Cover
Titel
At Home in Postwar France. Modern Mass Housing and the Right to Comfort


Autor(en)
Rudolph, Nicole C.
Reihe
Berghahn Monographs in French Studies
Erschienen
Oxford 2015: Berghahn Books
Anzahl Seiten
272 S., 20 Abb.
Preis
€ 101,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hartmut Kaelble, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Trente Glorieuses, der außergewöhnliche Modernisierungsschub in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg, wurden zuerst von Ökonomen wie Jean Fourastié und Soziologen wie Henri Mendras untersucht und als Thema markiert. Sie gehen jetzt in die Hände der Historiker über, die nicht nur die Modernisierung der französischen Wirtschaft und der französischen Sozialmilieus ansehen, sondern entweder neue Aspekte dieser Modernisierung behandeln wie die Umweltdebatten, die Stéphane Frioux untersuchte, oder eher Schattenseiten aufdecken wie etwa die prekär bleibende Lage der französischen Arbeiter, über die Paul-André Rosental arbeitet, oder die Armut in den damals neu errichteten französischen Banlieux, die Christiane Reinecke erforscht.

Nicole C. Rudolph befasst sich mit einer noch nicht sehr stark untersuchten Seite dieses Modernisierungsschubs, der Planung der Wohnungsqualität und des Massenwohnungsbaus in Frankreich von den 1950er- bis zu den 1970er-Jahren. Sie konzentriert sich vor allem auf die Planung der Wohnungen und des Wohnungsinnern, auch auf Details wie offene oder geschlossene Küchen. Dabei befasst sie sich einerseits mit der Ministerialplanung und mit den Architekten, anderseits mit der Präsentation der Wohnungsprojekte in der Öffentlichkeit und in den Medien. Sie sieht in der Wohnungspolitik in Frankreich den Staat als ungewöhnlich starken Akteur, stärker noch als in den Niederlanden und in Skandinavien, weit entfernt von der Liberalisierung in der alten Bundesrepublik. Sie schildert den Wohnungsbau auch als Teil des Projekts der Renaissance der französischen Nation, als ein klassenübergreifendes Projekt, das die enormen Unterschiede zwischen bürgerlichem, proletarischem und bäuerlichem Wohnen in der Vier-Zimmer-Standardwohnung einebnen sollte. Der Wohnungsbau sollte nicht nur den enormen Wohnungsbedarf befriedigen, der durch die Kriegszerstörung und durch die Migration vom Land und aus den Kolonien entstand, sondern auch eine Kompensation für die Niederlage von 1940 und für das Leiden im Zweiten Weltkrieg sein. Der Wohnungsbau war schließlich auch ein Projekt zur Sicherung der Familie und der hohen Geburtenraten und blieb im Übrigen politisch weniger konfliktgeladen als die Familienpolitik.

Nicole Rudolph möchte den Blick auf die Trente Glorieuses in viererlei Hinsicht modifizieren. Sie möchte zeigen, dass nicht nur von zeitgenössischen Planern, sondern auch von den Sozialwissenschaftlern die französischen Frauen in den Trente glorieuses in ihrer Doppelrolle als Hausfrauen und als berufstätige Frauen vernachlässigt wurden. Sie möchte die französischen Frauen über den Wandel des Wohnens zu fassen bekommen. Sie möchte darüber hinaus unser Bild von den lebensfremden, abgehobenen zeitgenössischen französischen Architekten, das sehr stark von Le Corbusier geprägt ist, korrigieren. Sie zeigt, wie intensiv sich Planer und Architekten nicht nur mit der groben Stadtplanung, sondern auch mit dem neuen Wohnen befassten. Nicole Rudolph glaubt auch, dass man die Periodisierung dieser Modernisierung, die von Henri Mendras auf die Zeit zwischen 1965 und 1985 gelegt wurde, so nicht stehen lassen kann. Sie begann in ihren Augen schon 1945. Schließlich möchte Nicole C. Rudolph mit diesem Buch auch den französischen Massenwohnungsbau der 1950er- bis 1970er-Jahre historisieren, von dem düsteren Bild wegholen, das den grands ensembles inzwischen anhängt, und zeigen, dass der Massenwohnungsbau historisch auf einem breiten Konsens der Reformer beruhte, eine Art New Deal zum Abbau von Klassengegensätzen, zur Schaffung von Wohlstand für alle und zur Sicherung der familiären Privatsphäre war.

