T. Snyder: Black Earth. The Holocaust as History and Warning

Cover
Titel
Black Earth. The Holocaust as History and Warning


Autor(en)
Snyder, Timothy
Erschienen
London 2015: Random House
Anzahl Seiten
XIII, 428
Preis
€ 28,70
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dieter Pohl, Universität Klagenfurt

Die Holocaustforschung der letzten Jahrzehnte hat eine enorme Menge von neuen Einzelbefunden ans Tageslicht gebracht, freilich nur wenige Ansätze zu einer neuen Gesamtinterpretation. Timothy Snyder, einer der führenden Osteuropahistoriker der USA, macht sich nun auf, eine solche Neubetrachtung zu liefern. Anders als in seinem Bestseller "Bloodlands", einer Synthese zur Geschichte der Verbrechen Hitlers und Stalins in Osteuropa, präsentiert er sich diesmal erheblich thesenfreudiger.

Snyder setzt – ganz klassisch – bei Hitlers Weltsicht an: Entscheidend sei seine globale und biologistische Interpretation der Geschichte als Kampf der Rassen um die natürliche Ordnung der Erde. In Hitlers Perspektive sei der Konflikt mit dem "Judentum" ein Kampf um das ökologische Gleichgewicht, um Boden und damit um Nahrung gewesen. Ohne Zweifel gehörte "Deutschlands Nahrungsfreiheit" zu den zentralen Zielen Hitlers, doch wird man der Hitler-Exegese Snyders hier nicht immer folgen wollen, weil dies nur mittelbar mit seinen antisemitischen Tiraden verbunden war. Unklarheiten zeigen sich auch bei Hitlers Lebensraum-Begriff, der durch Snyders metaphorische Parallelisierung mit dem deutschen Wohnzimmer nicht gerade an Präzision gewinnt. Dennoch, dieser Kampf um Lebensraum vor allem mit dem vermeintlichen "jüdischen Bolschewismus" ist die zentrale Achse von Hitlers Ideenwelt. Zu Recht wird ein globales Weltbild hervorgehoben, das recht spezifisch für Hitler war, aus seinen Äußerungen lassen sich jedoch recht unterschiedliche Schlüsse ableiten.

Ohne sich lange auf Vorgeschichten einzulassen, kommt Snyder dann kurz auf Hitlers Systemveränderungen der 1930er-Jahre zu sprechen, vor allem aber auf die internationale Bedeutung der "Judenfrage". Dabei rückt zusehends Polen ins Zentrum, die Heimat der größten jüdischen Gemeinden der Welt. Hier wie an anderer Stelle schöpft Snyder, der in dem Buch eine beeindruckende Breite an Forschung verarbeitet, aus eigenen Archivrecherchen. Ebenso wie die deutsche habe auch die polnische Politik ab 1935 vor allem die Emigration der Juden zum Ziel gehabt. Freilich anders als Deutschland, wollte man durch die geheime Unterstützung rechtszionistischer Untergrundgruppen in Palästina eine bewaffnete jüdische Staatsgründung herbeiführen. Dies ist sicher eine spannende Geschichte, doch führt sie den Leser eher vom Thema Holocaust und den Hauptthesen des Buches weg.

Im Kern der Darstellung stehen jene Gebiete im Baltikum und Polen, die Hitler Stalin 1939 zugesprochen hat und die zuerst unter sowjetische, dann 1941 unter deutsche Besatzung gerieten. Damit knüpft Snyder direkt an sein letztes Buch an. Insbesondere die sowjetische Seite, deren Gewaltherrschaft hier noch einmal ausführlich geschildert wird, habe entscheidende Verantwortung für die Zerstörung des polnischen Staates und für die Deformierung der Gesellschaften. Damit habe sie die Voraussetzungen für die Gewaltbereitschaft geschaffen, auf die dann die Deutschen aufbauten. Die Welle von Pogromen in Litauen, in der Westukraine und im Raum Białystok im Sommer 1941 waren laut Snyder weniger mit dem dortigen Antisemitismus verknüpft. Sie seien vielmehr als Versuch einiger Kreise anzusehen, ihre Kollaboration mit den Sowjets zu vertuschen. Diese Gruppen hätten dafür das deutsche Angebot angenommen und dabei mitgeholfen, die "jüdischen Bolschewisten" als Alleinverantwortliche für die Kollaboration mit Stalin zu bestrafen. Snyder geht so weit, einen erheblichen Teil der Täter der Pogrome als aktive Kollaborateure schon zu Sowjetzeiten zu charakterisieren. Solche Fälle hat es tatsächlich gegeben, sie stellen jedoch eine Minderheit dar. Die entscheidenden Faktoren für die einheimische Gewalt bleiben so unterbelichtet, etwa die Bestrafung des sozialen Aufstiegs der Juden unter der Sowjetherrschaft und die Staatsbildungsversuche ethnonationalistischer Untergrundgruppen.

