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Titel
Arglistige Täuschung. Ehemalige Stasi-Mitarbeiter in der Polizei des Landes Brandenburg nach 1990


Autor(en)
Ciesla, Burghard
Erschienen
Berlin 2016: be.bra Verlag
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Kittel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Nach dem Mauerfall und der deutsch-deutschen Vereinigung fanden in den neuen Bundesländern der Bundesrepublik Überprüfungen, Anhörungen, Entlassungen und massive Umstrukturierungen im öffentlichen Dienst statt: von den Hochschulen bis hin zum Militär – und eben auch im Polizeiapparat, den Burghard Ciesla untersucht hat. Der Berliner Zeithistoriker nimmt in seiner Publikation die unterschiedlichen Phasen solcher Personalüberprüfungen bei der Polizei des Landes Brandenburg für den Zeitraum von 1990 bis 1999 in den Blick. Der Titel „Arglistige Täuschung“ bezieht sich hierbei auf die „zweite Überprüfungsphase“ von „Stasi“-Verstrickungen, als es schon nicht mehr primär um die Entlassung von „Belasteten“ ging, sondern um jene Personen, die eine Verbindung mit dem Ministerium für Staatssicherheit der DDR (MfS) in den Fragebögen der ersten Überprüfung verschwiegen hatten.

Die Studie entstand im Auftrag des Brandenburgischen Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur. Für diese wertete Ciesla mehr als hundert (anonymisierte) Einzelfallüberprüfungen von Personen aus, die im Polizeidienst tätig und vor 1989 hauptamtliche oder inoffizielle Mitarbeiter der Staatssicherheit gewesen waren. Ziel der Studie war die Klärung der Rechtsstaatlichkeit des damaligen Verfahrens; zudem sollte die Untersuchung prüfen, ob die Weiterbeschäftigung ehemaliger MfS-Mitarbeiter juristisch gerechtfertigt war. Auf den knapp 130 Textseiten des Buches wägt Ciesla daher die Überprüfungspraxis in Brandenburg im historischen wie auch politischen Kontext tiefgreifend ab. Dabei führt er zunächst in das Thema Staatssicherheit und Volkspolizei vor 1989 ein, beschreibt dann den politischen Umbruch 1989/90 und in zwei weiteren Unterkapiteln den Ablauf der Personalüberprüfungen bei der Brandenburger Polizei in ihren unterschiedlichen Phasen sowie die Übernahme in den Polizeidienst und später die Verbeamtung. In einem Überblickskapitel weitet Ciesla den Blick auf die Überprüfungspraxis der anderen ostdeutschen Bundesländer. Im knapp einhundert Seiten langen Anhang finden sich unter anderem Untersuchungsgrundlagen und tabellarische Zusatzinformationen zu den Fallakten.

Die Einleitung der Studie listet die relevanten Fakten auf: Zum Ende des SED-Staates war jeder elfte Volkspolizist („Vopo“) offenbar nebenbei oder hauptamtlich ein Informant der Staatssicherheit (S. 7ff.). Das bedeutet in Zahlen, dass für die Jahre zwischen 1992 und 1999 etwa 12.100 Stasi-Zuträger in den Polizeidienststellen der neuen Bundesländer identifiziert wurden. Von diesen wurden 4.800 Personen entlassen, 7.300 „Belastete“ verblieben dagegen im Polizeidienst – davon 1.323 in Brandenburg. Hinter diesen Zahlen verschwindet aber Ciesla zufolge die „Binnenwelt“ der Einzelperson, die darüber Auskunft gibt, wie stark der Einzelne tatsächlich ideologisch belastet, weltanschaulich loyal oder eher karrierebedingt engagiert gewesen war. Eine Tätigkeit für die Staatssicherheit allein stellte damals juristisch betrachtet keinen hinreichenden Entlassungsgrund dar. Denn wie der Autor nüchtern konstatiert, konnte sich „einen ‚polizeifreien Raum‘ […] im Oktober 1990 niemand im Beitrittsgebiet der neuen Bundesrepublik leisten“ (S. 19).

