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Titel
Räume der Revolution. Kulturelle Verräumlichung in Politisierungsprozessen während der Revolution 1918-1920


Autor(en)
Aulke, Julian
Reihe
Studien zur Geschichte des Alltags 31
Erschienen
Stuttgart 2015: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
483 S.
Preis
€ 76,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Weinhauer, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Abteilung Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Lange war es still um die Erforschung der Deutschen Revolution von 1918. Erst in jüngster Zeit findet das Thema wieder Interesse.1 Diese neueren Arbeiten sind geprägt von kulturgeschichtlichen Perspektiven. Dies als Neuerung anzukündigen, sagt viel über den Stand der Revolutionsforschung. Unzweifelhaft hat sie wichtige Erkenntnisse erbracht, hinter die es heute kein Zurück mehr gibt. Prinzipiell ging es den älteren, zumeist politikgeschichtlichen Studien weniger darum, der Umbruchphase in ihrer Breite genauere Konturen zu geben. Vielmehr dienten sie nicht selten geschichtspolitischen Zwecken. Eine Revolutionsforschung, die den Blick auf sozial- und kulturgeschichtliche Grundlagen dieses Umbruches richtet und diesen in globale Kontexte einbettet, fehlt nach wie vor.

Julian Aulkes bei Stefan Haas und Dirk Schumann angefertigte Göttinger Dissertation ist von dieser notwendigen kulturgeschichtlichen Erweiterung der Revolutionsforschung geprägt. Auf dichter Quellenbasis bilden Berlin und das Ruhrgebiet die regionalen Schwerpunkte der Argumentation. Drei Ausgangsentscheidungen liegen ihr zugrunde: Sie wird eingebettet in einen größeren Zeithorizont, der von Detlef Peukert umrissenen Krisenjahre der klassischen Moderne2, sie arbeitet mit einem weiten Politikbegriff, der nicht vorrangig auf politische Lager und Ideologien schaut, und nutzt einen kulturalistischen Raumbegriff, der vom Zusammenwirken physischer Raummerkmale mit darauf bezogenen Imaginationen, Zuschreibungen und Aneignungen ausgeht. Somit dient Kultur als eigenständige Dimension in der Revolution und ihrer Interpretation. Aulkes Ausgangsthese ist, dass in der Revolution die seit dem Ersten Weltkrieg verschärfte Krise der Moderne kulminiert und der Umgang mit Raum als Reaktion auf diese Krise zu betrachten ist.

Grundsätzlich untersucht der Autor, wie in politischen Prozessen durch kulturelle Praktiken Räume und damit Wirklichkeiten generiert werden. Im Einzelnen wird die Organisation sowie die Herstellung von Räumen durch soziale Praktiken analysiert, der Rolle symbolisch gestalteter Räume und deren medialer Vermittlung nachgegangen, nach atmosphärisch aufgeladenen Räumen sowie nach der strukturbildenden Rolle materieller Räume gefragt. Dabei leiten vier Arbeitshypothesen den Autor: Er betont die identitätsgenerierende Bedeutung sozialer Unruhen, argumentiert gegen die bisherige Dominanz raumblinder parteipolitisch-ideologischer Kategorisierungen, betont die Vielschichtigkeit von Raum, die diskursive, materielle, aber auch immaterielle Ebenen umfasst, und unterstreicht die Wichtigkeit des Urbanen als Ort und Gegenstand sozialer Konflikte. In seiner Analyse kultureller Verräumlichungen geht es nicht wie in der älteren Forschung darum, soziale Akteure nach politischen Vorstellungen und Konzepten voneinander abzugrenzen, sondern zu analysieren, wie sie die krisenhafte Ordnung nach dem Ersten Weltkrieg über raumbezogene Praktiken kulturell ordneten. So sollen Bindekräfte sozialer Formationen ergründet werden, mit denen sie auf die krisenhaften Begleiterscheinungen der Moderne reagierten, die ihren Höhepunkt fanden in den Jahren 1918–20.

