M. Tribukait: Gefährliche Sensationen

Cover
Titel
Gefährliche Sensationen. Die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien 1920-1970


Autor(en)
Tribukait, Maren
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
438 S.
Preis
€ 70,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jens Jäger, Historisches Institut, Universität zu Köln

Verbrechen lohnt sich nicht. Dieser Satz könnte auch für die Beschäftigung mit Kriminalität in den historischen Wissenschaften in Deutschland dienen. Arbeiten zur Kriminalität im 20. Jahrhundert gehören trotz einer kurzen Blüte um 2000 herum zu den eher randständigen Themen in der Geschichtswissenschaft. Ausnahmen bilden Studien zu Serienmördern und zu Sexualdelikten sowie im Rahmen der Erforschung der NS-Kriminalpolitik. In Kombination mit kultur- und medienhistorischen Ansätzen hingegen bildet auch der öffentliche Diskurs über Verbrechen ein vielfältiges, lohnenswertes Untersuchungsfeld. Es ist eine oft belegte Tatsache, dass Massenmedien seit dem 19. Jahrhundert regelmäßig und ausführlich über Kriminalfälle berichteten und auf diese Weise maßgeblichen Einfluss auf die Wahrnehmung von Verbrechen, Verbrechensaufklärung, Justiz und den immer wieder neu verhandelten gesetzlichen und gesellschaftlichen Normen ausübten.

Maren Tribukait setzt sich in ihrer 2013 in Bielefeld angenommenen Dissertation mit diesem Themenkomplex auseinander. Sie geht einerseits komparativ vor, indem sie deutsche und amerikanische Medien vergleicht und andererseits einen längeren Untersuchungszeitraum anlegt, der etwa 50 Jahre umspannt und damit jene Periode bearbeitet, die für beide Untersuchungsräume gemeinhin als die Hochzeit der illustrierten Massenpresse gilt. Da Zentren der Massenpresse immer auch urbane Zentren sind, konzentriert sich die Studie auf deutsche und amerikanische Großstädte, namentlich Berlin und New York. Allerdings sind angesichts der teils nationalen Verbreitungsgebiete der untersuchten Medien auch nationale (Teil-)Öffentlichkeiten im Blick. Ferner konzentriert sich Tribukait auf die visuelle und damit im Wesentlichen fotografische Komponente der Berichterstattung, da diese die Ambivalenzen gesellschaftlicher Kommunikation exemplarisch erfassen lasse (S. 10). Sie nutzt medientheoretische Ansätze (media effects approach und dominant ideology approach) und kombiniert diese komparatistisch mit kulturwissenschaftlich fundierten medienhistorischen Überlegungen (Visual History) sowie kriminologischen Ansätzen (labelling approach). Im Fokus stehen die Zeigbarkeitsregeln in den jeweils untersuchten nationalen Diskursen und deren Wandel zwischen den 1920er- und 1960er-Jahren. Das ist insgesamt durchaus gelungen und dem Thema adäquat.

Die Studie gliedert sich in drei große Abschnitte: Im ersten geht es um die USA und deren Boulevardpresse (Tabloids) in den Jahren von etwa 1920 bis 1945.1 Der zweite Abschnitt widmet sich der deutschen Boulevardpresse der 1920er- und frühen 1930er-Jahre, handelt die NS-Zeit auf nur 17 Seiten vergleichsweise knapp ab und untersucht dann schwerpunktmäßig die BILD-Zeitung der 1950er- und frühen 1960er-Jahre. Der dritte Teil wirft den Blick auf große Illustrierte diesseits wie jenseits des Atlantik zwischen 1920 und dem Ende der 1960er-Jahre. Angefügt ist ein kurzer Schluss, der die Erkenntnisse zusammenfasst. Es geht jeweils um eine systematische Erfassung der fotografischen Berichterstattung über Kriminalität und Verbrechen, Themen bilden aber auch Justiz und Strafvollzug.

Gut gelungen ist der Teil, der für die 1920er- und 1930er-Jahre nachzeichnet, welche Positionen für und wider die Bildberichterstattung über Kriminalfälle gegeneinander standen und welche Zeigbarkeitsregeln galten. Gerade dieser Diskurs ist ausführlich recherchiert und beinhaltet die Aussagen von Redakteuren, Fotojournalisten, Rechtspflegern und Debatten in Berufsvereinigungen, unter anderem der American Bar Association oder dem Deutschen Presse-Rat, die sich kritisch mit der Praxis der Presse auseinandersetzten. Dabei werden im Vergleich nationale Unterschiede deutlich: So hatten das organisierte Verbrechen in den USA oder Lynchings keine Pendants zur Berichterstattung in Deutschland, die zudem insgesamt stärker durch eine gewisse Zurückhaltung bei drastischen Bildern geprägt war. Das Spiel der Medien mittels Bildern, Meinungen und Emotionen bezüglich Verdächtiger oder Schuldiger zu schüren, gegebenenfalls Kritik an Strafverfolgungsbehörden und dem Justizsystem zu äußern, lässt sich hingegen auf beiden Seiten des Atlantiks beobachten. Auch, dass sich eine gewisse Angleichung der Zeigbarkeitsregeln in der Nachkriegszeit zeige, so Tribukait, lässt sich angesichts der zunehmenden Globalisierung der Medien nachvollziehen.

