Cover
Titel
Haeckel's Embryos. Images, Evolution, and Fraud


Autor(en)
Hopwood, Nick
Erschienen
Anzahl Seiten
392 S.
Preis
€ 41,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Georgy S. Levit, Biologisch-Pharmazeutische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena / Universität ITMO, St. Petersburg

Der „deutsche Darwin“ Ernst Haeckel (1834–1919) zählt zu den bedeutendsten und einflussreichsten Persönlichkeiten in der europäischen Wissenschaftsgeschichte. Weite Bekanntheit erlangte er vor allem durch seine frühe Unterstützung und Weiterentwicklung der Darwinschen Evolutionstheorie. Dank seiner Bemühungen wurde die Universität Jena zu einem Pilgerort für Evolutionsbiologen und Wissenschaftshistoriker. Gleichzeitig gehörte Haeckel zu den umstrittensten Persönlichkeiten jener Zeit, da er zu spekulativen Hypothesen und radikalen weltanschaulichen Ansichten tendierte. In seinem monumentalen, zweibändigen Werk „Generelle Morphologie der Organismen“ (1866) führte Haeckel unter anderem die darwinistisch geprägten Begriffe Phylogenie (Stammesgeschichte) und Ontogenie (Embryonalentwicklung) ein und formulierte ein sogenanntes „Biogenetisches Grundgesetz“, wonach die Ontogenie die kurze und schnelle Rekapitulation der Phylogenie sei.1 Haeckels embryologische Untersuchungen, und vor allem die dem Gesetz zu Grunde liegenden Abbildungen, hielten Einzug in Biologielehrbücher und sind gar zu „Kulturikonen“ stilisiert worden. Der Wissenschaftshistoriker Nick Hopwood von der Universität Cambridge hat sich im vorliegenden Werk zur Aufgabe gemacht, die Wege, die zur „Ikonisierung“ einiger dieser Abbildungen führten, zu analysieren: „How do images become standard, canonical, classic, even iconic?“ (S. 2). Das Buch geht über den im Titel gefassten Vorsatz weit hinaus, und bietet keine bloße Rekonstruktion der Geschichte rund um die Haeckelschen Embryonenabbildungen – diese werden zum Anlass genommen, um allgemeine Fragen der Bilderstellung und -wahrnehmung aufzugreifen. Und doch stehen die Haeckel’schen Embryonen im Mittelpunkt des analytischen Vorgehens: „Haeckel’s embryos are exceptional, because over such a long period they have played so many of the different roles that images can play. That makes them broadly relevant“ (S. 4). Das Buch thematisiert dabei sowohl die unablässige Vervielfältigung der Bilder wie auch die Fälschungsvorwürfe, und fragt auch nach dem Zusammenhang zwischen ihrem Einfluss und der Kontroverse um ihre Übereinstimmung mit „wirklichen“ Embryonen.

Die Analyse beginnt mit vordarwinschen Denkern wie Martin Barry, Karl Ernst von Baer oder Theodor Bischoff, die die Entwicklung und Verbildlichung innerhalb der Embryologie stark beeinflusst haben. Der schweizerisch-US-amerikanische Naturforscher Louis Agassiz etwa lehnte Darwins Evolutionstheorie von 1859 ab und gab stattdessen katastrophistischen Erklärungen, wonach die Geschichte des Lebens von geologisch und klimatologisch verursachten Massenextinktionen bestimmt sei, den Vorzug. Dennoch hatte er Haeckels Annahme der Rekapitulation (biogenetische Grundregel; s. oben) präfiguriert: „Later a notorious antievolutionist […] Agassiz may seem a surprising precedent. But he prefigured Haeckel’s beliefs in recapitulation, vulnerability to the criticism that detailed empirical work lagged behind grand schemes, and need to address a general public that wanted vivid visual aids. For lectures in Boston in 1849, Agassiz assembled elaborate, schematic comparison of vertebrate embryos.“ (S. 27–28)

