M. van Creveld: Aufstieg und Untergang des Staates

Titel
Aufstieg und Untergang des Staates.


Autor(en)
van Creveld, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
520 S.
Preis
€ 32,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dr. Raimund Lammersdorf, GHI

Martin van Creveld, als Militärhistoriker u.a. Spezialist für logistische Fragen, versucht sich an einer Darstellung vom neuzeitlichen Aufstieg und Niedergang des Staates, den er als die wichtigste und herausragende politische Institution der Moderne betrachtet. Sein Aufstieg habe begonnen als Überwindung des mittelalterlichen Universalismus und der feudalistischen und städtischen Sonderinteressen. Im 17. Jahrhundert bildeten sich seine klassischen Institutionen heraus: Bürokratie, Militär, Polizeiapparat, Gefängnisse. Aus einem Instrument zur Durchsetzung von Gesetz und Ordnung habe sich der Staat schließlich zu einem säkularen Gott verwandelt.

Zum Ausgang des 20. Jahrhundert sieht van Creveld die Karriere des Staates ihrem Ende zugehen. Von Westeuropa bis Afrika schlössen sich Staaten zu größeren Gemeinschaften zusammen oder fielen auseinander. Insbesondere die Vereinten Nationen seien ein Instrument, das nach und nach die Souveränität der Staaten untergrabe. Das internationale System bewege sich weg von einem Ensemble einzelner, souveräner, völkerrechtlich gleichgestellter Territorialstaaten. An dessen Stelle träten hierarchische und in vieler Hinsicht kompliziertere Strukturen.

Darüber hinaus werde sichtbar, daß der Staat zunehmend seine Fähigkeit verliere, Politik, Militär, Wirtschaft und Kultur zu kontrollieren sowie Leben und Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. So sei schon heute in den USA die Zahl der in privaten Sicherheitsdiensten Beschäftigten (1,6 Millionen Menschen) größer als die Zahl der aktiven Soldaten.

Für die Herleitung seiner Thesen greift van Creveld weit, allzu weit aus. Er geht zurück bis zu biblischen Zeiten und schließt in seine Analyse auch außereuropäische Kulturen mit ein. Daß er dabei auf 500 Seiten nicht in alle Einzelheiten gehen kann, ist selbstverständlich. Eine vergleichende Darstellung dieser Größenordnung wäre sicherlich zu begrüßen. Allerdings bräuchte man dafür die Fähigkeit, die Komplexität und Vielfalt staatlicher Organisationsformen überzeugend zu erfassen. Van Creveld ist dazu nicht in der Lage. Seine zu einfache und holzschnittartige Vorstellung vom Staat und sein wohl weites, jedoch nicht sehr tiefes oder genaues Wissen schwächt die Arbeit so sehr, daß das Ergebnis nicht überzeugen kann.

Wer sich an ein so umfassendes Werk heranwagt, ist auf eine Grundlinie angewiesen, die die vielen verschiedenen nationalen und historischen Entwicklungen zusammenzieht und damit über kontinentaleuropäische Vorstellungen hinausgeht. Doch van Creveld beginnt mit einer Definition des Staates, die als Modell für die weitere Betrachtung zu eng geraten ist. Danach ist der Staat "eine Körperschaft" und "eine eigene Rechtspersönlichkeit", die sich von anderen Körperschaften dadurch unterscheidet, "daß [der Staat] sie alle autorisiert, doch selbst allein durch andere Staaten autorisiert (anerkannt) wird." Ihm sind "bestimmte Aufgaben (die allgemein als Merkmale der Souveränität gelten) allein ... vorbehalten."

Schließlich "erfüllt er diese Aufgaben auf einem bestimmten Gebiet, innerhalb dessen er ausschließlich und allumfassend sein Recht spricht." Die Entwicklung von Staatlichkeit sieht er in erster Linie abhängig von Kriegen und militärischer Organisation eines Gemeinwesens. Das Gewaltmonopol hält er für die wichtigste Funktion des Staates.

Eine so reduzierte Bedeutung von Staat würde es van Creveld nur ermöglichen, eine Geschichte von Aufstieg und Niedergang dieser Art von Staat zu schreiben. Doch zwängt er Regierungsformen unterschiedlichster Art und Herkunft, die in ihren wesentlichen Eigenarten den Rahmen seiner Definition sprengen, in sein letztlich wenig ergiebiges Raster.

So läßt seine Definition keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen republikanischen bzw. demokratischen Regierungssystemen und autoritärem Staat zu. Die selbstreferenzielle Definition schließt pragmatisch-naturrechtliche oder liberale Staatsgrundlagen aus. Dennoch wendet er sein Modell auf die Beschreibung z.B. von anglo-amerikanischer Staatsidee und -wirklichkeit an und kommt zu krassen Fehlurteilen. An anderer Stelle nivelliert er die Unterschiede zwischen faschistischen und kommunistischen Systemen. In seiner letzten Konsequenz unterscheiden sich bei ihm demokratische von totalitären Staaten nur durch den Grad der ausgeübten Repression.

Um an seiner Definition festhalten zu können, muss er sehr selektiv mit der Literatur umgehen. Für die Neuzeit zentrale Ideen wie Marxismus und Liberalismus bleiben unterbelichtet, dagegen setzt er sich länger über den Absolutismus auseinander, der seine Grundvorstellung vom Staat historisch untermauert. Die Klassiker der Staatsrechtslehre bleiben nur sehr oberflächlich behandelt oder tauchen gar nicht erst im Text auf. Die wichtigen Werke der neueren Literatur bleiben völlig unbeachtet, insbesondere neuere Entwicklungen in der amerikanischen Sozialwissenschaft und die Kommunitarismusdebatte. Obwohl die Themen Autorität und Repression zentral für seine Argumentation sind hat er die entsprechende recht ausführliche Auseinandersetzung im französischen Dekonstruktivismus nicht rezipiert.

Die Aufstiegs- und Untergangsnarrativik bringt ihre eigenen Probleme mit sich. Er empfindet die Auflösung einzelstaatlicher Souveränität zugunsten internationaler Organisationen als Untergang des Staates. Dagegen deuten europäische Erfahrungen mit der Brüsseler Bürokratie eher auf die Neuentwicklung einer zusätzlichen Staatsmacht hin und provozieren einen Gegentrend zur Stärkung kommunaler Verantwortung.

Die allgemeine Unklarheit in van Crevelds Werk zeigt sich ganz deutlich in seiner Zukunftsvision für die Zeit nach dem Staat: entweder es führe zu paradiesischen Zuständen oder zu Krieg und kulturellem Untergang. Die Beliebigkeit dieser Prognose faßt die Problematik des Buches beispielhaft zusammen.

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