St. Rindlisbacher: Leben für die Sache

Cover
Titel
Leben für die Sache. Vera Figner, Vera Zasulič und das radikale Milieu im späten Zarenreich


Autor(en)
Rindlisbacher, Stephan
Reihe
Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 80
Erschienen
Wiesbaden 2014: Harrassowitz Verlag
Anzahl Seiten
IX 364 S.
Preis
48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Thunemann, Humboldt-Universität zu Berlin

Revolutionäre sind ein reizvoller Forschungsgenstand. Dabei geht diese Faszination schon viele Jahrzehnte auf besondere Weise von den beiden Grandes Dames der revolutionären Bewegung Russlands aus. Wera Sasulitsch löste mit ihrem Attentat auf den Petersburger Stadtkommandanten Fjodor Trepow im Jahre 1878 die erste Welle des Terrorismus in Russland aus, stand dann aber dem organisierten Terrorismus kritisch, zumeist ablehnend gegenüber. Wera Figner dagegen steht für die radikale Überzeugungstäterin, die ihre einmal getroffene Entscheidung für den bewaffneten Kampf gegen die Autokratie zeitlebens keiner Revision unterzog. Während Sasulitsch nach ihrem Attentat und dem spektakulären Freispruch bald in der Emigration als kritische Chronistin und erfolgreiche Netzwerkerin der entstehenden russischen Sozialdemokratie auftrat, sollte Figner als Mitglied des Exekutivkomitees der Narodnaja Wolja und spätestens seit der Ermordung von Alexander II. zur Venus der Revolution stilisiert werden und von diesem Nimbus sogar noch in der Sowjetunion profitieren. Obgleich sich eine ganz ähnliche soziale Herkunft und politische Sozialisation beider Frauen feststellen lässt, repräsentierten sie in ihrer biographischen Distanz und unterschiedlichen Bewertung der Gewaltfrage zugleich das gesamte Spektrum radikalen Engagements im späten Zarenreich. In der auf seiner Dissertation beruhenden Monographie möchte Stephan Rindlisbacher nun dieses Doppelportrait als „Scheinwerfer“ nutzen, um „das radikale Milieu in seinen Merkmalen, Funktionsmechanismen und Handlungsspielräumen auszuleuchten.“ Leiten lässt er sich dabei von Fragen nach den Bedingungen und Möglichkeiten radikaler Akteure und ihrer Suche nach dem „neuen Menschen“ (S. 7).

In den ersten drei Hauptkapiteln, den Kapiteln drei bis fünf, widmet sich Rindlisbacher der Herkunft, politischen Sozialisation und dem ersten politischen Engagement der beiden dem Adel entstammenden Weras. Während Wera Figner eine auch finanziell unbeschwerte Kindheit verlebte, geriet die Familie Sasulitsch nach dem Tod des Familienoberhauptes in erhebliche finanzielle Schwierigkeiten und blieb zunächst auf die Unterstützung von Verwandten angewiesen. Noch als Mädchen nahmen Sasulitsch und Figner Kontakt mit dem neuen Zeitgeist auf, der sich unter Alexander II. in Russland allmählich entfaltete, und begannen damit, sich in den Kanon der jungen Nihilisten zu vertiefen. Danach nahmen die Lebenswege unterschiedliche Entwicklungen und obgleich beide Biographien gewissermaßen typisch für die Jahre des revolutionären Aufbruchs im späten Zarenreiches waren, kam es zwischen den beiden Heldinnen der revolutionären Bewegung nur zu kurzen, zufälligen Begegnungen, nie aber zu einem tatsächlichen Austausch (etwa S. 129, S. 287, S. 290f.).