Die Wahrnehmung der Haeckelschen Embryonen war außerdem von der Entwicklung der Populärwissenschaft als ein selbstbewusstes und durchaus politisch aufgeladenes Genre, das sich an Laien richtete, beeinflusst. Haeckel war ein Künstler und Beobachter, und die romantische Bewegung beeinflusste seine Illustrationen. Jedoch allein die Welt zu beobachten war ihm zu wenig, er suchte nach Erklärungen. Erst die Auseinandersetzung mit den Darwinschen Theorien hat seiner Suche nach einheitlichen Strukturen von Lebewesen eine Grundlage gegeben. Seine künstlerische Vorstellungskraft weckte bei manchen Wissenschaftlern den Verdacht, dass Haeckel in seinen Embryonenabbildungen kraft seines Strebens nach einem darwinistisch fundierten Paradigmenwechsel das Wirkliche mit dem Gewünschten vermische. Nach einer sorgfältige Analyse, die auf Hopwoods eigener jahrelanger Forschung basiert, kommt der Autor zum Schluss, dass die Vorwürfe gegen Haeckel uminterpretiert werden müssen: „The illustrations just as recklessly served his truth, but it was less the specific forms of the embryos that courted controversy than the comparative frame, the schematic and dramatic style, and the exaggerated claims“ (S. 88). In einem Kapitel werden dazu die Bilder in Haeckels „Natürliche Schöpfungsgeschichte“ (1868) untersucht. Ein weiteres Kapitel ist dem Konflikt zwischen Haeckel und seinem Kritiker, dem Schweizer Anatomen Wilhelm His gewidmet. Man kann nach Lorrain Daston und Peter Galison den Konflikt zwischen Haeckel und His als einen Zusammenstoß zwischen dem Streben nach mechanischer Objektivität (His) und der Treue zur typologisch verstandenen „Wahrheit der Natur“ interpretieren2: „In this view, Haeckel worked within a code of truth to nature, which permitted manipulation to portray types, while His operated according to a code of ‚mechanical objectivity‘ committed to self-denial and the unvarnished depiction of individuals.“ (S. 107) Höchstwahrscheinlich war jedoch für Haeckel die „mechanische Objektivität“ weniger ein Problem als das „quantitative Herangehen“ von His.

Die Auseinandersetzung beider deutscher Kirchen mit Haeckels aggressivem Darwinismus findet in dem Buch ebenso seinen Platz. Die meisten deutschen Theologen haben den Aufstieg der Naturwissenschaften einfach ignoriert, es gab jedoch einige wenige, die darauf brüsk reagiert haben (S. 134). Während die Katholiken modernes Wissen generell als Materialismus abstempelten, waren die Protestanten versöhnlicher gestimmt, auch im Falle Haeckels. Trotzdem gab es Kritiker aus beiden Lagern, die Haeckel unter anderem vorwarfen, zu freihändig mit den Bildern umgegangen zu sein. Alle katholischen Schriftsteller, die sich zum Thema „Haeckel“ äußerten, standen in Opposition zu ihm. Manche haben ihm vorsätzliche Fälschung der Embryonenbilder im Sinne einer mutwilligen Abweichung von „realen“ Embryonen vorgeworfen.

Tatsächlich wurde Haeckel im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts von weiten Kreisen als Fälscher angesehen (S. 143). Dies könnte u.a. an seiner provokativen Rhetorik gelegen haben, oder auch an seinem Bestreben, sowohl Fachleute als auch Laien zu erreichen. Merkwürdigerweise standen seinerzeit nur die Embryonen- und Affenverbildlichungen unter Fälschungsverdacht, Haeckels Stammbäume wurden höchstens als spekulativ und dogmatisch abgetan. Die Kontroversen trugen mit dazu bei, dass zum Ende der 1870er-Jahre die Darwinsche Entwicklungstheorie aus dem Biologieunterricht an deutschen Schulen verbannt wurde. Gleichzeitig stieg Haeckel zur intellektuellen Leitfigur einer breiten Anhängerschaft auf (S. 192). Das Verbot machte die „verbotenen Früchte“ inklusive der Abbildungen der „Leibesfrüchte“ bei Teilen der Gymnasialschüler wohl nur noch populärer. Aus einer solchen Gruppe, die sich im Hinterzimmer einer Kölner Bierstube versammelte, stammte Wilhelm Bölsche, der zu einem der erfolgreichsten Sachbuchautoren der deutschen Geschichte werden sollte.

