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Titel
Duitse daders. De jodenvervolging en de nazificatie van Nederland (1940–1945)


Autor(en)
Boterman, Frits
Erschienen
Anzahl Seiten
573 S.
Preis
€ 27,50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Johannes Koll, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Wirtschaftsuniversität Wien

Aus keinem anderen westeuropäischen Land, das vom nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1940 und 1945 besetzt wurde, wurden bekanntlich so viele Jüdinnen und Juden deportiert wie aus den Niederlanden. Prozess und Gründe für die unvergleichlich hohe Deportations- und Ermordungsrate von gut 75 Prozent beschäftigen seit langem die Geschichtsforschung.1 Der Titel des jüngsten Buches von Frits Boterman, der an den Universitäten von Groningen und Amsterdam deutsche (Zeit-)Geschichte gelehrt hat und ein ausgewiesener Fachmann für die deutsch-niederländische Geschichte im 20. Jahrhundert ist, weckt die Erwartung, dass der Zusammenhang zwischen NS-Tätern, Judenverfolgung und Nazifizierung der Niederlande systematisch behandelt würde. Ein solcher Ansatz wäre durchaus anschlussfähig an und gewinnbringend für die Täterforschung, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten wichtige Ergebnisse für Verständnis und Interpretation des Nationalsozialismus in seiner Gesamtheit erbracht hat.2

Tatsächlich aber beschränkt sich „Duitse daders“ (dt.: Deutsche Täter. Die Judenverfolgung und die Nazifizierung der Niederlande [1940–1945]) erklärtermaßen auf die Präsentation „eines handlichen Überblicks über die Besatzungsjahre“ für Studierende und das breite Publikum (S. 7). So vermittelt Boterman Einblicke in die bisherige Geschichtsschreibung zu dieser einschneidenden Phase der niederländischen Geschichte, in die Organisation der deutschen Besatzungsverwaltung, in den sich stetig radikalisierenden Prozess der Judenverfolgung und das System der Konzentrationslager, in die Gleichschaltung des Kulturlebens, in den Beitrag, den einheimische Kollaborateure zu Nazifizierung und Judenverfolgung „geleistet“ haben, aber auch in den Widerstand, mit dem das NS-Regime in den Niederlanden mit zunehmender Intensität konfrontiert wurde. Auch auf die Frage nach dem Kenntnisstand der Zeitgenossen über den Holocaust, die in Reaktion auf ein Buch des niederländischen Historikers Bart van der Boom aus dem Jahr 2012 eine heftige Diskussion ausgelöst hat, geht Boterman ein.3

All diese Aspekte sind ebenso unverzichtbar für eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der Niederlande unter deutscher Besatzung wie die Erwähnung von grundlegenden Ereignissen wie die landesweiten Streiks und der desaströse, politisch induzierte „Hungerwinter 1944/45“. Entgegen dem Titel leistet Botermans Buch allerdings keinen Beitrag zur Phänomenologie und Typologie derjenigen, die fünf Jahre lang in den Niederlanden für die Durchführung von Judenverfolgung und Nazifizierung verantwortlich waren. Allein die fast durchgängige Verwendung von Kollektivsingularen wie „die deutschen Täter“, „die deutschen Besatzer“ oder schlicht „die Besatzer“ weist auf gewisse blinde Flecken (oder ein mangelndes Interesse) des Autors bezüglich einer differenzierenden, analytisch vorgehenden Täterforschung hin. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Geschichte der niederländischen Bevölkerung unter deutscher Besatzung. Die Chance, die Schnittstellen und Interdependenzen zwischen niederländischen Kollaborateuren und der deutschen Verwaltung, zwischen deutschen und niederländischen Beamten oder zwischen Deutschen und niederländischen Durchschnittsbürgern und -bürgerinnen eingehend zu untersuchen und in ihrer Vielfältigkeit zu plausibilisieren, lässt Boterman weitgehend ungenutzt verstreichen. Deutsch-niederländische Interaktionen werden allenfalls an zwei Punkten angesprochen: anhand von ausgewählten deutschfreundlichen, kollaborationsbereiten niederländischen Spitzenbeamten unter den sogenannten Generalsekretären sowie im Zusammenhang mit dem Jüdischen Rat – einem Gremium, dessen Status innerhalb der niederländischen Gesellschaft derart exzeptionell war, dass die Darstellung seiner Geschichte eine umfassende Interdependenzstudie für die Besatzungszeit in keiner Weise ersetzen kann. Dabei erlauben die Forschungs- und die Quellenlage durchaus, anhand von konkreten Einzelfällen herauszuarbeiten, wie die Besatzungsmacht Anreize für einheimische Kollaborateure gesetzt, wann sie ein erwartetes Entgegenkommen verweigert oder unter welchen Umständen sie Zwang eingesetzt hat – gehörte doch das Changieren zwischen „Zuckerbrot“ und „Peitsche“ zu den wesentlichen Instrumenten, derer sich Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart und seine Mitarbeiter exzessiv bedienten. Offen bleibt bei Boterman auch die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Berliner Reichszentralinstanzen (bzw. den Führerhauptquartieren) auf der einen und der Besatzungsverwaltung in Den Haag auf der anderen Seite gestaltete.