Sasulitsch machte eine Ausbildung zur Gouvernante und fand später eine Anstellung als Schreiberin bei einem Friedensvermittler in einer kleinen Stadt südlich von Moskau. Dort wurde sie erstmals unmittelbar mit den Problemen der Bauern, dem Objekt ihrer revolutionären Phantasien, konfrontiert, geriet dabei allerdings „in Verlegenheit“ (S. 53). Einige Jahre später kam sie über ihre älteren Schwestern in Kontakt mit der Verschwörung um Sergei Netschajew, wurde sogar von diesem umworben und für die revolutionäre Sache als „in jeder Hinsicht tauglich“ erklärt (S. 83). Bald jedoch, Netschajew und einige seiner Mitstreiter hatten den Mord an dem Studenten Iwanow begangen, fand sich Sasulitsch im Gefängnis und zwei Jahre später als Zeugin vor Gericht wieder. Obgleich aus Mangel an Beweisen keine Anklage gegen sie erhoben wurde, waren die folgenden Jahre von einer fortwährenden Konfrontation mit der Staatsmacht geprägt, die schließlich in ihrem Attentat auf Trepow im Jahre 1878 mündete. Der folgende Gerichtsprozess bescherte ihr die unverhoffte Freiheit, die sie in den kommenden Jahren im Schweizer Exil als erfolgreiche Mittlerin zwischen alten Narodniki, Terroristen und der entstehenden russischen Sozialdemokratie nutzten sollte.

Wera Figner konnte aufgrund der komfortablen finanziellen Möglichkeiten ihrer Familie ein Studium der Medizin in Zürich aufnehmen. In Zürich schloss sie sich dem Frauenzirkel der Fritschi um Sofja Bardina an, knüpfte Kontakte zu Sergei Krawtschinski, Nikolai Morosow und Pjotr Tkatschow und verschrieb sich einer, wie Rindlisbacher es nennt, performativen Ethik, einem Grundsatz, wonach Worte und Taten zur Übereinstimmung zu bringen seien (etwa S. 112). Im Jahre 1876 kehrte sie dann der Emigration den Rücken, engagierte sich in radikalen Zirkeln in Petersburg und Moskau und ging auch ins Volk. Wie Sasulitsch vor ihr, geriet nun auch Figner angesichts des realen Objekts der revolutionären Bestrebungen, des „Bauernmeeres“ in tiefe Verlegenheit. Sie entschied sich nun für den Weg des Terrors, der sie schließlich 1881 zum vermeintlichen Sieg, dem erfolgreichen Attentat auf Alexander II. führte (S. 168–194).

In den letzten beiden Hauptkapiteln, den Kapiteln sechs bis sieben, beschreibt Rindlisbacher die Odyssee von Sasulitsch nach ihrem Attentat auf Trepow und die Zeit Figners nach ihrer Verhaftung im Jahre 1883. Bisher hatte sich die Forschung vor allem der Zeit des direkten politischen Engagements der beiden Frauen zugewandt und weniger die „ganzen Lebensspannen“ abgedeckt (S. 15). Insofern wecken gerade diese Kapitel besondere Erwartungen. Leider jedoch geraten gerade sie über weite Strecken eher zu einer ausufernden Doppelbiographie denn zu einem Portrait des radikalen Milieus durch die Linse der auserwählten Akteurinnen. So stehen viele interessante Details zu den Netzwerken der beiden gleichberechtigt neben allzu banalen Informationen. Was etwa ist über das radikale Milieu zu lernen, wenn wir erfahren, dass Sasulitsch sich im Exil als Köchin der Iskra-Redaktion auszeichnete und ihre Genossen ihr sogleich bescheinigten, „die Gerichte von ihr seien ganz gut gewesen“ (S. 232f.)? Was ist von der Information zu halten, dass Figner in der Verbannung, nach ihrer 20-jährigen Haftzeit in der Festung Schlüsselburg, den Versuch unternahm, ein Töpferkollektiv zu gründen, dieses Unternehmen jedoch über die Absicht nie hinauskam (S. 248)? Gegenüber solchen Informationen wäre es wünschenswert gewesen, wenn Rindlisbacher seiner Selbstverpflichtung zum kritischen Umgang mit den Selbstzeugnissen nachgekommen wäre (S. 36) und in erster Linie die bemerkenswerte Überlagerung von biographischen und historischen Schlüsselereignissen in den Blick genommen hätte. Warum etwa verhielt sich Figner gegenüber Jewno Asef loyal, obwohl sich seit 1908 die Informationen verdichteten, dass es sich bei ihm um einen Doppelagenten handelte? Dies ist nämlich nicht allein biographisch interessant, sondern steht exemplarisch für das Problem des Realitätsverlusts im radikalen Milieu, für den Vertrauensverlust, die verschwommenen Grenzen verlässlicher Information und die fließenden Übergänge von Freund und Feind. Warum polemisierte Sasulitsch stets gegen den organisierten Terrorismus, verfasste jedoch 1880 zum 25. Thronjubiläum von Alexander II. eine Eloge auf Dmitri Karakosow, war zudem zeitlebens mit dem Ästheten des Terrors, Sergei Krawtschinski, freundschaftlich verbunden und wurde als vermeintlich orthodoxe Marxistin im Exil zu einer eifrigen Spendensammlerin der Narodnaja Wolja (S. 199–201, S. 205f.)?

