M. Gailus u.a. (Hrsg.): Für ein artgemäßes Christentum

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Titel
Für ein artgemäßes Christentum der Tat. Völkische Theologen im „Dritten Reich“


Herausgeber
Gailus, Manfred; Vollnhals, Clemens
Reihe
Berichte und Studien 71
Erschienen
Göttingen 2016: V&R unipress
Anzahl Seiten
330 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Katrin Riedel, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Die Forderung nach einer religiösen Erneuerung und die Suche nach einer dem deutschen Wesen arteigenen bzw. artgemäßen Religion bildeten in den seit der Wende zum 20. Jahrhundert aufkeimenden und erstarkenden völkischen Weltanschauungskonzepten einen essentiellen Grundpfeiler und eine unabdingbare Voraussetzung auf dem Weg zu einer „deutschen Wiedergeburt“. Dies führte zu einem facettenreichen Angebot völkisch-religiöser Glaubenskonzepte, deren Bandbreite von einem antikatholisch und antisemitisch geprägten Deutschchristentum bis hin zu antichristlich ausgerichteten, deutsch- und germanisch-gläubigen Vorstellungswelten reichte.1 Erste Forschungsbeiträge zu (nationalprotestantischen und) völkischen Theologen und ihrem Wirken in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen bereits Ende der 1980er-Jahre,2 allerdings blieb das Interesse der Forschung an weiteren biographischen Untersuchung bis in die 2000er-Jahre nur rudimentär ausgeprägt. Erst in der jüngeren Forschungsliteratur ist ein Anstieg insbesondere in der Auseinandersetzung mit der Täter- und Komplizenschaft von Theologen und kirchlichen Institutionen zwischen 1933 und 1945 und einer kritischen Betrachtung der anschließend von Vertretern beider christlichen Konfessionen verbreiteten Mär einer christlich-moralisch unbescholtenen Haltung zur Zeit des Nationalsozialismus zu verzeichnen.3

Diesem nicht ganz unerschlossenen Forschungsfeld widmete sich 2014 eine am Dresdener Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V. durchgeführte Tagung unter dem Titel „Völkische Theologen im Dritten Reich. Biographische Studien“, deren Beiträge ausschließlich protestantische Theologen thematisierten und in erweiterter Form im hier zu besprechenden Sammelband publiziert wurden. Mit 15 biographischen Beiträgen zu 16 in der Forschung überwiegend nicht unbekannten Persönlichkeiten sind die Herausgeber darum bemüht, „einen halbwegs repräsentativen Querschnitt durch das weite Feld nationalprotestantischer und völkischer Theologen der Epoche“ (S. 15) zu liefern. Neben habilitierten Theologen und ordinierten Pfarrern wurde mit dem Kunsthistoriker und Publizisten Wilhelm Stapel auch ein theologischer Laie in die Reihe der untersuchten „völkischen Theologen“ aufgenommen. Ein Manko in dieser Auswahl portraitierter national- und völkisch-protestantischer Akteure besteht in der Vernachlässigung von Frauen wie etwa Guida Diehl (1868–1961), die 1912 den rechtskonservativen evangelischen Neulandbund gründete. Diese Vernachlässigung zieht sich bislang durch die gesamte Forschung zu völkisch-religiösen Gruppierungen und Personen, in der Frauen nur äußerst stiefmütterlich und im Schatten einer männlichen Dominanz behandelt werden.

Die Herausgeber Manfred Gailus und Clemens Vollnhals leiten den Sammelband mit einer biographischen Kurzvorstellung zweier „Tatmenschen“ eines völkischen Protestantismus ein: Ludwig Müller (1883–1945), der im September 1933 zum Reichsbischof der Deutschen Evangelischen Kirche ernannt wurde, und Joachim Hossenfelder (1899–1976), Mitbegründer und 1. Reichsleiter der 1932 als Kirchenpartei gegründeten „Glaubensbewegung Deutsche Christen“. Der regionale Wirkungsbereich national- und völkisch-protestantischer Bewegungen lag hauptsächlich im Norden, im Osten und in der Mitte des Deutschen Reiches (S. 13). Das Beispiel des bayerischen Pfarrers Wolf Meyer-Erlach zeigt aber, dass vereinzelt auch in katholisch dominierten, südlichen Gebieten völkisch-religiös infizierte Vertreter anzutreffen waren. Den Einleitungstext abschließend verweisen die Herausgeber auf die „drei Dimensionen eines völkischen Protestantismus“ (S. 17), denen die untersuchten Protagonisten beispielhaft zugeordnet werden: 1. Die tonangebenden Akteure des völkisch-theologischen Diskurses (Reinhold Seeberg, Emanuel Hirsch, Paul Althaus, Wilhelm Stapel, Johannes Leipoldt, Walter Grundmann, Hermann Wolfgang Beyer), 2. Aktivistische deutschchristliche Parteikämpfer und Bewegungsmänner (Gerhard Meyer, Franz Tügel, Martin Sasse, Walther Schultz, Wolf Meyer-Erlach) und 3. Politische „Tatmenschen“ (Ernst Szymanowski/Biberstein, Eugen Mattiat, Walter Hoff).