Auch die meisten Universitäten schlossen Haeckels Bilder von den offiziellen Universitätslehrplänen aus. Über viele Jahrzehnte enthielten deutsche Embryologie-, Zoologie- und Anatomielehrbücher keine Abbildungen der Haeckelschen Embryonen. Stattdessen wurde das Lehrbuch von Oscar Hertwig (1888) zur Standardlektüre an den Universitäten. Die offizielle kritische Haltung hatte jedoch wie in den Schulen auch im akademischen Umfeld eine stimulierende Wirkung. Schüler und Studenten waren von den Haeckelschen Bildern fasziniert, gerade weil sie angehalten wurden, diese zu meiden. Auch viele Frauen empfanden die Haeckelschen Schriften als befreiend: „Women did not so visibly participate in the big debates or as reviewers in the mainstream press, but around 1900 hosted ‚heated discussions of Haeckel and Darwin‘ at salons and clubs in Berlin and Vienna.“ (S. 196)

Die Embryonenbilder haben Haeckel überdauert und waren das 20. Jahrhundert hindurch international wirksam. Als Beispiel kann die Situation in den USA dienen, wo die Abbildungen schon nach 1900 wieder in die Schulbücher aufgenommen wurden, seit ca. 1930 in den College-Lehrplänen für Anfänger zu finden waren und seit den 1980er-Jahren auch in entwicklungsbiologischen Lehrbüchern abgedruckt wurden. Allerdings wurden die Bilder in den entsprechenden Texten zumeist von der Haeckelschen Theorien dissoziiert oder gar „gegen ihn benutzt“ (S. 280).

Hopwood geht auch auf das Schicksal der Haeckelschen Embryonenbilder in der heutigen Biologie ein. In den 1990er-Jahren bekam die Diskussion neuen Aufschwung. Verantwortlich dafür war das wachsende Interesse an den Beziehungen zwischen embryonaler Entwicklung und Evolution, die verstärkte Sorge um die Ethik der Wissenschaften und der Aufstieg der „Intelligent Design“-Bewegung. Die massiven Fälschungsanschuldigungen gegen Haeckel, die durch eine wissenschaftshistorische Publikation in der Fachzeitschrift „Science“ (1997) neu angekurbelt wurden3, haben die Kreationisten benutzt, um die Evolution von der embryonalen Entwicklung zu trennen. Dies ist jedoch grundlegend falsch. Die moderne Evolutionsbiologie unterstreicht nicht nur anatomische Ähnlichkeiten zwischen den Embryonen, sondern vor allem die zugrunde liegenden molekularbiologischen Homologien.

Das Buch von Nick Hopwood wird sicherlich nicht nur von der Fachwelt der Wissenschaftshistoriker willkommen geheißen, sondern von einem breiteren wissenschaftsinteressierten Publikum. Dafür gibt es mindestens drei Gründe. Erstens gibt es nur wenige englischsprachige monographische Studien zu Ernst Haeckel. Zweitens ist das vorgelegte Buch die derzeit detaillierteste Rekonstruktion der historischen Wahrnehmung der Haeckelschen Embryonen. Drittens schließlich ist es in einem flüssig zu lesenden und für Fachfremde verständlichen Schreibstil gehalten.

Anmerkungen:
1 Uwe Hossfeld / Georgy S. Levit / Lennart Olsson, Haeckel reloaded. 150 Jahre „Biogenetisches Grundgesetz“, in: Biologie in unserer Zeit 46, 3 (2016), S. 190–195.
2 Lorraine Daston / Peter Galison, Objectivity, New York 2007.
3 Elizabeth Pennisi, Haeckel’s Embryos. Fraud Rediscovered, in: Science 277 (1997), S. 1435.