Titel
Moses Hess. Rheinischer Jude, Revolutionär, früher Zionist


Autor(en)
Weiß, Volker
Erschienen
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Weber, Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur, Ludwig-Maximilians-Universität München Email:

Moses Hess kann als geistiger Vordenker und praktischer Mitgestalter zweier bedeutender Bewegungen angesehen werden: wie sein Werk „Rom und Jerusalem” von 1862 als die theoretische Begründung des modernen politischen Zionismus gelten darf, ehrt ihn seine von Kölner Sozialdemokraten 1903 angebrachte Grabinschrift als den „Vater der deutschen Sozialdemokratie”. Während sich noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts beide Bewegungen gleichermaßen um den Nachlass des Vorkämpfers bemühten, entschwand Hess dem sozialistischen Gedächtnis erstaunlich schnell. Anders als die Arbeiterbewegung erkannte die Geschichtsschreibung des Zionismus die Bedeutung von Moses Hess. Angesichts des sozialistischen Vergessens versucht die Arbeit von Volker Weiß – ein durchaus redliches Bemühen – den rheinischen ‚Revolutionär‘ als einen solchen dem Erinnern zuzuführen und versteht sich demnach nicht als rein wissenschaftlicher Beitrag zur Hess-Forschung.

So gibt Weiß in kurzweiligem Schreibstil die Lebensstationen von Hess wieder, sowie den Inhalt seiner wichtigsten Werke. Seine Partizipation an diversen revolutionären Kämpfen, sein durchaus innovatives Schaffen als oppositioneller Journalist1 sowie Hess’ persönliche Verpflichtung auf einen Begriff der sozialen Revolution bis an sein Lebensende werden zwar detailreich geschildert. Dabei bleibt aber gerade sein Verhältnis zu Marx und Engels, die Zusammenarbeit wie den Bruch betreffend, etwas unklar. Den Hess’schen Einfluss auf deren Werk, den Weiß für den Entfremdungs- wie den Geldbegriff anführt, sollte dabei tiefer diskutiert werden. Der Begriff der „Entfremdung” spielte für Marx keine allzu große Rolle und findet so gut wie keine analytische Anwendung. Hess’ Text „Über das Geldwesen” wird von Shlomo Na’aman zu den „bedeutendsten Veröffentlichungen des deutschen Frühsozialismus” gerechnet, die damit den Stand der Auseinandersetzung im Vorfeld der Gründung des Bundes der Kommunisten wiedergibt. Die noch reichlich unscharfe Übertragung des Feuerbach’schen Entfremdungsbegriff von der Religion auf die Ökonomie demonstriert Hess’ Involviertheit in diese Debatten, wie zugleich sein Unvermögen mit der Entwicklung der Gesellschaftskritik Schritt zu halten. Erst Marx erarbeitete Begriff und Kritik des Geldes in systematischer Weise; derselbe unterdrückte bereits 1844 die Publikation von Hess’ Schrift in den Deutsch-Französischen Jahrbüchern.

Aufgrund der regen Teilnahme an den Debatten dieser Zeit, seiner engen Bindung an das sich gerade etablierende internationale Netzwerk frühkommunistischer Kritiker und als persönlicher Freund und Förderer von Karl Marx und Friedrich Engels, der sich als Koautor an Marx’ „Deutscher Ideologie” beteiligte, räumt ihm Weiß einen Ehrenplatz unter den „Gründervätern des Historischen Materialismus” (S. 113) ein, der ihm sowohl von den marxistisch-leninistischen als auch den sozialdemokratischen Parteiinstitutionen bis heute versagt bleibt. Eine tiefer gehende Diskussion, etwa der Gründe, die zu Hess’ Vergessen in der Arbeiterbewegung führten, lässt das Buch jedoch vermissen. Zwar zitiert Weiß aus der sozialistischen Rezeption und beschreibt die sich abzeichnende Diskrepanz im Kommunismusverständnis von Marx und Hess, sieht sich aber offenkundig nicht bemüßigt ein eigenständiges Urteil über die ausgebliebene Kanonisierung von Hess’ Schriften zu fällen. Obwohl sich der marxistische Anspruch auf Deutungshoheit als Wahrheitsanspruch verstand, hinter dem persönliche Gefühle zurückzutreten hatten, vermutet Weiß hinter Hess’ Verdrängung lediglich Machtansprüche und persönliche Animositäten. Man muss zwar nicht Georg Lukács in seinem harten Urteil folgen, demnach Hess „in keinerlei Beziehung eine Bedeutung für die gegenwärtige Theorie der revolutionären Arbeiterbewegung zukommt; ja, daß sogar seine rein historische Rolle in der Entwicklungsgeschichte des historischen Materialismus von seinen Verehrern […] vielfach übertrieben wird”2, doch gelte es gerade in diesem Zusammenhang zu konkretisieren, auf welche Weise Moses Hess angemessen zu gedenken wäre. Ist es seine historische Rolle in den Emanzipationskämpfen des 19. Jahrhunderts oder vermag auch seine theoretische Hinterlassenschaft heute noch einen kritischen Impuls zu leisten; ist also eine Relektüre der Werke von Hess zu empfehlen, da sie, wie auch andere lange verfemten Werke des Frühsozialismus, die „Dogmatisierung sozialistischer Theoreme”3 aufzubrechen vermögen?

