hervor, die im Jahr 2011 in Warschau gehalten wurde.
4 Kwapisz (S. 8) verweist aber auf die Arbeit von Silvia Strodel, Zur Überlieferung und zum Verständnis der hellenistischen Technopaignien, Frankfurt a.M. 2002 („… as the full collation was recently made by Strodel“).

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