In der „Entstehungsphase“ der Überprüfungen (Oktober bis Dezember 1990) war der Personalbestand bereits drastisch reduziert worden. Der Einigungsvertrag legte fest, dass alle Volkspolizisten zunächst automatisch in den Polizeidienst der neuen Bundesländer übernommen wurden. Es galten allerdings zwei Sonderkündigungsmöglichkeiten: bei „Verstoß gegen den Grundsatz der Menschlichkeit und Rechtsstaatlichkeit“ und bei der „Mitarbeit bei der Staatssicherheit“; weiterhin war bei fachlicher Unfähigkeit eine ordentliche Kündigung möglich. Ein Personalfragebogen legte 1990/91 die Grundlage für die Umsetzung des „Sonderkündigungsrechts“. Die Tiefe der „Verstrickung“ wurde im Rahmen der Einzelfallprüfung ausgelotet. Über die Verbeamtung der Polizisten entschied ein späteres Verfahren (S. 23ff.). Gekündigten „Belasteten“ blieb die Klage auf Weiterbeschäftigung. Und hier zeigte sich das vom Land Brandenburg gewählte Verfahren offenbar als rechtsstaatlich gesichert. Während nämlich in Berlin ein Drittel der gekündigten „Belasteten“ klagten und 10 Prozent davon Recht auf Weiterbeschäftigung erhielten und in Sachsen gar 25 Prozent der wegen „Stasi“-Verstrickung Entlassenen nach Klage beim Arbeits- und Verwaltungsgericht wiedereingestellt wurden, hatten die Klagen auf Wiedereinstellung in Brandenburg keinen Erfolg; die Entlassungen waren juristisch korrekt ausgesprochen worden. Die Zahl der verbliebenen Brandenburger Polizeibeamten mit „Stasi“-Hintergrund scheint aus der Perspektive der rechtsstaatlichen Verfahrensweise – zumindest was die Überprüfungen bis 1999 betrifft – dadurch ebenfalls gerechtfertigt.

Die Zusammenfassung am Ende der Studie resümiert, dass mit dem Ende der zweiten Überprüfungsphase insgesamt 601 Entlassungen angeordnet worden waren (S. 117). Eine dritte, im Jahr 2004 beschlossene Überprüfungsrunde, die unter Bezugnahme der inzwischen aufgefundenen „Rosenholz“-Dateien erfolgte,1 findet in Cieslas Untersuchung – aufgrund der zeitlich fixierten Aufgabenstellung – leider keine Berücksichtigung mehr. Die dabei aufgedeckten Fälle fielen zwar erneut unter die Kategorie der „arglistigen Täuschung“. Entlassungen dieser inzwischen als Beamte tätigen Personen wurden gleichwohl nicht mehr ausgesprochen.

Jenseits der Evaluation der Einzelfallentscheidungen des Landes Brandenburg, führt Ciesla konzentriert in das Beziehungsgeflecht von Staatssicherheit und Volkspolizei ein, besonders in die Veränderungen im Zuge der politischen Transformation. Diese Darstellungen machen das Buch besonders interessant. Die hohe Zahl von „Stasi“-Mitarbeitern in der Volkspolizei erklärt sich nämlich nicht zuletzt auch daraus, dass der im Dezember 1989 erfolgte Beschluss des Runden Tisches, das MfS in das Amt für Nationale Sicherheit umzuwandeln und dabei zu verkleinern, eine massenhafte Personalverschiebung in Gang setzte, vor allem in die Zollverwaltung, aber eben auch in die Volkspolizei (S. 46f.). Damit wurden MfS-Zugehörigkeiten verschleiert, Mitarbeiter erhielten neue Papiere, Zeugnisse wurden bereinigt. Dieses Vorgehen registrierten die „normalen“ Volkspolizisten mit Unmut; sie erwarteten Einsparungen und fürchteten die Konkurrenz. Ciesla beschreibt eindrücklich dieses massive Entscheidungs- und Handlungsvakuum, in dem es (für die Entmachteten) um die Absicherung eigener Pfründe ging – und der neuen Regierung der Überblick fehlte.