Es soll an dieser Stelle keineswegs angedeutet werden, dass der Sozialismus – in welcher Ausgestaltung auch immer – einen vorbildlichen Umgang mit seiner eigenen Geschichte pflegte, indem er Hess der Erinnerung entriss. Gerade dass ihn seine „Zionisterei” bei den Wortführern der Sozialdemokratie um die Jahrhundertwende suspekt machte, und damit einhergehend der sozialistische Umgang mit dem spezifisch jüdischen Erbe von Moses Hess, hätte in diesem Zusammenhang thematisiert werden können. Damit hätte Weiß’ Beitrag, der sich der Erinnerungsarbeit verpflichtet fühlt, lange Versäumtes nachgeholt.

Stattdessen ist ein Nachwort des Vorsitzenden der Kölner SPD angefügt, Jochen Ott, der Hess festrednerisch dafür dankt, „dass wir heute in einer demokratischen Gesellschaft leben können”. Dieses Nachwort, dass Hess phrasenhaft attestiert, „radikale Fragen nicht [gescheut]“ zu haben, läuft Gefahr, zum zweifelhaften Destillat des Buches zu werden. Gedenkt man des Revolutionärs Moses Hess am besten mit der wohlfeilen Huldigung, den „Kampf für unsere heutigen Grundwerte der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität” aufgenommen zu haben? Wer Hess, mitnichten ein Zuträger engagierter Gemeinplätze, in solcherart zivilgesellschaftlichem Jargon in die heutige Parteienlandschaft integriert, seinen Kampf gegen Antisemitismus lobend hervorhebt und im selben Atemzug mit „dem Kampf gegen Rassismus und die Ausgrenzung von Minderheiten” gleichmacht und banalisiert, der rühmt tatsächlich nur einen „bedeutende[n] Bürger der Stadt [Köln]” (S. 212f.), der als Namensgeber für Straßen und Plätze herhalten darf, dessen Vermächtnis aber in der Floskel verloren geht.

Weiß selbst soll ein solches Unterfangen nicht angelastet werden, sein Bemühen ist die Abbildung der facettenreichen Persönlichkeit Moses Hess. Was ihm aber nicht so recht gelingen mag, ist eine rechte Vermittlung von sozialistischem und zionistischem Erinnern: schlichtweg die fehlende hier, die erfolgte Erinnerung da zu benennen und zu beschreiben, um dann dort sie nachzureichen, wo sie ausblieb, kann das Ziel nicht sein; es müsste durchaus auch der Anspruch sein, Werk und Erinnerung – im Zionismus und Sozialismus – zueinander in Verbindung zu setzen. Denn wo Hess vielleicht am meisten Avantgardist und „Revolutionär” war, in der Formulierung eines (Proto-)Zionismus nämlich, dort wurde seiner auch erinnert und Hess als verdienstvoller Ideengeber gewürdigt.