Am Schluss der Arbeit kommt Rindlisbacher auf die „Revolutionärinnen außer Dienst“ zu sprechen. Dabei wird deutlich, dass sich beide mit den neuen Machtverhältnissen nach der Oktoberrevolution nicht anfreunden konnten, obwohl sie ihr ganzes Leben in den Dienst einer Revolution gestellt hatten. Schon in den 1890er-Jahren, als Sasulitsch als Vermittlerin zwischen den Streithähnen Georgi Plechanow, Pjotr Struwe, Wladimir Lenin und anderen agierte, hatte sie gegenüber dem jungen Lew Trotzki bekannt, dass Lenin „eine Person des Netschajew Typs“ sei (S. 228). Diese Einschätzung sollte sich als nicht ganz falsch erweisen und so sah Sasulitsch an die Stelle des ihr bekannten Russland „etwas Widerwärtiges“ treten (S. 295). Auch Figner notierte – mit einem interessanten Verweis auf den großen Roman ihrer Generation, Väter und Söhne – resigniert: ihr werde nun klar, „dass wir, die Revolutionäre der älteren Generation – die Väter der gegenwärtigen Ereignisse waren.“ (S. 299) So arbeitete denn Figner bis zu ihrem Tod 1942 vor allem an der Bewahrung des revolutionären Erbes und Sasulitsch fristete bis zu ihrem Tod 1919 ein zunehmend von Einsamkeit und Krankheit überschattetes Leben.

Dies alles beschreibt Rindlisbacher auf einer beeindruckenden Quellenbasis. Dennoch fühlt man sich am Ende an das berühmte Bonmot von Nicolas Chamfort erinnert, wonach die meisten Leser ihre Bücher in ihre Bibliotheken stecken, die meisten Schriftsteller hingegen ihre Bibliotheken in ihre Bücher. Bei Rindlisbacher fällt zunächst auf, dass seinem Buch keine explizite These zugrunde liegt. Auch der Zuschnitt der Studie offenbart eine problematische Unentschlossenheit. So möchte Rindlisbacher die Biographien als „Scheinwerfer“ zur Erhellung des radikalen Milieus nutzen, geht jedoch gleich zu Beginn hinter der nach einem Allgemeinplatz klingenden Formulierung in Deckung, dass es darum gehe, die „radikale Welt idealtypisch aufzuzeigen“, eine Geschichte also über das „Individuum in der Gesellschaft“ zu verfassen (S. 24, S. 7f.). Tatsächlich aber schreibt er weniger eine Geschichte seiner Protagonistinnen in der Gesellschaft als ein überladenes Lebensbild seiner Heldinnen. Somit bleibt ein ambivalenter Eindruck zurück: Einerseits besticht das Buch durch die beeindruckende Quellenmenge, andererseits vermag die Studie an vielen Stellen nicht über das hinauszuweisen, was seine Akteurinnen selbst hinterlassen haben.