A. Bingham u.a.: Tabloid Century: The Popular Press in Britain

Cover
Titel
Tabloid Century. The Popular Press in Britain, 1896 to the present


Autor(en)
Bingham, Adrian; Conboy, Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 258 S.
Preis
€ 26,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Wilke, Institut für Publizistik, Johannes Gutenberg Universiät Mainz

Im Titel des Buches ist schon seine Grundthese ausgedrückt: nämlich dass das 20. Jahrhundert in Großbritannien ein Jahrhundert der Boulevard- und Straßenverkaufspresse war (wie man den englischen Begriff „tabloid“ weniger eingängig ins Deutsche übersetzen muss). Die Autoren, die beide an der University of Sheffield lehren, wollen darstellen, wie diese Pressegattung die britische Gesellschaft geprägt hat, und zwar nicht nur durch die Schilderung wichtiger Ereignisse, sondern auch dadurch, dass sie persönliche und soziale Identitäten definierte. Hätten sich andere Pressegeschichten bisher mehr auf die Produktion von Zeitungen konzentriert, sollen jetzt die Inhalte im Zentrum stehen. Martin Conboy hat übrigens bereits vor Jahren ein Buch zum gleichen Gegenstand vorgelegt, seinerzeit mit dem Untertitel „Constructing a Community Through Language“1.

Zunächst wird man über die Etymologie dieses Gattungsbegriffs aufgeklärt. Demzufolge ist „tabloid“ eine Kombination aus „tablet“ und „alkaloid“ und war 1884 von einem Unternehmen der pharmazeutischen Industrie urheberrechtlich prätendiert und in der Werbung für kleine Tabletten (also Pillen) verwendet worden. Der Begriff empfahl sich offenbar als „perfect metaphor“ (S. 1) für die 1896 von Alfred Harmsworth (seit 1905 Lord Northcliffe) gegründete „Daily Mail“, die als erste britische Tabloid-Zeitung gilt. Offenbar war das reduzierte Format für die Analogie ausschlaggebend, während man an eine toxische Nebenwirkung kaum gedacht haben dürfte.

In der Einleitung beschreiben die Autoren den Aufstieg der Tabloid-Zeitungen. Binnen weniger Jahre folgten mehrere Blätter dem gleichen Modell: der „Daily Express“ (1900), der „Daily Mirror“ (1903), der „Daily Sketch“ (1909), der „Daily Herald“ (1911) sowie der „Daily Pictorial“ (1915). Vorbilder und Vorläufer dafür gab es in den USA, aber auch im eigenen Land selbst, beispielsweise die „News of the World“ (1843). Hinter den Tabloids standen die so genannten „Pressebarone“, außer Northcliffe und seinem Sohn Harold (seit 1919 Lord Rothermere) die Herren Arthur Pearson (1st Baronet), Max Aitken (Lord Beaverbrook) und in jüngerer Zeit der Großverleger Rupert Murdoch. Typisch für die Tabloids ist, dass sie in Millionenauflagen gedruckt wurden (und werden) und diesen Erfolg durch die Mittel des so genannten Tabloid Journalism erzielten: aufrüttelnde Schlagzeilen, sensationalistische, populäre Berichterstattung, wachsender Einsatz von visuellen Mitteln (Fotos, Karikaturen).

Der Hauptteil des Buches ist in sechs Kapitel gegliedert. Jedes ist einem eigenen Themenkomplex gewidmet. Im ersten geht es um die Kriege des 20. Jahrhunderts, die den Tabloids viel Stoff zur Kultivierung des Patriotismus und zu Kreuzzügen gegen Feinde boten. Letzteres betraf vor allem Deutschland, dem man vor 1914 noch durchaus freundschaftlich begegnet war. Das änderte sich rasch und durchgreifend. In der Zwischenkriegszeit verstärkte sich ein anti-militaristischer Trend, der in einer Begünstigung der „Appeasement“-Politik mündete. Der Zweite Weltkrieg brachte erneut Einschränkungen für die Pressefreiheit. Die Zeitungen standen der Regierung und dem Militär jetzt weniger kritisch gegenüber als noch im Ersten Weltkrieg. Nach 1945 gab es zwar weiter kriegerische Konflikte (bis zum Afghanistan-Krieg), aber im Prozess der Tabloidisierung fokussierten sich die Zeitungen immer mehr auf Inlandsnachrichten und Unterhaltung.

