S. Olsen (Hrsg.): Childhood, Youth and Emotions in Modern History

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Titel
Childhood, Youth and Emotions in Modern History. National, Colonial and Global Perspectives


Herausgeber
Olsen, Stephanie
Reihe
Palgrave Studies in the History of Emotions
Erschienen
Basingstoke 2015: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
XIII, 264 S.
Preis
$ 90.00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Rebecca Gudat, Universität München

Wenn auch seit den 1990er-Jahren in den Kultur- und Sozialwissenschaften immer wieder etwas großspurig von einem emotional turn die Rede war, so wurde in manchen Disziplinen dem Modewort forschungspraktisch doch eher wenig Folge geleistet, ja hat sich dieser turn längst noch nicht in dem Maße durchgesetzt, wie es eigentlich wünschenswert und jenseits von Wissenschaftstrends tatsächlich auch notwendig wäre. Zu diesen emotionsvergessenen Feldern gehörte, bis auf wenige Ausnahmen1, bis vor Kurzem auch die moderne Erziehungswissenschaft.

Zumindest für die historische Bildungsforschung versucht der auf eine Konferenz 2012 am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin zurückgehende und von Stephanie Olsen herausgegebene Band Childhood, Youth and Emotions in Modern History. National, Colonial and Global Perspectives diese Lücke zu schließen, indem er sich der Schnittstelle einer allgemeineren Geschichte der Emotionen, deren Normierung und sozialen Formung mit derjenigen von verschiedenen Kindheitskonzepten widmet. Denn was läge für eine Erforschung der Geschichte der Gefühle, wie sie am Max-Planck-Institut unter der Leitung von Ute Frevert vorangetrieben wird, näher, als diejenige menschliche Entwicklungsphase in den Blick zu nehmen, in der – glaubt man der modernen Psychologie – die Weichen auch für alle späteren Entwicklungen gestellt werden, und die spätestens seit dem 18. Jahrhundert zu einer universalen Projektionsfläche für verschiedenartigste Phantasmen und Utopien geworden ist. Insbesondere das Kind als strategisches Einsatzgut im Kampf um religiöse, soziale, vor allem aber politische Hegemonien steht hier im Mittelpunkt des Interesses.

Bereits in ihrem einleitenden Aufsatz (S. 12–34), der als konzeptionelle Klammer gedacht ist, stellen Karen Vallgårda, Kristine Alexander und Stephanie Olsen daher den Fokus des Bandes auf Kinder als sogenannte „agents of change“ (S. 12) heraus. Im Zentrum eines Großteils der Aufsätze stehen dann Zuschreibungen, die aus dem Kind als einem symbolischen Gut Profit schlagen. Nach Ansicht der Autorinnen befinde sich das Kind gar „at the heart of nation-building and empire-building projects“ (S. 28). Besonderes Anliegen des Bandes ist es dabei, einen (kontrastiven) globalen und interdisziplinären Zugang zum Themenverbund zu offerieren, weshalb nicht nur Beiträge zum (Post-)Kolonialismus, aus der Genderforschung sowie Architektur- und Religionsgeschichte versammelt sind, sondern diese räumlich sowohl Europa, Amerika, Neuseeland und Australien als auch Afrika und Asien umspannen. Zeitlich konzentrieren sich die Beiträge – wie das gesamte Forschungsprojekt – auf das 19. und 20. Jahrhundert.

Zunächst zeigt Ishita Pande in ihrem Aufsatz „Feeling Like a Child: Narratives of Development and the Indian Child/Wife“ (S. 35–55) an einem (Bildungs-)Roman und sexualpädagogischer Ratgeberliteratur Vorstellungskonzepte von weiblicher Kindheit und Adoleszenz unter dem Vorzeichen der indischen Kinderehe auf. Diese bis 1929 legale Praxis, die unter der britischen Kolonialherrschaft bis zu ihrem endgültigen Verbot mehrere Altersverschärfungen erfuhr, wird, so die These der Autorin, auch in den vermeintlich emanzipatorisch angelegten Texten nicht gänzlich verworfen, sondern an westliche Weiblichkeits- und Partnerschaftsideale angepasst und mit ihnen überblendet.

Ebenfalls unter die Lupe nimmt Swapna M. Banerjee an späterer Stelle des Bandes (S. 221–241) den Einfluss der britischen Kolonialherren auf die sich intimisierende Vater-Sohn-Beziehung in der bengalischen Mittel- und Oberschicht. Hierfür analysiert die Autorin verschiedene autobiographische Dokumente unter anderem des ersten asiatischen Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore (1861–1941).