Anhand von zahlreichen Bildbeispielen werden die veröffentlichten Bilder analytisch einbezogen. Weniger ausführlich geschieht dies alles für den zweiten Teil des Untersuchungszeitraums. Dieses Ungleichgewicht fällt generell auf. Die empirische Basis der Arbeit ist für die 1940er- bis 1960er-Jahre weniger breit – für die Bundesrepublik Deutschland beschränkt sich die Untersuchung lediglich auf die BILD-Zeitung; von den Illustrierten werden Stern und Quick berücksichtigt; für die USA widmet sich Tribukait fast ausschließlich Life2, über Tabloids ist nichts mehr zu erfahren, da „in Weegees Fotografien Höhepunkt und ästhetische[r] Abschluss der New Yorker Tabloid-Kultur“ zu sehen sei (S. 40). Ob daher seit den 1940er-Jahren tatsächlich keine Verschiebungen der Zeigbarkeitsregeln mehr stattfanden, erscheint allerdings fragwürdig, selbst wenn Weegee (Arthur Fellig, 1889–1968) zweifellos der bekannteste Protagonist journalistischer Kriminalfotografie im Osten der USA war. Damit deutet sich an, wo die Untersuchung problematisch ist: Sie kann den komparatistischen Anspruch eigentlich nur für die 1920er- und frühen 1930er-Jahre erfüllen – und das auch nur mit den notwendigen Vorbehalten, die sich aus der empirischen Grundlage ergeben.

Auch die Auseinandersetzung mit der NS-Presse fällt eher knapp aus und kommt zu dem Ergebnis, dass die rigide Presselenkung des NS-Staates dazu führte, dass die Presse „Verbrechen nicht mehr zeigte“ (S. 296). Gleichwohl bediente sich auch die nationalsozialistische Presse Ausgrenzungsstrategien, Schuldzuweisung und Kriminalisierungen von Personen, freilich aus ideologischen und rassistischen Gründen, aber durchaus auch in sensationalistischen Modi.

Spätestens hier wird deutlich, dass der Begriff „massenmediale Verbrechensfotos“ (S. 8) unscharf ist. Meint er nur Bilder von Verbrechen selbst oder von Verbrechensfolgen oder auch solche Bilder einschließlich der Gerichtsverhandlungen und des Strafvollzugs sowie der Organe der Strafverfolgung und der Strafvollzugsinstitutionen? In der Arbeit zeigt sich, dass pragmatisch alle (fotografischen) Bilder einbezogen werden können, die von Behörden und vor allem Medien je zeitgenössisch in Zusammenhang mit Kriminalität, Kriminalitätsverfolgung und Strafvollzug gebracht wurden. De facto befasst sich die Arbeit dann aber fast ausschließlich mit Kapitalverbrechen, sprich: Tötungsdelikten, über die massenmedial berichtet wurde. Das spiegelt zwar das Interesse der (medien)historischen Forschung zum Thema Kriminalität wider, aber nicht unbedingt das, was tatsächlich über Kriminalität und Strafverfolgung massenmedial berichtet wurde. Der Anspruch die Visualisierung von Verbrechen in deutschen und amerikanischen Pressefotografien zwischen 1920 und 1970 in grundsätzlichen Zügen analytisch zu erfassen, kann so nicht eingelöst werden. Wenngleich die generellen Aussagen über Zeigbarkeitsregeln oder nationale Eigenheiten in der Berichterstattung bis in die 1930er-Jahre zu überzeugen vermögen, müssen die Thesen über die Jahrzehnte danach skeptisch betrachtet werden. So stellt „Gefährliche Sensationen“ eine verdienstvolle Pionierstudie für komparatistische Studien zum Themenkomplex dar, der weiterer intensiver Forschung bedarf.

Anmerkungen:
1 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auch amerikanische Illustrierte schon lange vor 1920 auf Fotografie setzten und keinesfalls in der Regel auf Holzstiche angefertigt nach fotografischer Vorlage zurückgriffen (S. 324). Gleiches gilt im Übrigen für amerikanische Tageszeitungen – auch hier hatte Fotografie schon vor den 1920er-Jahren breit Einzug gehalten.
2 Im Quellenverzeichnis ist „Life“ aber seltsamerweise nicht aufgeführt (S. 408).

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Redaktionell betreut durch