J. Seibert: In die globale Wirtschaft gezwungen

Titel
In die globale Wirtschaft gezwungen. Arbeit und kolonialer Kapitalismus im Kongo (1885-1960)


Autor(en)
Seibert, Julia
Erschienen
Frankfurt am Main 2016: Campus Verlag
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 39,95
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Felix Schürmann, Universität Kassel

Unter dem Einfluss der Post-colonial Studies haben sich Forschungen zur Kolonialherrschaft in Afrika seit den 1990er Jahren intensiv mit kultur- und diskursgeschichtlichen Aspekten befasst. Das Interesse an der sozial- und wirtschaftsgeschichtlichen Dimension kolonialer Verhältnisse ist indes nicht abgeklungen, zuletzt scheint es eher zu erstarken.1 Die vorliegende Studie über Arbeit und „kolonialen Kapitalismus“ im Kongo, mit der die Historikerin Julia Seibert 2012 an der Universität Trier promoviert wurde, lässt sich als Ausdruck dieser Entwicklung lesen: Über die Klärung der Frage, wie der Kolonialstaat in subsistenzbäuerlich organisierten Gesellschaften das Arbeitsmodell des Industriekapitalismus durchzusetzen vermochte, sucht die Autorin sowohl Einsichten in die Transformation kongolesischer Arbeits- und Lebenswelten gewinnen als auch die Globalgeschichte der Arbeit um Befunde zu Zentralafrika erweitern.

Im ersten der insgesamt drei Teile, „Übergänge“, untersucht Seibert die Anfänge der kolonialen Arbeitspolitik im Kongo. Aus Sicht der Kolonialverwaltung eröffnete das Anziehen der Kautschuknachfrage auf dem Weltmarkt in den 1890er Jahren die Chance, den jungen und bis dahin defizitären „Freistaat“ in eine profitable Unternehmung zu verwandeln. Mittels direkter, brutaler Gewalt – den berüchtigten „Kongogräuel“ – und auch durch Besteuerung zwang die Administration zunächst die Bevölkerung im Umland des Kongos und seiner Nebenflüsse in die Kautschukproduktion. Diese bereits viel beforschten Ereignisse handelt die Autorin nur überblicksartig ab. Ihr Hauptinteresse gilt der Zeit nach der Annexion der Kolonie durch Belgien. Die 1908 vorgenommene Umwandlung des seit der Berliner Afrika-Konferenz als internationale Freihandelszone konzipierten Gebiets in eine Kolonie des belgischen Staats wertet Seibert als Ausdruck von Bestrebungen, den Kongo institutionell und infrastrukturell tiefer zu durchdringen, um nach dem Abebben des Kautschukbooms andere Rohstoffe wie Palmöl effizient ausbeuten zu können.

Obschon der Entstehung von „Belgisch-Kongo“ eine lange, ins 15. Jahrhundert zurückreichende Geschichte kolonialer Einflussnahme vor allem an der Küste vorausging, bedeutete die gewaltsame Integration der Region in das belgische Kolonialprojekt einen tiefgreifenden Einschnitt – der, wie die Autorin herausstellt, im Kongo auch als solcher wahrgenommen und erinnert worden ist. Neben zerstörerischen Eroberungsfeldzügen oder der verheerenden Ausbreitung neuer Krankheiten begründet auch die Ausweitung der Zwangsarbeit den Zäsurcharakter jener Phase. Für ländliche Gemeinschaften folgte aus dem Verlust von Männern, die der Kolonialstaat zur Arbeit in den Kautschukwäldern, beim Eisenbahnbau oder in der Armee verschleppte, eine chaotisch verlaufende Auflösung etablierter Wirtschafts- und Sozialstrukturen.

Die Dynamiken, die sich im Zuge der Neuordnung der Kolonie ab 1908 hinsichtlich der Mobilisierung von Arbeitskraft ergaben, stehen im Zentrum des zweiten Abschnitts, „Krisen“. Offiziell wurde Zwangsarbeit zunächst verboten. Tatsächlich ermöglichte die belgische Variante indirekter Kolonialherrschaft es Unternehmen durchaus, Arbeiter gewaltsam zu rekrutieren. Im Normalfall aber sollten sich Kongolesen durch den Anreiz der Lohnzahlung selbst entscheiden, ihre Arbeitskraft zu verkaufen. Weil dies jedoch kaum geschah und der Arbeitermangel die ökonomische Inwertsetzung der Kolonie zu gefährden drohte, führte die Administration 1909 die Zwangsarbeit ein und ordnete nun Tausende Männer zum Ausbau des Schienen- und Straßennetzes ab. Um das Risiko von Flucht zu vermindern, wurden die Betroffenen in weit vom Heimatort entfernten Gegenden eingesetzt. Auf Widerstand reagierten die Unternehmen, denen sie unterstellt wurden, mit Auspeitschen oder Anketten.