Das Buch hat deutliche Stärken. Es behandelt mit der staatlichen Planung und medialen Präsentation neuer Wohnformen einen wichtigen Aspekt der trente glorieuses und erklärt überzeugend, wie diese Planung in Frankreich weit über die bloße Verbesserung des Lebensstandards hinausging und zu einer gezielten Renaissance Frankreichs nach dem Zweiten Weltkrieg beitragen sollte. Das Buch schildert eindringlich eine Geschichte: Die anfangs noch diffuse, aber emphatische staatliche Planung einer neuen, die tiefen Klassenspaltungen und soziale Segregationen überwindenden Gesellschaft, eines komfortables Wohnens mit mehr Raum für Persönlichkeitsentwicklung als Teil eines neuen Frankreichs, einer Planung nicht nur durch Architekten, sondern auch durch Soziologen verschob sich allmählich zum Massenwohnungsbau der grands ensembles, der auf wachsende Kritik in den 1960er-Jahren stieß. Die großen Ambitionen dieses Modernisierungsprojekts werden deutlich, das in Vergessenheit geriet, während die Schattenseiten dieses Modernisierungsschub, vor allem die banlieux, durch die Jugendprotest und Attentate dieses Jahrhunderts in den Vordergrund geraten sind. Das Buch zeigt auch, dass diese Planungen nicht erst mit dem Bauboom der 1960er-Jahre, sondern schon früher begonnen wurden.

Gleichzeitig hat das Buch auch die eine oder andere Schwäche. Man erfährt nicht viel darüber, wie in diesen neuen Wohnungen gelebt wurde. Die Bewohner, die Familien, bekommen in diesem Buch selten eine Stimme, und wenn, dann nur indirekt über die Kritiker der grands ensembles. Wie sie selbst diese neuen Wohnungen nutzten, was sie daraus machten und was sie störte, bleibt eher im Schatten. Man weiß am Ende nicht so recht, wie sie diesen Wandel des Wohnens bewerteten. Das gilt auch für die Frauen, die sowohl als Hausfrauen als auch als berufstätige Frauen mit diesen Wohnungen zurechtzukommen hatten. Darüber hinaus liest man in diesem Buch wenig über den Wohnungsbau jenseits der zentralisierten Planung in Frankreich, über die kleinen Mietshäuser oder Individualhäuser, die Renovierungen von Altbauwohnungen in den vielen expandierenden großen und kleineren Städten. Dieser andere Wohnungsbau, sein Umfang, seine Bewohner, seine Architekten, Bauherrn und Bewohner, bleibt im Dunkeln, ist aber für die Bewertung dieses staatlichen Modernisierungsprojekts wichtig. Schließlich bleibt auch offen, ob die Datierung der trente glorieuses wirklich schon auf 1945 vorverlegt werden sollte und nicht mehr wie bei Henri Mendras auf die Zeit zwischen 1965 und 1985 gelegt werden sollte. Wirtschaftshistoriker wie Patrick Fridenson haben schon vor längerer Zeit vorgeschlagen, die trente glorieuses stärker aus den längeren historischen Wurzeln und auch schon aus Konzepten der Zwischenkriegszeit zu erklären und zu verstehen. Sie haben aber keinen Zweifel daran gelassen, dass sich die französische Wirtschaft und Gesellschaft erst seit den 1960er-Jahren wirklich veränderte.

Insgesamt ein lesenswertes Buch, das mit viel Verständnis ein französisches Modernisierungsprojekt untersucht und vorstellt, das dem deutschen wie dem angelsächsischen Publikum bisher meist fremd geblieben ist.