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Titel
Europas Einigung. Eine unvollendete Geschichte


Autor(en)
Loth, Wilfried
Erschienen
Frankfurt am Main 2014: Campus Verlag
Anzahl Seiten
512 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexander Reinfeldt, Historisches Seminar, Universität Hamburg

Ausgehend von seinem bewährten „Modell der vier Antriebskräfte“ des europäischen Integrationsprozesses1 erzählt Wilfried Loth in der vorliegenden Gesamtdarstellung die Geschichte von Europas Einigung seit dem Ende der 1940er-Jahre bis in die jüngste Gegenwart. Es waren diese vier Antriebskräfte: das übergeordnete Motiv der Friedenssicherung in Europa, die Lösung der deutschen Frage, die ökonomische Notwendigkeit eines größeren europäischen Marktes und das Streben nach Selbstbehauptung Europas in der bipolaren Welt des Kalten Krieges, die in jeweils unterschiedlicher Intensität und mit teils unterschiedlicher Wirkungsrichtung die Entwicklung der europäischen Einigung in diesem Zeitraum bestimmten und noch immer bestimmen. Denn schon mit der Wahl seines Untertitels „Eine unvollendete Geschichte“ macht Loth deutlich, dass der Gegenstand seiner Betrachtung nicht abgeschlossen, sondern in Bewegung ist – und zwar in zunehmendem Maße je näher die Darstellung an die Gegenwart heranreicht und mit zunehmend offenem Ausgang.

Loths Darstellung basiert wie auch andere Gesamtdarstellungen zur Geschichte der europäischen Integration auf einer Synthese einschlägiger zeithistorischer Spezialstudien, nicht wenige davon auch aus der Feder von Loth selbst. So ist das vorliegende Werk nicht nur die Fortschreibung von Loths „Der Weg nach Europa“2, sondern auch eine Bilanz der umfassenden Forschungstätigkeit Loths auf diesem Gebiet. Gerade für die Zeit nach den 1970er-Jahren stützt sich Loth darüber hinaus auf bislang nur in Ansätzen durch die zeithistorische Forschung erschlossene Archivbestände – überwiegend aus französischen sowie aus deutschen und britischen staatlichen Archiven bzw. den Archiven europäischer Institutionen –, Nachlässe, Memoirenliteratur und zeitgenössische Publikationen sowie auf einige Interviews mit ehemaligen Protagonisten des europäischen Einigungsprozesses.

Der Band ist in acht etwa gleich lange Kapitel gegliedert, die chronologisch den Zeitraum von 1948 bis 2012 umfassen. Im Anhang finden sich neben dem Anmerkungsapparat, dem Quellen- und Literaturverzeichnis, dem Abkürzungsverzeichnis sowie dem Personen- und Sachregister tabellarische Angaben zu den Fraktionsstärken im Europäischen Parlament von 1979 bis 2014 bzw. zu dessen Präsidenten sowie eine Liste der Präsidenten der Hohen Behörde der EGKS und der Kommissionen. Entsprechend der „auf die Regierungen und die bürokratisch-ministeriellen Eliten konzentrierte[n] Konstruktion“ (S. 74) der Europäischen Gemeinschaften liegt auch der Schwerpunkt von Loths Darstellung eindeutig auf den politischen Ereignissen, auf den gegenstandsspezifischen internationalen bzw. transnationalen Zusammenkünften, Konferenzen und Ausschusssitzungen, auf Regierungshandeln und (wirtschafts-)politischen Entscheidungsprozessen, die den institutionalisierten europäischen Einigungsprozess maßgeblich beeinflusst haben. Auch einzelne Persönlichkeiten sind als handelnde Akteure für Loth in ihrer Bedeutung für den Verlauf der europäischen Einigung zentral. Diese Betonung des Einflusses einzelner Persönlichkeiten resultiert bei Loth aus der von ihm schon mehrfach konstatierten „Diskrepanz zwischen gewünschtem und machbarem Europa“ (S. 418), der Diskrepanz also zwischen einem prinzipiellen und abstrakten Bekenntnis der Bürger zu „Europa“, bei gleichzeitig fehlender Unterstützung für das europapolitisch konkret jeweils Erreichbare. Eine solche Konstellation erhöhe den strukturellen Einfluss einzelner Entscheidungsträger auf den europäischen Integrationsprozess. Dabei sind es bei Loth nicht nur die nationalen Akteure, denen eine maßgebliche Rolle zukam; denn schon früh habe sich gezeigt, „dass die europäischen Institutionen Zwänge auf die beteiligten Regierungen ausübten, denen sie sich nicht entziehen konnten“ (S. 120). Und noch etwas wird bei der Lektüre deutlich: Es waren häufig die Krisen des europäischen Integrationsprozesses, die die Entwicklung der europäischen Einigung und ihrer Institutionen vorangetrieben haben – eine nicht gänzlich neue Erkenntnis, die aber gerade heute eine gesteigerte Relevanz hat, worauf auch Loth hinweist.

