E. Zingg: Schöpfung der pseudohistorische westpeloponnes. Frühgeschichte

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Titel
Die Schöpfung der pseudohistorischen westpeloponnesischen Frühgeschichte. Ein Rekonstruktionsversuch


Autor(en)
Zingg, Emanuel
Reihe
Vestigia 70
Erschienen
München 2016: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
XII, 340 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Astrid Möller, Seminar für Alte Geschichte, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Die westpeloponnesische Frühgeschichte ist ein spannendes Forschungsthema. Die Ansprüche Spartas auf Messenien wie die von Elis auf Olympia und deren jeweilige Anfechtungen haben zahlreiche pseudohistorische Begründungen hervorgebracht, in denen sich die zeitgenössischen Bündnisverhältnisse spiegeln. Dies ist die These von Emanuel Zingg, der bewusst nicht nach historischen Kernen in der vielfältigen Überlieferung späterer Autoren sucht, sondern einem historisch-konstruktivistischen Ansatz folgt, der von einer Rückprojektion der jeweiligen gegenwärtigen politischen Verhältnisse in frühgeschichtliche Zeiten ausgeht und den Gebrauch mythischer Erzählungen zu politischen Zwecken betont.

In der internationalen Forschung hat man sich bisher vor allem mit der Identitätsbildung und Staatswerdung einzelner Gemeinwesen der westlichen Peloponnes auseinandergesetzt1. An diese vielfältigen Forschungen knüpft Zingg an, wobei das bahnbrechende Werk von Friedrich Prinz2, in dem die Gründungs- und Wanderungsmythen, insbesondere die Rückkehr der Herakliden auf die Peloponnes, behandelt werden, eine gewichtige Grundlage für Zinggs Arbeit, auch und gerade in methodischer Hinsicht, bildet. Zingg belässt es nicht bei der Beschäftigung mit einem lokalen Gemeinwesen oder einer lokalen Tradition, sondern analysiert systematisch die Quellen zu den Bündnisverhältnissen in der westpeloponnesischen Frühgeschichte und rekonstruiert dabei synoptisch die Genese der verschiedenen Versionen. Die Konzentration auf die Bündnisverhältnisse sichert ihm den roten Faden und die Struktur des Buches. So kann er auch seine These belegen, dass die Bündnisverhältnisse der 360er-Jahre v. Chr. in die Zeit der Frühgeschichte gespiegelt wurden.

Nach dem Sieg Thebens über Sparta 371 v. Chr. begannen große Umwälzungen auf der Peloponnes. 369 v. Chr. wurden Messene als Hauptort eines neuen Staates Messenien und kurz darauf Megalopolis als Hauptort des Arkadischen Bundes gegründet. Sparta suchte Hilfe bei Athen und beide schlossen ein Bündnis gegen Theben, das die neuen Staaten auf der Peloponnes entschieden gegen Spartas Ansprüche unterstützte. Zwischen 365 und 363 existierte ein selbständiges Gemeinwesen um das Heiligtum von Olympia herum, deren Bewohner sich Pisaten nannten und mit Arkadern, Messeniern, Sikyoniern und Akroreia einen Bündnisvertrag schlossen. Dies sind nur einige Beispiele der verwickelten Geschichte der Peloponnes in den 360erJahren, die für Zingg die Voraussetzung seiner Interpretationen liefern, ohne dass sie freilich systematisch reflektiert würde.

Ausgehend von den politischen Entwicklungen des 4. Jahrhunderts identifiziert Zingg vier Bündnisverhältnisse, "Initiativen" genannt. Diese Bündniskonstellationen zwischen den einzelnen ethnisch-politischen Einheiten bilden die Grundannahme seiner Quelleninterpretation. Die erste Initiative (S. 67–127) habe für die athenisch-spartanische Symmachie im Sommer 369 einen Parallelfall in der Frühgeschichte geschaffen. Zingg zeigt, wie Tyrtaios in Athen erst in den 360er-Jahren rezipiert wurde und anlässlich der Symmachie zum Athener aus dem Demos Aphidnai wurde. Auf wohl archaische Tyrtaiosfragmente stützte sich Zingg zufolge das spartanische Narrativ der beiden Messenischen Kriege, die als Rebellion gedeutet wurden. Die zweite Initiative (S. 128–235), deren Quellenbasis für Zingg vor allem das auf Myron von Priene und Rhianos von Bene zurückgehende vierte Buch des Pausanias bildet, habe eine promessenische Darstellung der Bündnisverhältnisse der Frühgeschichte geschaffen, die im Zusammenhang mit der Gründung von Megalopolis gestanden und eine Rückblende der Kräfteverhältnisse beider Lager um 367 bis ins Detail abgebildet habe. Die dritte Initiative (S. 236–251) basiert auf Strabons Darstellung und legt den Fokus auf die Pisatis, deren Unabhängigkeitsnarrativ Merkmale aufweise, die eindeutig in die Jahre der historischen Unabhängigkeit von 365–363 als Entstehungszeit weisen. Die vierte Initiative (S. 251–276) sei nach 363 als prospartanische und proelische Version geschaffen worden, wodurch die dritte Initiative im Sinne einer elisch-pisatischen Versöhnung umgedeutet worden sei.