Die Einleitung zieht sich über 40 Seiten hin. Die Entwicklung der Fragestellung wird überlagert von vielen durchaus wichtigen Gedanken, die jedoch zu Lasten einer klaren und gebündelten Argumentation gehen. Neben vier Fragen finden sich vier Arbeitshypothesen, sechs theoretische Grundannahmen sowie weitere, über die Einleitung verteilte leitende Fragen. Im ersten Kapitel zur „Entstehung der Novemberrevolution“, das ebenfalls einleitenden Charakter hat, wird die Bedeutung des Ersten Weltkriegs für ein neues Verständnis räumlicher Ordnung herausgestrichen. In der Revolution kulminiert dann dieses Krisenszenario. Zudem wird auf die Entwicklung neuer Protestkulturen seit dem Kaiserreich eingegangen. Der zweite Teil untersucht die „Arenen politischer Kämpfe als Brennpunkte der Revolution“. Hier wird deutlich, welch große Bedeutung staatliche Gebäude und darauf bezogene Zuschreibungen für kollektive Aktionen hatten. Zudem waren halböffentliche Mikroräume wie Kneipen wichtig, weil in ihnen öffentliche und private Räume verschmolzen. Zudem wird betont, dass die Revolution ein urbanes Ereignis war, das jedoch in Berlin als Hauptstadt auf andere Rahmenbedingungen traf als im Ruhrgebiet als Metropolregion. Das dritte Kapitel „Bedrohte Räume – Ordnungs- und Sicherheitsdenken in der Stadt“ analysiert Konflikte um Ordnung, die zugleich Konflikte über öffentliche Räume waren. Wichtige Akteure in diesen Konflikten waren nicht nur die Polizei, sondern auch die Räte mit ihren Aktivitäten von der Verwaltungskontrolle bis hin zur Integration der Soldaten. Die Räte vermittelten zwischen den Raumnutzungen verschiedener sozialer Gruppierungen wie Wehrformationen, Polizei und der dezentral vernetzten Akteure der „Roten Armee“ im Ruhrgebiet im Umfeld des Kapp-Putsches. Jugendliche und Frauen zeigten alternative Raumerschließungen wie Singen oder Lärmen. Der vierte Teil „Umkämpfte Räume – Die Überwachung, Kontrolle und Wahrnehmung von Räumen“ verdeutlicht am Beispiel des in Münster ansässigen Nachrichtenbüros Kölpin, wie die Revolution zu einer Hochzeit des Beobachtens und Kartierens des öffentlichen Raums wurde (vor allem durch Spitzel). Leider folgen die Ausführungen zu kollektiven Aktionen von Arbeiterseite sowie bei der Zuschreibung politischer Kollektive wie ‚Spartakisten‘ bisweilen zu unkritisch massenpsychologisch grundierten Darstellungen. Behördliche bzw. militärische Logiken und Perspektiven werden so kaum gebrochen.

Im fünften Kapitel „Symbolische Repräsentation, kulturelle Codes und kommunikative Strategien“ wird gezeigt, dass es in der Revolution nicht nur um physische Räume ging, sondern auch symbolbezogen kommuniziert wurde (z.B. mittels Kleidung). Der Autor unterstreicht erneut die mangelnde Trennschärfe von Unterscheidungen, die vorranging auf politisch-organisatorische Zugehörigkeiten setzten. Auch kann er zeigen, wie Presse, Flugblätter, Plakate und Fotografien eingesetzt wurden, um symbolische Hoheit über Räume zu gewinnen. Das sechste Kapitel „‚Doing Space‘ – Sozialräumliche Protestpraktiken“ widmet sich der Frage, wie soziale Gruppen (Frauen, Jugendliche) in räumlichen kollektiven Aktionen (Streiks, Demonstrationen, Besetzungen, Plünderungen) Räume erschließen und kontrollieren konnten. Dies waren auch Angriffe auf die krisenhafte Ordnung des Kaiserreichs. Im letzten Kapitel „‚Von anderen Räumen‘ – Raumqualitäten und Wirkmächtigkeiten“ geht es um die Raumwirkungen von Noskes Schießbefehl vom 9. März 1919 sowie um Raumatmosphären.

Wie Aulke im Schlussteil resümiert, waren die „alternative Kartographie politischen Handelns“ (S. 435) und die kulturelle Verräumlichung Antworten auf die Ambivalenzen und Herausforderungen des Zeitalters der klassischen Moderne. Zudem sei die „geographische Anordnung des Schlachtfeldes nun auch auf den städtischen Raum“ übertragen worden (S. 422). Dies sind zwar interessante Thesen, sie werden jedoch kaum am Quellenmaterial entwickelt. Zudem ist das Ergebnis, Raum sei etwas Fließendes und wirke handlungs- und strukturprägend auf die Akteure, pauschal und nicht gerade neu. Auch die Erklärungskraft des Begriffs kulturelle Verräumlichung bleibt unklar. Die Stärke der Arbeit liegt in der Präsentation kulturgeschichtlicher Forschungsergebnisse, gerahmt von der Kenntnis sehr vieler Forschungspositionen sowie von der Präsentation theoretischer Konzepte. Letztere werden jedoch kaum zusammengeführt, was auf Dauer ermüdend wirkt und den Lesefluss stört. Stärker synthetisierende Analysen oder stringent umgesetzte Thesen, die die Darstellung durchgehend leiten, wären wünschenswert gewesen. Nach dem langen Stillstand der Revolutionsforschung ist diese Studie trotzdem ein wichtiger Beitrag, um die Debatte neu zu eröffnen und politikgeschichtlich geprägte Kategorisierungen zu überwinden. Julian Aulkes Arbeit hat angedeutet, wie wichtig räumliche Perspektiven bei diesem Neuanfang sein können.

Anmerkungen:
1 Klaus Weinhauer / Anthony McElligott / Kirsten Heinsohn (Hrsg.), Germany 1916–23. A Revolution in Context, Bielefeld 2015; Karl Christian Führer u.a. (Hrsg.), Revolution und Arbeiterbewegung in Deutschland 1918–1920, Essen 2013; Alexander Gallus (Hrsg.), Die vergessene Revolution von 1918/19, Göttingen 2010.
2 Detlev J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt am Main 1987.