Gerade für die bislang weniger intensiv erforschte Phase der europäischen Integration seit Mitte der 1970er-Jahre kommt Loth zu einigen interessanten Einschätzungen. So schließt sich Loth neueren Interpretationen der Jahre zwischen 1976 bis 1984 an, die auch er als „Jahre der Konsolidierung“ bezeichnet, in denen innerhalb der EG nicht mehr über das „Ob“, sondern nur noch über das „Wie“ der Errichtung einer wirtschaftlich und politisch integrierten Europäischen Union gerungen wurde (vgl. S. 212f.). Auch macht er deutlich, wie sich das Konzept von der „Zivilmacht Europa“ infolge der Süderweiterung der Europäischen Gemeinschaft entwickelte sowie deren Wahrnehmung „als eines internationalen Akteurs, der nicht durch die Verfügung über militärische Machtmittel Einfluss ausübte, sondern durch die Kombination einer attraktiven Zivilisation mit gezieltem Einsatz ihrer wirtschaftlichen Mittel“ (S. 238). Darüber hinaus habe sich das integrierte Europa sukzessive zu einer „Wertegemeinschaft“ (S. 420) entwickelt. Loth arbeitet des Weiteren klar heraus, dass die im Vertrag von Maastricht fixierte Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion keine bloße Vorbedingung für eine deutsche Wiedervereinigung war, wenngleich das sich abzeichnende Ende der deutschen Teilung entscheidende Impulse setzte, das seit Mitte der 1980er-Jahre forciert vorangetriebene Projekt dann auch umzusetzen. In der Frage der Erfüllung der Kriterien für den Beitritt Griechenlands zur Währungsunion erinnert Loth noch einmal daran, dass politische Überlegungen seinerzeit bestehende „Zweifel an der Solidität der griechischen Zahlen“ (S. 323) überlagerten.

Auf die Fülle der von Loth souverän und anschaulich dargestellten Entwicklungsschritte der europäischen Einigung ist hier im Einzelnen nicht weiter einzugehen. Stattdessen sei auf einige allgemeinere Aspekte hingewiesen: Gerade in den Anfangskapiteln betont Loth die Kontinuitäten und Verbindungslinien der europäischen Einigungsidee in die Zwischenkriegszeit. Umso mehr stellt sich die Frage nach der Periodisierung der Darstellung. Indem er seine Darstellung in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre beginnen lässt, folgt Loth dann doch einer eher traditionellen Epocheneinteilung und scheint zumindest implizit gegen eine langfristige Perspektive auf die europäische Integration im 20. Jahrhundert zu argumentieren. Ähnliches lässt sich bei der Frage der regionalen Schwerpunktsetzung der Darstellung feststellen: Einerseits betont Loth ausdrücklich die gesamteuropäische Dimension der europäischen Einigung zumindest bis zum Ausbruch des Kalten Krieges. Andererseits bleibt der Kontrast mit den Entwicklungen in Osteuropa eher blass, ohne dass explizit deren Bedeutungslosigkeit für den westeuropäischen Einigungsprozess behauptet würde. Erst im Zuge der Vorgeschichte der Osterweiterung der EU in den 1990er-Jahren gerät Osteuropa wieder stärker in den Fokus der Darstellung. Eine genuin gesamteuropäische Perspektive der europäischen Einigung bleibt ein Desiderat der Forschung und vielleicht ließe sich hier an Konzepte aus der deutsch-deutschen Zeitgeschichtsforschung wie das der „asymmetrisch verflochtenen Parallelgeschichte“3 anknüpfen, um Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede systematisch herausarbeiten und in einen weiteren Interpretationszusammenhang stellen zu können. Das Verhältnis von Kaltem Krieg bzw. Ost-West-Konflikt und westeuropäischer Einigung tritt bei Loth deutlich zutage, die globalen Bezüge europäischer Integration hingegen eher weniger – auch wenn Loth in seiner aufschlussreichen Schlussbetrachtung resümierend feststellt, dass die Europäische Union den Versuch darstelle, „die zivilisatorischen Errungenschaften des demokratischen Nationalstaats unter den Bedingungen zunehmender Globalisierung zu erhalten und weiterzuentwickeln“ (S. 417). Und schließlich reicht Loths Darstellung, wie eingangs erwähnt, bis in die jüngste Vergangenheit, ohne allerdings eingehender Bezug zu nehmen auf aktuelle Diskussionen um die „neueste Zeitgeschichte“ und deren methodisch-konzeptionelle Herausforderungen für die historische Zeitgeschichtsforschung.4

Loth unterstreicht die Offenheit und den Prozesscharakter der europäischen Einigung, wenn auch von einer angesichts der „Erfolge der Vergangenheit“ (S. 422) historisch fundierten optimistischen Grundhaltung aus. Insgesamt betrachtet hat Loth mit seiner „unvollendeten Geschichte“ der europäischen Einigung ein Standardwerk vorgelegt, an dem nicht vorbeikommt, wer sich eingehender mit der europäischen Integration auseinandersetzen möchte. Mit seiner bewussten Schwerpunktsetzung auf die politische Geschichte der EG-/EU-Integration ist es eine empfehlenswerte Ergänzung zu anderen Darstellungen bzw. problemorientierten Gesamtanalysen5 des europäischen Integrationsprozesses und trägt zu einem umfassenden Verständnis des vielschichtigen Prozesses der europäischen Einigung seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Wilfried Loth, Beiträge der Geschichtswissenschaft zur Deutung der Europäischen Integration, in: Ders. / Wolfgang Wessels (Hrsg.), Theorien europäischer Integration, Opladen 2001, S. 87–106, bes. S. 96–98.
2 Wilfried Loth, Der Weg nach Europa. Geschichte der europäischen Integration, 1939–1957, 3., durchgesehene Auflage, Göttingen 1996.
3 Siehe dazu etwa Hermann Wentker, Zwischen Abgrenzung und Verflechtung. Deutsch-deutsche Geschichte nach 1945, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 1–2, 2005, S. 10–17.
4 Siehe dazu beispielsweise auch Andreas Wirsching, Der Preis der Freiheit. Geschichte Europas in unserer Zeit, München 2012, bes. S. 11–18; auch Edgar Wolfrum, Rot-Grün an der Macht, München 2013, S. 714–718.
5 Zuletzt etwa Guido Thiemeyer, Europäische Integration. Motive – Prozesse – Strukturen, Köln 2010.

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