Die dichten Argumentationen lassen sich hier nicht alle wiedergeben und werden wohl auch im Detail Widerspruch hervorrufen. Die Lektüre der detaillierten Quelleninterpretationen lohnt für diejenigen, die sich zum Beispiel von der mangelnden Historizität zweier Messenischer Kriege überzeugen lassen wollen. Wer nach wie vor auf der Suche nach historischen Kernen in den Traditionen über die Frühzeit ist, dürfte nach der Lektüre feststellen, dass die Grundlagen einer historischen Rekonstruktion der Frühgeschichte der westlichen Peloponnes nicht besonders tragfähig sind.

Die Lektüre der Einleitung bietet reiches Material für alle, die an methodischen Fragen interessiert sind. Hier erläutert Zingg seine grundlegenden Konzepte und Fragestellungen. Er betrachtet den Mythos vom modernen, altertumswissenschaftlichen Standpunkt aus und definiert ihn als eine traditionelle und fiktive, das heißt pseudohistorische Erzählung zur Erklärung bestimmter zum Zeitpunkt der Entstehung des Mythos gegebener Realitäten. Diese Erzählung müsse vom Großteil der Rezipienten für wahr gehalten werden, so dass der fiktive, pseudohistorische Charakter des Mythos gar nicht wahrgenommen werde. Trenne sich der Mythos von seinem Rezeptionsumfeld, dann könne die Fiktion durchschaut werden (S. 7f.). Zingg folgt der von Walter Burkert vorgeschlagenen Typologie der Mythen3, gewichtet aber die lokal gebundenen Mythen stärker und schlägt einen weiteren Typ 0 vor, der die Erzählungen über Bündnisse umfasst.

Der Begriff „Geschichte“ hat für Zingg drei Bedeutungen (S. 8–12), von denen die erste, Geschichte als wissenschaftliches Studium der Vergangenheit, und die dritte, Geschichte als tatsächliche Ereignisse, hier als „Historizität“ bezeichnet, unstrittig sein dürften. Die zweite Bedeutung hingegen bleibt dunkel und der dafür von Zingg geprägte Terminus „Historiabilität“ ist als Sprachbildung eher unglücklich. Nach ihm bezeichnet dieser die „vom Menschen erfahrene, von ihm in einer sprachlichen Form festgehaltene Zeit und meint damit einen Zeitabschnitt, der mit der Entwicklung der ersten Kulturtechnik, die das Festhalten von Sprache ermöglichte, also der Schrift, begann und bis in die Gegenwart fortdauert“ (S. 8). Sollte dahinter letztlich nur die traditionelle Differenzierung von Geschichte als die Zeit, für die schriftliche Quellen zur Verfügung stehen, und Vorgeschichte, für die eben keine schriftlichen Quellen vorhanden sind, stehen, so wäre dies trivial. Sollte hier der Beginn historischer Forschung gemeint sein, die einer zunächst für belanglos gehaltenen Begebenheit im Nachhinein eine Bedeutung gibt, so wäre dies näher und gründlicher auszuführen. Im Übrigen scheint mir der Begriff für Zinggs weitere Argumentation nicht von zentraler Bedeutung.

Diese Art von Quelleninterpretation lässt sich keinesfalls als l’art pour l’art abtun, was man daran sehen kann, dass nicht nur dekonstruiert wird, sondern auch konstruiert. Der Beweis für den Mangel an Historizität der Frühgeschichte wird durch die Rekonstruktion der politischen Interessen der Entstehungszeit der jeweiligen Versionen und der Arbeitsweisen der antiken Historiker und Gelehrten ausgeglichen. Zinggs Untersuchung zeigt, dass antike Historiker die ihnen überlieferte Frühgeschichte nicht grundsätzlich hinterfragten, sondern verschiedene Versionen einander gegenüberstellten und die im Mythos erzählten Handlungen chronologisch einordneten.

Anmerkungen:
1 Hier sollen nur einige Beispiele genannt sein: Hans-Joachim Gehrke, Zur elischen Ethnizität, in: T. Schmitt / W. Schmitz / A. Winterling (Hrsg.), Gegenwärtige Antike – antike Gegenwarten. Kolloquium zum 60. Geburtstag von Rolf Rillinger, München 2005, 17–47; Maurizio Giangiulio, The Emergence of Pisatis, in: P. Funke / N. Luraghi (Hrsg.), The Politics of Ethnicity and the Crisis of the Peloponnesian League, Hellenic Studies 32, Cambridge (MA) / London 2009, 65–85; Nino Luraghi, The Ancient Messenians. Constructions of Ethnicity and Memory, Cambridge 2008; Massimo Nafissi, La prospettiva di Pausania sulla storia dell’Elide: la questione pisate, in: D. Koepfler / M. Piérart (Hrsg.), Éditer, traduire, commenter Pausanias en l’an 2000, Actes du colloque de Neuchâtel et de Fribourg (18–22 septembre 1998), Genf 2001, 301–321; Tanja Scheer, Ways of Becoming Arcadian. Arcadian Foundation Myths in the Mediterranean, in: E. S. Gruen (Hrsg.), Cultural Identity in the Ancient Mediterranean, Los Angeles 2011, 11–25.
2 Friedrich Prinz, Gründungsmythen und Sagenchronologie, Zetemata 72, München 1979.
3 Walter Burkert, Typen griechischer Mythen auf dem Hintergrund mykenischer und orientalischer Tradition (1991), in: C. Riedweg (Hrsg.), Walter Burkert, Kleine Schriften I. Homerica, Göttingen 2001, 1–12.

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