Die Biographie von Hess zeigt, dass sich im Zuge der theoretischen und praktischen Formierung von Republikanismus und Sozialismus ein Ende des Zwanges oder zumindest die Chance darauf andeutete, seine persönliche Existenz jenseits von familiärer und religiöser Bande zu bestreiten. Hess’ Bruch mit dem Vater, sein Eintreten für die Zivilehe und seine Heirat mit der Nichtjüdin Sibylle Pesch, im Grunde sein Lebenslauf insgesamt, unterstreichen Hess’ Zugehörigkeit zum generellen Emanzipationsprozess des 19. Jahrhunderts; gleichwohl vollzog sich dieser bekanntlich nicht als konstante Erfolgsgeschichte. Die Resistenzkraft der alten Strukturen, das Ausbleiben der Revolution – an der schließlichen Integration des Sozialismus in das Herrschaftssystem durch den Lassallianismus hatte Hess selbst Anteil – und das Fortbestehen antijüdischer Verfolgungen trieben Hess allmählich in die Resignation. Den Antisemitismus erlebte er zur Zeit der Damaskus-Affäre 1840 noch in mittelalterlicher Prägung, in den darauffolgenden Jahrzehnten in seiner kontinuierlichen Modernisierung. So verweist sein Wiederentdecken von jüdischer Identität auf die Dialektik des Fortschrittsprozesses selbst. Das traurig Visionäre besteht in der sich historisch als richtig erwiesenen Annahme, dass den Juden zuerst nationale Befreiung zukommen müsse, bevor sie der Prozess der sozialen Befreiung erfassen kann.

Sein Zionismus betont zwar die besondere demokratische Struktur des Judentums, derzufolge auch ein jüdisches Staatswesen den Völkern als Musterdemokratie auf ihrem Weg in die Befreiung leuchten solle; damit greift Hess aber einen Gedanken auf, den er bereits zur Zeit der „Europäischen Triarchie” – also um 1841 – entwickelte: aufgrund einer eigentümlichen Ungleichzeitigkeit, also der Tatsache, dass die Juden in einer Welt lebten, die längst über sie hinausgewachsen war, würde gerade diese überlebte Existenz den „Stachel im Fleisch der Menschheit” bilden, damit an das orientalische Prinzip der Einheit erinnern und gen Fortschritt treiben.4 Das Begreifen der jüdischen Existenz als Anomalie bei gleichzeitiger Verpflichtung auf menschlichen Fortschritt und emanzipatorische Versöhnung, bedeutete für Hess indes nicht die schlichte Auflösung und Einordnung dieser Anomalie in den Fortschrittsprozess. Weiß indes betont an Hess’ Zionismus – der partikularen Emanzipation – ganz besonders, dass er in erster Linie als ein Zwischenschritt zum Sozialismus, der allgemeinen Emanzipation, gedacht wurde. Bereits Na’aman beurteilte die in „Rom und Jerusalem” angestellte Bestrebung, eine Synthese von Sozialismus und Zionismus herzustellen als noch nicht bereit, den Konsequenzen des eigenen Denkens zu folgen. Die Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit von Zionismus und Sozialismus, die Weiß bemüht, wirkt daher zu gewollt und verkennt den Vorrang des Nationalen, dass der „Racenkampf […] das Ursprüngliche, der Klassenkampf das Sekundäre”5 sei.

Nicht dass Zionismus und Sozialismus zwangsläufig zueinander in Widerspruch stehen müssten – die Geschichte des Zionismus in Palästina zeigt dies – und keineswegs sollte der Zionist Hess um den Revolutionär und Sozialist ausgespart werden. Aber Weiß’ Rechtfertigung der nationalen Begrifflichkeit von Hess muss sich die Frage gefallen lassen, ob der Zionismus einer solchen weltbürgerlichen Verteidigung bedarf – ob ein Zionismus ohne sozialistische Vorzeichen seine Legitimität verliere.

Anmerkungen:
1 So schildert Weiß etwa Hess’ Anteil an der Mitbegründung der modernen Sozialreportage, S. 126.
2 Zitiert nach Weiß, Hess, S. 203.
3 So Theodor W. Adorno im Vorwort zu einer Neuausgabe des Utopisten Charles Fourier, vgl. Charles Fourier, Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen, Frankfurt am Main 1966, S. 4.
4 Vgl. Philipp Lenhard, Volk oder Religion? Die Entstehung moderner jüdischer Ethnizität in Frankreich und Deutschland 1782–1848, Göttingen 2014, S. 301.
5 Moses Hess, Rom und Jerusalem, Leipzig 1899, S. 156.

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