Unbefriedigend ist darüber hinaus, dass etliche Themenfelder, die für die deutsche Besatzungspolitik zwischen Mai 1940 und Mai 1945 konstitutiv waren, Leerstellen bleiben. Beispielsweise hätten die wirtschaftliche Verflechtung zwischen Deutschland und den Niederlanden sowie die zunehmend rabiater werdende Ausbeutung von Land und Leuten jeweils eine vertiefte Erörterung verdient. Die Gleichschaltung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen bleibt ausgespart, die schrittweise Ausschaltung der niederländischen Parteien, bis im Dezember 1941 nur noch die Nationalsozialistische Bewegung der Niederlande unter Führung von Anton Adriaan Mussert übrigblieb, stark unterbelichtet. Es fehlt auch jede Auseinandersetzung mit der deutschen Propaganda – wie begrenzt deren Einfluss auf die niederländische Bevölkerung faktisch auch immer gewesen sein mag. Dass nicht einmal das offizielle Presseorgan des Reichskommissariats, die „Deutsche Zeitung in den Niederlanden“, genannt, geschweige denn der Umgang der Besatzungsverwaltung mit den rasch gleichgeschalteten einheimischen Presseorganen analysiert wird, bringt die Darstellung der Nazifizierung der Niederlande um ein wichtiges Instrument der deutschen Zivilverwaltung. Am allerwenigsten wird der Versuch unternommen, das Erbe der Jahre 1940 bis 1945 in den recht gut erforschten größeren Kontext der deutsch-niederländischen Beziehungsgeschichte einzubetten.4 Wenn man bedenkt, dass diese Jahre wie keine andere Geschichtsphase die bilateralen Beziehungen auf verschiedenen Ebenen belastet hat, stellt der Verzicht auf eine historiographische Kontextualisierung ein bedauerliches Defizit dar.

Letztlich bietet „Duitse daders“ eine konventionelle Darstellung der Geschichte der Niederlande unter deutscher Besatzung ohne neue Ergebnisse oder Erkenntnisse. Anstelle analytischer Tiefenschärfe und eines systematischen Zugriffs trifft die Leserschaft mitunter auf die wenig weiterführende Kumulation von Namen oder Einzelereignissen. Kryptische Aussagen wie die Tatsache, dass im Konzentrationslager Amersfoort der Einsatz zu Außenarbeiten „schwer war“ (S. 193), dürfen kaum als erkenntnisfördernd angesehen werden. Schließlich führt die unzureichend strukturierte Gliederung dazu, dass sich für die Geschichtsforschung aus Botermans Buch keine neuen Perspektiven ableiten lassen. Damit eignet sich „Duitse daders“ als erste Orientierung über die Geschichte der Niederlande unter deutscher Besatzung allenfalls für diejenigen Leserinnen und Leser, die nach einem unprätentiösen Überblick über die deutsche Besatzung der Niederlande suchen und Niederländisch lesen können. Frische Impulse für die NS-Forschung vermag das Buch nicht zu vermitteln.

Anmerkungen:
1 Siehe etwa Pim Griffioen / Ron Zeller, Jodenvervolging in Nederland, Frankrijk en België 1940–1945. Overeenkomsten, verschillen, oorzaken, Amsterdam 2011. Demnächst erscheint hierzu Katja Happe, Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945, Paderborn 2017. Für einen Forschungsüberblick siehe Ido de Haan, Imperialism, Colonialism and Genocide. The Dutch Case for an International History of the Holocaust, in: Klaas van Berkel / Leonie de Goei (Hrsg.), The International Relevance of Dutch History (Bijdragen en Mededelingen betreffende de Geschiedenis der Nederlanden – Low Countries Historical Review 125 [2010], H. 2/3), Den Haag 2010, S. 301–327.
2 Siehe hierzu Johannes Koll, Biographik und NS-Forschung, in: Neue Politische Literatur. Berichte über das internationale Schrifttum 57 (2012), S. 67–127. Als Beitrag zur NS-Täterforschung für die Niederlande ist auch hinzuweisen auf: Ders., Arthur Seyß-Inquart und die deutsche Besatzungspolitik in den Niederlanden (1940–1945), Wien 2015.
3 Bart van der Boom, „Wij weten niets van hun lot“. Gewone Nederlanders en de Holocaust, Amsterdam 2012.
4 Vgl. etwa Friso Wielenga, Vom Feind zum Partner. Die Niederlande und Deutschland seit 1945, Münster 2000.

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