V. Groebner u.a.: Wilhelm Tell, Import-Export

Cover
Titel
Wilhelm Tell, Import-Export. Ein Held unterwegs


Autor(en)
Blatter, Michael; Groebner, Valentin
Anzahl Seiten
142 S., 8 Abb.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Rainer Hugener, Zürich

Über Wilhelm Tell ist alles bekannt – könnte man denken. Tatsächlich werden wohl keine neuen Quellen auftauchen, mit denen sich die Existenz des eidgenössischen Nationalhelden einwandfrei beweisen oder widerlegen ließe. Die schweizerische Geschichtsforschung interessiert sich denn auch längst nicht mehr für die Frage der Historizität, sondern vielmehr dafür, wann und wie solche Geschichten aufgekommen sind und warum sie immer wieder neu erzählt werden – bis heute. Und diesbezüglich lässt sich nicht bestreiten: Tell ist „alive and well“. Davon zeugen Theateraufführungen, Filme, Comics, Videospiele, Werbeprodukte und politische Ansprachen ebenso wie das vorliegende Buch.

Nun hat sich also auch der Luzerner Geschichtsprofessor Valentin Groebner diesen Geschichten angenommen, zusammen mit seinem ehemaligen Assistenten Michael Blatter. Ihr Buch basiert auf einem Vortrag, mit dem das sogenannte Weiße Buch von Sarnen 2014 im Schweizerischen Nationalmuseum in Zürich präsentiert wurde. Wie andere Bücher Groebners ist auch dieses jüngste kein hochwissenschaftlicher Wälzer, der den Anspruch hätte, sein Thema erschöpfend abzuhandeln, sondern ein flott geschriebener Essay, den man in wenigen Stunden lesen beziehungsweise konsumieren kann. Denn genau darum geht es: um den Konsum von Geschichte, um Wilhelm Tell als Ware, die – wie der Untertitel des Büchleins suggeriert – über die Jahrhunderte hinweg immer wieder importiert, exportiert und reimportiert wurde.

Die Erzählung beginnt da, wo man es aufgrund der Überlieferungslage erwarten würde: beim Weißen Buch von Sarnen, in dem Tell, Apfelschuss und Tyrannenmord erstmals erwähnt werden. Auf plausible und verständliche Art erläutern Groebner und Blatter, warum diese Geschichte in ein Kanzleibuch aufgenommen wurde, das sonst vor allem Abschriften von Urkunden enthält. In den juristisch ausgetragenen Auseinandersetzungen mit Habsburg um 1470 scheint der Kanzlist Hans Schriber bemerkt zu haben, dass Obwalden seine Freiheitsansprüche kaum ausreichend dokumentieren konnte; aus diesem Grund fügte er seiner Urkundensammlung eine Geschichte bei, welche den Aufstand gegen die habsburgische Herrschaft legitimieren sollte.

Dass die gleiche Argumentation allerdings auch gegen sie selbst gewendet werden konnte, mussten die neuen eidgenössischen Führungsgruppen verschiedentlich am eigenen Leib erfahren – insbesondere im Bauernkrieg von 1653, als Aufständische sich als Tellen verkleideten und auf die Vertreter der Luzerner Herrschaft schossen. Bei den eidgenössischen Chronisten war Tell daher stets eine umstrittene Figur: Die erste gedruckte Schweizerchronik von Petermann Etterlin berichtet ausführlich über den Helden; Aegidius Tschudi hingegen erwähnt ihn nur widerwillig, und Diebold Schilling verschweigt ihn gänzlich. Wie Groebner und Blatter betonen, waren Chronisten eben nicht einfach harmlose Schreiberlinge, sondern selber involviert in die politischen Händel ihrer Zeit, insbesondere in das lukrative Geschäft mit dem Solddienst für fremde Mächte. Dementsprechend kann Schilling geradezu als pro-österreichischer Lobbyist gelten, während sein „Gegenspieler“ Etterlin als französischer Interessensvertreter operierte (S. 46f.). Der Gang durch die eidgenössische Historiographie – an sich eine eher spröde Angelegenheit – liest sich hier fast wie ein Agententhriller.