Im zweiten Kapitel wird das Verhältnis der Tabloids zur Politik behandelt. Generell gehörte es zum Erfolgsrezept dieser Pressegattung, sich nicht allzu intensiv mit ihr zu beschäftigen, was natürlich nicht hieß, unpolitisch zu sein. Vier Phasen der Entwicklung werden unterschieden: Dem populistischen Credo entsprechend herrschte von 1900 bis 1930 eine stark rechtslastige Dominanz. Seit den 1930er-Jahren folgte zumindest in einigen Organen ein Wandel zu reformerischen Ideen, was mit Veränderungen in der Leserschaft und einer Neuorientierung der Labour Party zusammenhing. Eine abermals rechtskonservative Ausrichtung ging mit der Politik Margaret Thatchers einher (1970–1990). Mit einem Fragezeichen versehen ist die Diagnose einer neuerlichen Wendung zur Mitte seit den 1990er-Jahren.

Im Zentrum des dritten Kapitels stehen die Monarchie und das Starwesen. Beide sind in den Tabloids bekanntlich bevorzugte Objekte der journalistischen Personalisierung. Dass vor dem Zweiten Weltkrieg noch Zurückhaltung geübt wurde, belegen die Autoren an der Affäre um Eduard VIII. und die von ihm geliebte geschiedene Amerikanerin Wallis Simpson, die zum Thronverzicht des Königs führte. Nach 1945 sah dies schon anders aus, zunächst im Falle der amourösen Beziehungen von Prinzessin Margaret und dann beim Thronfolgerpaar Prinz Charles und Prinzessin Diana. Wie dies im letzteren Fall endete, weiß man. Das Verhalten der Queen resultierte hier am Ende in einer Kluft zu ihrem Volk, die mittlerweile aber als überwunden gelten kann. Im Übrigen erfasste die Celebrity-Kultur nicht nur das Herrscherhaus, sondern auch das Personal von Film und Fernsehen. Allerdings muss man schon ein älterer Leser sein, um bei Namen wie Diana Dors, einer Busenschönheit der 1950er- und 1960er-Jahre, nicht bei Wikipedia nachschlagen zu müssen.

Das vierte Kapitel handelt dann gesondert von „Gender and Sexuality“. Diese prickelnden Ingredienzen des Boulevardjournalismus reichen durchaus bis in die Anfänge der „Daily Mail“ zurück. Die Sexualisierung der Tabloids ging in mehreren Schritten vonstatten: Zunächst durch so genannte „problem pages“, auf denen Beratung in Geschlechterfragen angeboten wurde. Hinzukamen die Pin-ups, wobei das „page 3 topless girl“ zu einer festen Institution wurde. Daraus erwuchsen zwangsläufig Konflikte mit dem organisierten Feminismus. Als das tägliche Nacktfoto in der „Sun“ nach 44 Jahren Anfang 2015 verschwand, wurde dies schon als Abkehr von einer langen Tradition – je nachdem – bedauert oder begrüßt, allerdings wurde die Entscheidung nach nur einer Woche revidiert. Davon konnten die Autoren des 2015 erschienenen Buches freilich noch nichts wissen.

Das fünfte Kapitel widmen die Autoren dem Thema der sozialen Klasse. Dabei wirken zwei Aspekte ineinander: einerseits die Frage nach der Leserschaft der Tabloids, andererseits nach ihren Interessenlagen. Anfangs hätten diese Zeitungen, so die Autoren, an die untere Mittelklasse appelliert und deren Probleme behandelt. Zur Erweiterung des Marktes bedurfte es der Öffnung auch für die Arbeiterklasse. Dabei tat sich vor allem der „Daily Herald“ hervor, aber auch der „Daily Mirror“ suchte, so wird argumentiert, den kommerziellen amerikanischen Populismus mit den Einstellungen und Perspektiven der britischen proletarischen Kultur zu verbinden. Diese Phase endete in den 1950er- und 1960er-Jahren, als auf einem „class appeal” basierende Zeitungen immer weniger Profit machen konnten. An dessen Stelle traten mehr und mehr „pleasure focused and consumerist appeals“ (S. 187), vertreten insbesondere durch Rupert Murdochs „Sun“, der Ende der 1970er-Jahre am weitesten verbreiteten britischen Boulevardzeitung.