Kathleen Vongsathorn („Teaching, Learning and Adapting Emotions in Uganda’s Child Leprosy Settlement, c. 1930–1962“, S. 56–75) und Hugh Morrison („Settler Childhood, Protestant Christianity and Emotions in Colonial New Zealand, 1880s–1920s“, S. 76–94) konzentrieren sich in ihren Beiträgen wiederum auf die Einflussnahme christlicher Missionare auf die Emotionen von indigenen und Siedlerkindern. Während Morrison den Verbund von religiöser und emotionaler Sprache beispielsweise in Kinderpredigten protestantischer Sonntagsschulen untersucht, interessiert sich Vongsathorn für die emotionale Umerziehung in einer ugandischen Lepra-Pflegestation. Der oft langwierige Aufenthalt habe dabei als willkommene Gelegenheit gedient, die ugandischen Kinder nicht nur ihren vermeintlich wenig kindgerechten Herkunftsfamilien zu entreißen, sondern auch, um sie zu bekehren. Gottvertrauen und Freude, durch den christlichen Glauben vermittelt, dienen als komplementäre Heilmittel. Einschränkend von beiden Autoren angemerkt wird der Mangel an Quellen aus Sicht der kindlichen Akteure selbst. So verbleiben, was als methodisches Defizit des gesamten Bandes konstatiert werden kann, mit Ausnahme von Jane Hamletts (S. 119–138) auch alle anderen Beiträge in der Regel bei Außendarstellungen.

Freude als vorschriftsmäßige Emotion und Signal geglückter karitativer Tätigkeit wie patriotischer Überzeugungen gleichermaßen konnten jeweils Juliane Brauer und M. Colette Plum aus den staatlichen Erziehungsprogrammen in der frühen DDR (S. 178–197) und dem China der 1937er- bis 1945er-Jahre (S. 198–220) in ihren Studien herauskondensieren. Hier wie dort werden glückliche Kinder zu gesamtnationalen Hoffnungsträgern stilisiert.

Deutlich patriotisch zugespitzt sind auch die American Legion’s Boy State- und Sommercamp-Programme, die Susan A. Miller in den USA untersucht hat (S. 158–177) und die durch eine außerschulische Pädagogik im Zeichen eines nationalistisch-virilen Habitus charakterisiert sind.

Marcelo Caruso schließlich beschäftigt sich mit den Schulreformbemühungen im Kolumbien des frühen 19. Jahrhunderts kurz nach der Unabhängigkeit (S. 139–157) und stellt die damalige Schulpolitik als getrieben von der Idee und Notwendigkeit eines „cooling down the passions“ (S. 141) vor. „[E]motional regimes“ betrachtet er insofern als in direkter Korrelation zu „political regimes“ stehend sowie Erziehungsinstitutionen als „one of their formative forces“ (S. 154).

Einen gänzlich anderen Blick auf Kindheit/Jugend bieten noch einmal die Beiträge von Roy Kozlovsky (S. 95–118) und Jane Hamlett (S. 119–138): Beide nähern sich dem Themenkomplex aus architekturtheoretischer Perspektive. So widmet sich Kozlovsky im Anschluss an einen eher methodologischen Teil zum Verhältnis von ästhetischen Repräsentationen und Emotionen einmal dem psychoanalytisch inspirierten Konzept von Nachkriegsspielplätzen zur kathartischen Abreaktion angestauter, kindlicher Aggressionen, zweitens kindlichen Bedürfnissen angepassten innenarchitektonischen Veränderungen in einem Krankenhaus der 1950er-Jahre sowie einer zur selben Zeit räumlich mit Tanz und Theater als Ausdruck demokratischer Freiheit experimentierenden Versuchsschule in England.

Jane Hamlett wiederum untersucht die Schlafsaalarchitektonik englischer Jungeninternate im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Ohne Aufsicht der Lehrer und gänzlich sich selbst überlassen, ist die Disziplinierung hier durch ein Präfektensystem älterer Schüler geregelt, was Schikanen und Missbrauch der Jungen untereinander befördert.

Der Sammelband schließt mit einem Beitrag von Lydia Murdoch (S. 242–260), in dem sie die Anti-Impfkampagne im England des späten 19. Jahrhunderts und einer damit einhergehenden neuen Trauerkultur um Kinder als politischen Emanzipationsakt der Arbeiterklasse deutet.

Insgesamt zeigt der Band damit auf, wie untrennbar Emotionen, Schul- und Erziehungspolitik ineinander verwoben sind. Thematisch ist der Verbund von Kindheit und Emotionen damit allerdings noch lange nicht erschöpft. Die Zuspitzung auf kindliche und mit Kindheit assoziierte Emotionen überwiegend für politische und ideologische Indienstnahmen kann daher einerseits als Stärke wie auch als Schwäche des Bandes interpretiert werden.

In jedem Fall aber trägt er dazu bei, auf die Bedeutung von Gefühlen in historischen wie auch gegenwärtigen Bildungs- und Erziehungskontexten hinzuweisen und in dieser Hinsicht nach wie vor bestehende gravierende Forschungslücken auszuleuchten.

Anmerkung:
1 Vgl. Ute Frevert / Christoph Wulf (Hrsg.), Die Bildung der Gefühle, Wiesbaden 2012.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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