Auch auf die „Ursprünge“ der Tellgeschichte gehen die Autoren ein, machen zugleich aber auf die Problematik dieses Begriffs aufmerksam (S. 39). Vieles deutet darauf hin, dass die Geschichte von Tell aus Skandinavien importiert wurde, und auch in orientalischen Dichtungen kommt ein Apfelschuss vor. Zur gleichen Zeit, als die Geschichte von Wilhelm Tell erstmals schriftlich festgehalten wurde, entstand nördlich des Rheins außerdem der sogenannte „Hexenhammer“, der von einem Meisterschützen berichtet, der seine Fähigkeiten einem Bund mit dem Teufel verdankte. Dass Tell über einen „Evil Twin“ verfügt, belegt erneut, wie ambivalent diese Geschichte ist; die Autoren sprechen von einer „Kippfigur“ (S. 72), in der Opfer und Täter verschmelzen.

Anekdotenhaft berührt die Erzählung weitere Stationen der Tellgeschichte: Ihr Auftauchen in der amerikanischen, der französischen und schließlich in der helvetischen Revolution ebenso wie ihre Adaptionen für die Bühne, von denen Friedrich Schillers Version nur die bekannteste ist. Sein Drama wurde in Dutzende Sprachen übersetzt, unter anderem ins philippinische Tagalog. Der Übersetzer José Rizal, der wegen seiner kritischen Haltung gegenüber der spanischen Besatzungsmacht 1896 hingerichtet wurde, avancierte selber zum Nationalhelden; sein Denkmal in Manila stammt von keinem anderen als Richard Kissling, der auch die Tellstatue in Altdorf entworfen hat. Während Kissling Tell ein Gesicht verlieh, schilderten Schriftsteller wie Jeremias Gotthelf und Meinrad Inglin die dazugehörigen Gefühle. „Geschichtskino“ nennen dies Groebner und Blatter (S. 98). Den Soundtrack dazu lieferte die Oper von Gioacchino Rossini.

Mit Analogien, Aktualitätsbezügen und einer sehr bildhaften Sprache erläutern Groebner und Blatter die komplexen politischen Verhältnisse in der spätmittelalterlichen Eidgenossenschaft. Gemäß ihnen würde man Pensionen heute wohl als „Direktzahlungen an Lobbyisten“ ansehen (S. 44); die eidgenössischen Orte müsse man sich eher als Syndikat denn als Staat im heutigen Sinn vorstellen (S. 52). Bei der einen oder anderen Metapher mag man sich allerdings fragen, ob sie wirklich zu einem besseren Verständnis beiträgt: Heldengeschichten als „fliegende Teppiche“ (S. 37, 104)? Klar, das Bild soll illustrieren, dass eine gute Geschichte räumliche Distanzen quasi im Flug überwindet; dass sie sich dabei aber auch multipliziert und transformiert, ist beim fliegenden Teppich indessen nicht vorgesehen.

Inhaltlich stützt sich das Büchlein vor allem auf die bahnbrechenden Forschungen von Guy Marchal, Roger Sablonier und Bernhard Stettler; für Fachhistorikerinnen und -historiker hält es daher wenig Neues bereit. Dies ist aber auch gar nicht seine Absicht: Angesprochen werden soll eher ein Laienpublikum, dem auf anschauliche und unterhaltsame Weise einige Episoden aus der Geschichte der Tellgeschichte vorgeführt werden und das so einen Eindruck erhält, wie ein solcher Mythos konstruiert, transportiert, adaptiert und instrumentalisiert wird. Und genau das sollte durchaus ein zentrales Anliegen der Geschichtswissenschaft sein. Wer es dann noch etwas genauer wissen will, für den sind weiterführende Literaturangaben subtil in Endnoten untergebracht.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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