Im letzten Kapitel des Buches geht es noch um Rasse und Nation als Gegenstände des Tabloidjournalismus. In mehrfachem Sinne haben diese Blätter im 20. Jahrhundert das britische Nationalgefühl befestigt, zunächst durch die Feier des Empire, dann des Heroismus der Soldaten in den Weltkriegen, schließlich in den Erfolgen der Populärkultur und des Sports. Andere Länder wurden eher als exotisch wahrgenommen. Die Tabloids stützten das Selbstbild einer idealisierten weißen britischen Bevölkerung, was zu Schwierigkeiten angesichts einer wachsenden Immigration führte, durch die sich eine multikulturelle Gesellschaft herauszubilden begann. Extensiv wurde 1968 der legendären fremdenfeindlichen Kampagne des Tory-Abgeordneten Enoch Powell Platz eingeräumt. Was Europa anbetraf, so unterfütterte man eher Thatchers Skeptizimus. Nur kurz hatte es in den 1970er-Jahren einen pro-europäischen Kurs gegeben.

In ihrem Schlusskapitel sprechen Bingham und Conboy von einem Niedergang des Tabloid-Modells vor allem bedingt durch die Heraufkunft neuer Medien, die sich ihrerseits der Mittel der Tabloidisierung bedienen. Das gilt hauptsächlich für das Fernsehen. Aber selbst seriöse Blätter wie die „Times“ haben Elemente dieses Modells übernommen. „Taboid values“, so schreiben die Autoren, „colonised the mainstream media […].“ (S. 231) Hinzukamen die eigengemachten Skandale, insbesondere die illegalen Abhörpraktiken der Sonntagszeitung „News of the World“, die deren abrupte Einstellung am 10. Juli 2011 zur Folge hatten. Besserung wurde gelobt, aber schon in früheren Fällen, so sagen die Autoren, hielt dergleichen nicht lange an. Selbst die von Rupert Murdoch geschasste Rebekah Brooks, eine der Hauptübeltäterinnen in dem genannten Skandal, ist wieder zurück.

Das Buch von Bingham und Conboy ist gut geschrieben und durchaus lesenswert. Man erfährt daraus vieles über die Rolle der britischen Tabloid-Presse im 20. Jahrhundert und versteht manches besser, worüber man sich außerhalb des Landes nicht selten wundert. Unterschiede zwischen den einzelnen Titeln werden herausgearbeitet. Gleichwohl kann die Lektüre nicht voll befriedigen. Das liegt daran, dass die Darstellung weitgehend theorielos daherkommt und sich in einer episodischen Evidenz erschöpft. Systematische, gar theoriegeleitete Überlegungen, sowohl politikwissenschaftlicher als auch kommunikationswissenschaftlicher Art, fehlen so gut wie ganz. Zwar werden anfangs Begriffe wie „agenda setting“ und „framing“ eingeführt, aber sie sind methodisch nicht leitend und tauchen danach nicht wieder auf. Die Belege bestehen aus zahlreichen Zitaten aus Artikeln der untersuchten Zeitungen, welche die Verfasser gewiss in aufwändiger Durchsicht vieler Jahrgänge extrahiert haben. Dabei bevorzugen sie Kommentare und zumal Schlagzeilen, denen sie offenbar einen besonderen Indikationswert zumessen. Das geschieht aber ganz ohne Bezug auf wirkungstheoretische Annahmen, wenn nicht implizit unmittelbar von den Inhalten auf die Effekte geschlossen wird. Gegen solche kurzatmigen Schlüsse werden zu Beginn zwar Vorbehalte erhoben, diese gehen aber in der Durchführung eher unter. Zudem sind die Autoren von der Überzeugung durchdrungen, dass die Zeitungen von Männern gemacht wurden und werden. Allerdings startete Northcliffe seinen „Daily Mirror“ 1903 bereits mit einer ausschließlich weiblichen „Mannschaft“. Als treibende Kräfte gelten die frühen Medienbarone und ihre Nachfahren sowie die Chief Editors und Kolumnistinnen und Kolumnisten wie Arthur Christiansen, Hugh Cudlipp, Cecil King, Larry Lamb und David English oder jüngst die berüchtigte Rebekah Brooks. Sie haben die strategische wie inhaltliche und präsentative Ausrichtung der Zeitungen maßgeblich bestimmt, ihnen immer wieder „Relaunches“ verpasst und dem Journalismus der Tabloids neue Wege gewiesen. Wenn man so will, hat man es hier mit einem Buch zu tun, das unausgesprochen der Akteurstheorie verpflichtet ist.

Anmerkung:
1 Martin Conboy, Tabloid Britain. Constructing a Community through Language, London/ New York 2006.

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