Auch wenn Snyder auf die systematischen deutschen Massenmorde zu sprechen kommt, bleibt der Fokus auf der umfassenden Kollaboration der Einheimischen in den besetzten Gebieten Polens und der Sowjetunion, die ihre Wurzeln vor allem im Stalinismus habe, so dass die deutsche Hauptverantwortung für den Holocaust manchmal allzu stark in den Hintergrund gerät. Wie schon in "Bloodlands" versichert der Autor, dass der Holocaust vor allem durch Erschießungen praktiziert worden sei. Obwohl tatsächlich aber knapp über die Hälfte der Opfer in Lagern starb, werden diese nur am Rande berücksichtigt. Auschwitz sei vielmehr zum Symbol stilisiert worden, das die andere Wirklichkeit des Mordens verdecken sollte.

Zu den beeindruckenden Passagen des Buches gehören die Kapitel zu jenen Akteuren, die Juden retten konnten oder dies auch getan haben. Eine massenhafte Rettung der Verfolgten war nur möglich, wenn die institutionellen Grundlagen hierfür vorhanden waren. Ausländischen Diplomaten war dies möglich, aber auch in begrenztem Ausmaß den Kirchen und den Untergrundbewegungen. Viele haben Rettungsaktionen initiiert, etwa Kirchen in Minderheitenposition, die Mehrheit jedoch nicht. Viele Retter entziehen sich einer klaren Zuordnung, einige unter ihnen waren ausgesprochene Antisemiten gewesen.

Snyders zentrales Argument zieht sich durch das ganze Buch und wird bisweilen gebetsmühlenhaft wiederholt: Es war in erster Linie die Zerstörung des Staates, die die Voraussetzung für die Massenmorde schuf. Dadurch werden die Retter oft stärker als von Strukturen unterstützt dargestellt, als dies in der Praxis der Fall war. Zweifelsohne hat die deutsch-sowjetische Zerstörung Polens und des Baltikums, aber auch die Zerstörung der älteren Sowjetstrukturen 1941 nicht nur den Juden allen Schutz entzogen, sondern auch Teile der Gesellschaft in die Zusammenarbeit mit den Deutschen geführt. Doch war diese Zerstörung nicht allein ein Ergebnis von Hitlers antistaatlichem, planetarischen Weltbild, sondern sie beruhte maßgeblich auf politischen und kulturellen Ursachen, etwa der Weigerung Polens, Hitlers Juniorpartner zu werden, aber auch antislawischer Stereotype. Und die "doppelte Staatszerstörung" im Baltikum und in Ostpolen war nicht die einzige Voraussetzung dafür, dass dort kaum Juden den Krieg überlebten, ebenso ist die extrem schnelle Besetzung durch deutsche Truppen in Rechnung zu stellen.

Das Konzept der Staatszerstörung bleibt im Buch insgesamt merkwürdig abstrakt. Snyder konzentriert sich auch weniger auf die Gebiete, in denen Strukturen zerschlagen waren und die als "unregierbar" galten, wie etwa den Unabhängigen Staat Kroatien oder Regionen, die von Partisanen beherrscht wurden. Im Zentrum stehen vielmehr Polen und das Baltikum. Obwohl den Deutschen – im Gegensatz zu den angeblich planvollen Stalinisten – im Buch immer wieder Anarchie und Chaos zugeschrieben wird, haben sie doch neue Strukturen an Stelle der alten gesetzt, eben den deutschen Besatzungsapparat, besonders dicht z.B. im annektierten Westpolen. Natürlich waren das keine Strukturen, die Juden schützten, im Gegenteil. Aber von "staatsfernen Räumen" kann in einigen der von Snyder behandelten deutschen Besatzungsgebiete in Osteuropa definitiv nicht die Rede sein.