Ebenfalls in das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts fiel die Entdeckung von Bodenschätzen im Süden und Osten des Kongo, die zur partiellen Industrialisierung der Kolonie und mithin zur Mobilisierung Hunderttausender Lohnarbeiter führte. Am Beispiel der Gold- und Kupferminen von Kilo-Moto und Katanga veranschaulicht Seibert die Gewaltförmigkeit dieser Entwicklung: Während der Staat ein System der „Zwangsarbeit gegen Lohn“ (S. 112) sowie eine Kopfsteuer für Männer einführte, um sie in die Lohnarbeit zu zwingen, suchten Minenkonzerne die Flucht aus den unmenschlichen Bedingungen in den Arbeiterlagern durch Körperstrafen zu verhindern.

Die großflächigen Konzessionsgebiete für die industrielle Palmölproduktion, die Belgien 1911 dem britischen Lever-Konzern zusprach, bildeten eine weitere Arena der Mobilisierung von Arbeitskraft. Zur Zwangsrekrutierung und Überwachung von Arbeitern baute Lever eine Privatarmee auf, deren brutales Vorgehen zeitweise erheblichen Widerstand hervorrief. Indem die Monopolisierung der Wälder eine subsistenzorientierte Nutzung von Ölpalmen verunmöglichte, zerstörte sie wirtschaftliche Gefüge und damit verbundene Sozialstrukturen. Nicht zufällig bildete sich die erste bedeutende Protestbewegung in der Kolonie, die Pende-Revolte von 1931, im Umfeld eines Palmölwerks heraus.

Um auch die noch unabhängigen Teile der bäuerlichen Landbevölkerung in die koloniale Ökonomie zu integrieren, verfügte Belgien ab 1917 den Zwangsanbau von Cash Crops: Unter Androhung von Auspeitschungen und Geldstrafen musste jeder bäuerliche Haushalt auf einem Teil seiner Nutzflächen anbauen, was der Kolonialstaat anordnete – zu einem erheblichen Teil war dies Baumwolle. Im Zusammenspiel mit einer hohen Steuerlast bewirkten die niedrigen Baumwollpreise die Verarmung der bäuerlichen Bevölkerung. Indes stieg die Arbeitslast enorm und führte zu einer Zunahme von Kinderarbeit. Anhand lebensgeschichtlicher Interviews zeigt Seibert, dass Auspeitschungen und andere Bestrafungen von Bauern, deren Baumwollernte der Kolonialstaat als unzureichend beurteilte, bis heute ein zentrales Element der Erinnerung an die Kolonialherrschaft bilden.

Im dritten und letzten Teil, „Korrekturen“, befasst sich Seibert in drei ereignisgeschichtlich gerahmten Kapiteln schlaglichtartig mit Widerstand gegen die Arbeitspolitik im Kongo und den belgischen Reaktionen darauf. In Belgien geriet die Zwangsarbeit in der Kolonie erstmals in den 1920er Jahren in die Kritik, als klar wurde, dass die massenhafte Verschleppung von Männern im Zusammenwirken mit der gesteigerten Arbeitsbelastung von Frauen einen drastischen Geburtenrückgang verursachte. Der Höhepunkt der Debatte fiel 1930 mit der Forderung der International Labour Organisation an die Kolonialmächte zusammen, sich einer multilateralen Konvention gegen Zwangsarbeit anzuschließen. Belgien verzögerte die Ratifikation des Übereinkommens bis 1944 und hielt auch danach an der Zwangsarbeit fest, suchte sie aber, wie Seibert nachweist, durch propagandistische Maßnahmen zu verschleiern.

Im Kongo selbst ereigneten sich – wie in anderen Teilen des kolonialen Afrikas – die folgenreichsten Arbeiterproteste in den 1940er Jahren, als der Zweite Weltkrieg den Kolonisierten die Verletzlichkeit der Kolonialherren wie auch die eigene ökonomische Bedeutung für deren politisches Überleben vor Augen führte. Eine Protestwelle von Bergleuten kulminierte 1941 im Streik von Élisabethville, den das Militär blutig niederschlug. Seibert sieht die Bedeutung des Ereignisses nicht allein in seiner tragischen Dimension, sondern stellt die „Entstehung neuer Formen kollektiven Protests und neuer Formen der Solidarität“ (198) als Folge des Massakers heraus. In den wachsenden Minenstädten eröffnete die soziale Verdichtung neue Möglichkeiten des Austauschs über Arbeits- und Lebensbedingungen und der Mobilisierung individuellen und kollektiven Widerstands. Auch bildeten sich hier Ansätze einer Klassenidentität heraus und mithin eine Gruppe selbstbewusster Arbeiter, derer es bedurfte, um politische Forderungen zu artikulieren und Protest zu organisieren. Von einem solchen Selbstbewusstsein zeugen Seiberts Interviews mit ehemaligen Minenarbeitern, in dem diese beschreiben, wie sie vorteilhafte Nebeneffekte ihrer Arbeitsverhältnisse zum eigenen Vorteil zu nutzen suchten – insbesondere die Möglichkeit einer Schul- und Ausbildung ihrer Kinder.