Die Autoren variieren in ihrer Schwerpunktsetzung zwischen einer rein biographischen Darstellung der wesentlichen Lebensstationen der vorgestellten Vertreter mit Konzentration auf den Zeitraum zwischen 1933 bis 1945 einerseits – dies mag in einigen Fällen der Quellenlage geschuldet sein, insbesondere wenn der betrachtete Protagonist kaum publizistisch tätig war – und einer Untersuchung der völkisch- und nationalprotestantischen Dimension innerhalb der christlich-theologischen Vorstellungswelt sowie des Versuchs einer Konsensbildung zwischen christlicher Lehre und nationalsozialistischer Weltanschauung andererseits. Allen im Sammelband vorgestellten national- und völkisch-protestantischen Theologen war der kirchenpolitische Wunsch gemein, eine National- oder Volkskirche zu errichten, die christlich-protestantische Lehre von jüdischen Einflüssen zu befreien und die diesseits-orientierte Weltanschauung des Nationalsozialismus mit national- und völkisch-protestantischen Sinngehalten zu füllen. Die Unterschiede sind in konkreten Ausformulierungen dieser Sinngehalte zu finden, deren Facettenreichtum von Arisierungsversuchen jüdischer Bestandteile in der christlichen Religionsgeschichte, wie etwa die Lehre von der germanischen oder arischen Herkunft Jesus Christi, über Exklusion von Konvertiten jüdischer Herkunft aus der christlichen Gemeinschaft bis hin zu Forderungen nach und Förderungen von rassenhygienischen Maßnahmen rangierten.

Einen biographischen Sonderfall thematisiert die Historikerin Dagmar Pöpping mit ihrem Beitrag zu Pfarrer Hermann Wolfgang Beyer, der, aus einem liberal-protestantischen Elternhaus stammend, sich während seines Studiums nationalkonservativen und völkisch-protestantischen Ideen zuwandte und 1933 der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ wie auch der SA beitrat. Allerdings wechselte er aufgrund seiner Kritik an der Kirchenpolitik des Reichsbischofs Müller zur kirchenpolitischen Opposition – der Bekenntnisbewegung –, bewahrte gleichwohl bis zu seinem Tod 1942 seine loyale Haltung zum NS-Staat. Einige Autor/innen (unter anderem Tanja Hetzer und Dirk Schuster) verfolgen den biographischen Werdegang der portraitierten Protagonisten über 1945 hinaus. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass es einem Großteil gelang, nach einer offiziellen Lossagung von christlich-völkischen Versatzstücken im neuen politischen System auf theologisch-institutioneller Ebene weiterhin Einfluss auszuüben. Erstaunlich ist die Nachkriegsbiographie des Pfarrers Eugen Mattiat, der 1938 durch Kirchenaustritt mit der evangelischen Kirche und dem Pfarramt brach. Dennoch gelang es ihm zu Beginn des Jahres 1953, wieder in den geistlichen Stand aufgenommen und mit einem Pfarramt in einer kleinen Gemeinde im Harz betraut zu werden.

Bedauerlicherweise verzichten die Herausgeber auf ein die vielfältigen Ergebnisse der Beiträge systematisierendes Resümee. Es bleibt den Leser/innen überlassen, neue Forschungserkenntnisse etwa zu Gemeinsamkeiten (zum Beispiel geistige Väter), personellen und institutionellen Netzwerken oder gar fundamentalen Unterschieden im Lebenslauf und in der Auseinandersetzung mit Konformitätsfragen zwischen Christentum und Nationalsozialismus nicht zu übersehen und selbständig anhand der Lektüre der Lebensbeschreibungen zu eruieren. So besteht beispielsweise eine institutionelle Verbindung zwischen Leipoldt, Grundmann, Meyer-Erlach, Schultz und Sasse, die allesamt Mitarbeiter und zum Teil leitende Personen des im April 1939 gegründeten landeskirchenübergreifenden „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ – des sogenannte Eisenacher Entjudungsinstituts – waren. Dennoch gewährt die Zusammenstellung dieser 16 (zum Teil sehr unterschiedlichen) Portraits völkisch- und nationalprotestantischer Akteure einen facettenreichen Einblick in das weite Spektrum an Glaubenskonzepten und Vorstellungswelten von einem arteigenen Christentum. Der Sammelband bietet eine Grundlage für weiterführende Forschungen über einzelne Protagonisten und eine Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit christlich-theologischer Institutionen beider Konfessionen.

Anmerkungen:
1 Siehe Jörn Meyers, Religiöse Reformvorstellungen als Krisensymptom? Ideologen, Gemeinschaften und Entwürfe „arteigener Religion“ (1871–1945), Frankfurt am Main 2012.
2 Zum Beispiel: Gabriele Romig, Pastor Heinrich Kähler. Ein schleswig-holsteinischer Theologe im Spannungsfeld zwischen nationaler und kirchlicher Erneuerung während der Zeit des Ersten Weltkrieges, der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Flensburg 1988.
3 Siehe hierzu Hansjörg Buss, „Entjudete“ Kirche. Die Lübecker Landeskirche zwischen christlichem Antijudaismus und völkischem Antisemitismus, Paderborn 2011; Manfred Gailus (Hrsg.), Täter und Komplizen in Theologie und Kirchen 1933–1945, Göttingen 2015.

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