Es ist ohnehin erstaunlich, dass in einer Gesamtinterpretation des Holocaust die Deutschen nur in Person von Hitler, Globocnik und einigen Rettern auftauchen. Unter den vielen individualisierten Miniaturen wird nur ein Täter näher skizziert: der Lette Viktors Arajs. Die deutsche Gesellschaft und die deutschen Eliten, die in letzter Zeit immer mehr ins Zentrum der Interpretation des Holocaust gerückt sind, bleiben im Buch fast außen vor.

Auch jene Staaten, die in Hitlers Europa bestehen blieben und immerhin eine eingeschränkte Souveränität behielten, werden im Buch recht kurz abgehandelt und dann vor allem unter der Fragestellung, wie viele Juden dort überlebten. Die Slowakei, Ungarn, Bulgarien und vor allem Rumänien beteiligten sich aktiv an der Vernichtungspolitik, aber auch in Frankreich, Norwegen und den Niederlanden trugen die Zentralverwaltungen aktiv zur Deportation in den Tod bei. Im besetzten Europa außerhalb der "Bloodlands" gab es kaum weniger Kollaboration beim Holocaust, allerdings nur wenige Morde im Lande selbst. Selbst Snyders Argument, die Staatsbürgerschaft sei der entscheidende Schutzschild für Juden in Hitlers Europa gewesen, überzeugt nicht ganz: auch Tausende Juden mit französischer, bulgarischer oder rumänischer Staatsbürgerschaft wurden ermordet, hingegen überlebten zahllose Juden in Rumänien, denen die Staatsbürgerschaft entzogen worden war, den Krieg.

Einen Schutz vor der aggressiven deutschen Vernichtungspolitik boten nicht allein Strukturen, sondern vor allem Entscheidungen jener semi-souveränen Länder: 1942 der Deportationsstopp der Slowakei und das Scheitern der deutsch-rumänischen Verhandlungen, 1943 die Entscheidung Bulgariens, aus seinen besetzten Gebieten radikal zu deportieren, und 1944 der Deportationsstopp Horthys in Ungarn, der wohl vor allem die Budapester Juden vor dem Tod bewahren sollte. Es wäre wohl eine Illusion anzunehmen, eine souveräne staatliche Struktur schütze vor Massenmord. Die Genozidforschung hat oft eher das Gegenteil gezeigt. Häufig waren es staatliche Akteure, die im Rahmen einer behaupteten oder gefühlten Bedrohung durchaus noch vorhandene staatliche Strukturen zum Massenmord nutzten.

Die Überschätzung des Zerfalls von Staatstrukturen gilt auch für Snyders gewagten Blick in die Zukunft. Mit seiner Prognose, der Holocaust könne sich wiederholen, hat er die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit sicher. Ohne Zweifel ist die Ökologie ein globales Konfliktfeld geworden: Klimakriege um Boden und Wasser finden bereits statt. Ob man jedoch die aktuelle Politik Putins oder die zukünftige Entwicklung Chinas mit den Konstellationen der 1930er-Jahre parallelisieren muss, das soll der öffentliche Diskurs beantworten. Mir scheint, dass hier eher die Spezifik des Holocaust als präzedenzloses Verbrechen in der Geschichte eingeebnet wird.

Timothy Snyder hat ein glänzend geschriebenes Buch vorgelegt, das zum Nachdenken herausfordert. Erklärungen des Holocaust ohne Politik und ohne politische Strukturen kann es nicht geben. Doch darf man gleichzeitig bezweifeln, dass allein Hitlers planetarisches Naturverständnis und die nationalsozialistisch-stalinistische Zertrümmerung Ostmitteleuropas ein komplexes Phänomen wie den Holocaust erklären können. Andererseits zeigt Snyder eindrücklich die Entwicklung der Politik und des Massenmordes in jenen Gebieten, die er als "Bloodlands" apostrophiert. Und er führt uns vor, wie wenig heutige Kategorisierungen für das politische Verhalten von Menschen in Hitlers Europa oft wert sind. Die meisten Menschen agierten nicht entlang fester Überzeugungen, sondern waren immer wieder aufs Neue vor Entscheidungen gestellt.

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