Nach einem Ausblick auf die formale Unabhängigkeitswerdung von 1960, die Befreiungsagenda von Patrice Lumumba und dessen Ermordung im Auftrag der belgischen Regierung schließt Seibert mit einem knappen Fazit, das den titelgebenden Begriff des „kolonialen Kapitalismus“ begründet: Der Kolonialismus brachte im Kongo eine Variante kapitalistischer Herrschaft hervor, in der Staat und Kapital das Prinzip der Lohnarbeit gewaltsam erzwangen, die Herausbildung einheimischer Kapitalakkumulation, Absatzmarktbildung, Technologieaneignung und Unternehmerkultur aber verunmöglichten. Letzteres unterschied den kolonialen Kapitalismus von dem in den Zentren der Weltwirtschaft.

Der Versuchung, diesen Befund in die sozial- und wirtschaftswissenschaftliche Theoriebildung zum Kapitalismus einzuordnen, enthält sich die Autorin – und bleibt damit dem Prinzip treu, das die Stärken ihres Buches ausmacht: „In die globale Wirtschaft gezwungen“ ist eine angenehm kompakte, plastische und unprätentiöse Studie, die ihre Einsichten in der Nahbetrachtung der historischen Vorgänge und ihrer Akteure gewinnt, nicht in Abstraktion und Theorieexegese. Indem sie Lohnarbeit in Afrika als Element des Kolonialerbes konturiert und den Zäsurcharakter der belgischen Annexion des Kongo im Hinblick auf die fortgesetzte Gewaltförmigkeit der Ausbeutung von Arbeitskraft relativiert, setzt die Autorin Akzente, die der zuletzt stark auf Imaginationen, Repräsentationen oder Wissensbestände orientierten Forschung die Materialität kolonialer Verhältnisse in Erinnerung rufen.

Indes begründet die theoretische Enthaltsamkeit des Buches auch einige seiner Schwächen, darunter den Mangel an begrifflicher Reflexion: Zentrale Konzepte wie etwa „Zwangsarbeit“ erfahren keine nähere Bestimmung, und wo Seibert afrikanische Gesellschaften des 19. Jahrhunderts als „präindustriell“ bezeichnet (S. 93), legt sie ein den Industriekapitalismus universalisierendes Epochenmodell an, das afrikanische Eigenzeitlichkeiten unberücksichtigt lässt. Schade ist auch, dass die Autorin den Erträgen der von ihr geführten Interviews recht wenig Raum gibt. Um dieses Material tiefer auszudeuten und breiter zu kontextualisieren, hätte ein Rückgriff auf Alf Lüdtkes Studien zu Alltagserfahrung und Eigensinnigkeit von Industriearbeitern2 helfen können. Zu hinterfragen wäre schließlich die gleich zu Beginn getroffene Aussage, die Gewaltförmigkeit der Durchsetzung von Lohnarbeit im Kongo sei überraschend – Forschungen zur Herausbildung kapitalistischer Arbeitsmodelle in anderen Weltregionen deuten eher darauf hin, dass Zwang und Gewalt ein wesentliches Element solcher Prozesse bildeten.3 Den Gesamteindruck einer gründlich recherchierten, klug strukturierten und souverän erzählten Arbeit schmälern diese Monita aber nur unwesentlich.

Anmerkungen:
1 Im deutschsprachigen Raum zeugen davon unter anderem die Afrika-bezogenen Forschungen am Berliner Kolleg „Arbeit und Lebenslauf in globalgeschichtlicher Perspektive“ und in der Gießener DFG-Forschergruppe „Gewaltgemeinschaften“ sowie jüngst die Themenwahl der Vereinigung für Afrikawissenschaften für ihre Zweijahrestagung 2016: „Afrika in einer kapitalistischen Welt“.
2 Alf Lüdtke, Eigen-Sinn. Fabrikalltag, Arbeitererfahrungen und Politik vom Kaiserreich bis in den Faschismus, Hamburg 1993.
3 Peter Linebaugh/Marcus Rediker, The Many-Headed Hydra. Sailors, Slaves, Commoners, and the Hidden History of the Revolutionary Atlantic, Boston 2000.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/