Seine Abhandlung befördert die Lesenden nochmals in die frühen Zeiten des gesellschaftlichen Umbruchs, in denen die Volkspolizei erforderlicher denn je war. Die Zahl der Verkehrsunfälle und die Kriminalitätsrate stiegen nach dem Mauerfall rapide an und neonazistische sowie rassistische Überfälle nahmen zu. Zeitungen schrieben vom „Krieg auf dem Asphalt“, die taz notierte am 20. Juli 1990, „auf den Straßen der DDR wird gerast, gesoffen – und gestorben“ (S. 56f.). Diese Zustände würden heutigen Polizeidienststellenleitern wohl ausreichend Gründe für einen Ausbau des Budgets liefern. Die Volkspolizei steckte damals aber in einer Art „Identitätskrise“, so Ciesla, die von Resignation und Verunsicherung bei den Einzelnen begleitet war: Existenzängste, Schuldgefühle, Ängste vor neuen Anforderungen und neuer Bevormundung, Unsicherheiten wegen der Revidierung des Feindbildes. Diese Stimmung spitzte sich in den folgenden Monaten zeitgleich mit den ersten Personalüberprüfungen zu. Viele „Vopos“ kündigten in dieser Umstrukturierungsphase, häufig auch um einer Freistellung vom Dienst zuvorzukommen; zudem wurden Entlassungen von Kollegen wegen fehlender Eignung ausgesprochen.

Dass die Personalüberprüfungen neben der Identifizierung von „Belasteten“ kurz- und längerfristig ebenso eine finanzielle Verschlankung wie auch politische Neuausrichtung des Polizeiapparates zum Ziel hatten, scheint in der Untersuchung immer wieder durch. So lässt sich feststellen, dass im Rahmen der deutsch-deutschen Vereinigung das große Heer an „Stasi“-Verstrickten der neuen Regierung auch ein schwer hinterfragbares Argument bot, den Abbau von Personalüberschüssen durchzuführen. Wenn aber der Publikation etwas vorzuwerfen ist, so die fehlende Bewertung des Verfahrens oder des „Erfolgs“ der Einzelfallprüfungen insgesamt. Die Binnenwelt der „Belasteten“, die Perspektive auf die Einzelfälle, deren vermeintliche „Arglistigkeit“ (jenseits der juristischen Kategorie) oder deren „Unschuld“, aber auch die Einzelfälle nach dem Fund der „Rosenholz“-Dateien haben in der Studie keinen Raum gefunden. Auch der Frage nach den mittel- und langfristigen Folgen dieser Entlassungs- und Weiterbeschäftigungspolitik für die Beteiligten geht Ciesla nicht nach.2 Hat der Umgang mit den Volkpolizisten nun die „Einheit“ der Polizei befördert und die Demokratie insgesamt gestärkt? Fragen wie diese waren aber nicht Bestandteil des Forschungsauftrags – gleichwohl lässt sich annehmen, dass Burghard Ciesla darüber ebenfalls fundiert und informiert hätte schreiben können.

Anmerkungen:
1 Siehe dazu Helmut Müller-Enbergs, „Rosenholz“. Eine Quellenkritik. Berlin 2007; siehe auch https://www.bstu.bund.de/DE/Wissen/Aktenfunde/Rosenholz/rosenholz_inhalt.html (15.06.2017).
2 Die Sicht der Betroffenen und der politische Verantwortlichen hat die Soziologin Nina Leonhard in Bezug auf die „Armee der Einheit“ untersucht: Nina Leonhard, Integration und Gedächtnis. NVA-Offiziere im vereinigten Deutschland, Konstanz 2016.

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