J. Auderset u.a.: Rausch & Ordnung

Cover
Titel
Rausch & Ordnung. Eine illustrierte Geschichte der Alkoholfrage, der schweizerischen Alkoholpolitik und der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (1887–2015)


Autor(en)
Auderset, Juri; Moser, Peter
Herausgeber
Eidgenössische Alkoholverwaltung (EAV); Bundesamt für Bauten und Logistik
Anzahl Seiten
248 S.
Preis
38 CHF
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Francesco Spöring, Historisches Seminar, Universität Zürich

Trotz eines rückläufigen durchschnittlichen Alkoholkonsums und einer Verlagerung der Aufmerksamkeit auf verbotene Rauschmittel – Debatten über Rausch und Berauschung vermögen auch gegenwärtig noch gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu erzeugen. Und Alkohol ist nach wie vor ein derart verbreitetes Mittel der Berauschung, dass kaum jemand nicht von Begegnungen mit der Trunkenheit zu berichten wüsste. Von manchen als Fluchtvehikel, von anderen als Ausdruck sozialer Zugehörigkeit wahrgenommen, weisen Debatten über Alkoholika eine bewegte Geschichte auf. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufkommende „Alkoholfrage” stellte einen Kristallisationspunkt medizinischer, wirtschaftlicher und sozialer Auseinandersetzungen dar, an denen sich verschiedene zivilgesellschaftliche, staatliche und wirtschaftliche Akteure beteiligten. Die zu diesem Themenkomplex vorgebrachten Ansichten können als Aushandlungsprozesse über Deutungshoheiten und Herrschaftsverhältnisse gelesen werden. Damit eignen sie sich in besonderem Maße, um konfligierende und sich über die Zeit hinweg verändernde gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster im Umgang mit Alkohol zu untersuchen1.

Juri Audersets und Peter Mosers aufwändig gestaltetes und sorgfältig recherchiertes Buch „Rausch & Ordnung“ ist diesen Veränderungen gewidmet. Es beabsichtigt, „zentrale Entwicklungslinien und Paradigmenwechsel der gesellschaftlichen Problematisierung und politischen Regulierung der Alkoholfrage“ (S. 16) der vergangenen 130 Jahre nachzuzeichnen. Der Fokus dieses umfangreichen essai de synthèse liegt auf der Eidgenössischen Alkoholverwaltung (EAV), die die Studie in Auftrag gegeben hat. Diese Bundesbehörde reguliert in der Schweiz die Produktion von und den Handel mit Spirituosen, ihre Kompetenzen in Bezug auf schwachalkoholische Getränkte wie Wein und Bier sind dagegen stark beschränkt. Diese begrenzte Zuständigkeit gilt es zu bedenken, wenn anhand der Geschichte der EAV die vielschichtigen Praktiken und Wahrnehmungen der Alkoholproduktion und -regulation aufgezeigt werden. Indem die Alkoholfrage als wandelbare, soziokulturelle Konstruktion gedeutet wird, schließt die Übersicht an bestehende Arbeiten zur Alkoholfrage in der Schweiz an und erweitert diese durch den bisher kaum berücksichtigten Blickwinkel der nationalen Behörden.

Ausgangspunkt des Werks ist die „Alkoholfrage“, in der sich über die Zeit hinweg unterschiedliche Wahrnehmungen und Praktiken überlagerten. Vor dem Hintergrund kontinuierlicher „Wechselwirkungen mit gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen, kulturellen und mentalen Veränderungsprozessen“ (S. 12) rücken Auderset und Moser die Regulierungsversuche staatlicher und zivilgesellschaftlicher Akteure ins Zentrum ihres Buches, das in fünf chronologische Kapitel gegliedert ist. Das erste Kapitel („Von der Alkoholfrage zur Alkoholordnung“, 1848–1890) zeichnet nach, wie nach einer breit debattierten ‚Branntweinpest‘ mit dem 1887 angenommenen Alkoholgesetz die EAV gegründet wurde, um über ein Monopol die Produktion und den Vertrieb gebrannter Wasser zu regulieren. Im zweiten Kapitel („Verwissenschaftlichung, Bekämpfung und Versorgung“, 1890–1914) werden die Medikalisierungsversuche sowie die transnationalen Dimensionen des Phänomens beleuchtet und auch die Versorgung der Industrie mit denaturiertem Sprit thematisiert. In Kapitel 3 („Integration der Alkoholfrage in die neue Ernährungspolitik“, 1914–1945) wird die These entwickelt, dass der Umgang mit Ausgangsstoffen für gebrannte Wasser ab dem Ersten Weltkrieg und in besonderem Maße während des Zweiten Weltkrieges eine ernährungspolitische Umdeutung erfuhr. Für die durch Wirtschaftsaufschwung gekennzeichnete Nachkriegszeit wird in Kapitel 4 („Alkoholpolitik in der Konsumgesellschaft“, 1945–1980) die Entwicklung festgestellt, dass das Trinken zusehends als Ausdruck sozialer Zugehörigkeit denn als Eskapismus aus dem Elend gedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund wird die Informationstätigkeit der EAV beleuchtet, die von Ausstellungen über Filme bis hin zu Kochdemonstrationen und Verteilung von Pausenäpfeln an Schulen reichte. Zugleich homogenisierte und überwachte die EAV die Produktion von Alkoholika bzw. ihrer agrarischen Ausgangsprodukte durch radikale Reduktion der Obstbaumsorten und griff falls nötig mit Strafverfahren ein. Das letzte Kapitel („Alkoholpolitische Umbrüche und die große Ernüchterung, 1980–2015“) beschreibt das in den 1980er-Jahren erstarkende New Public Management, aus dessen Perspektive die Tätigkeitsbereiche der EAV, die sowohl die Regulierung des Angebots von starken Alkoholika wie auch die Förderung alkoholfreier Alternativen umfassten, als ineffizient erschienen. Während die gesundheitspolitische Bedeutung der brennlosen Verwertung agrarischer Produkte zusehends in Frage gestellt wurde, setzte ab Mitte der 1980er-Jahre ein starker Abbau der EAV-Kompetenzen ein. In den späten 1990er-Jahren etablierte sich die Einteilung, wonach das Bundesamt für Gesundheit für Verhaltensprävention und die EAV für Verhältnisprävention zuständig war. Und auch dieser Tätigkeitsbereich erfuhr im Kontext zunehmender Liberalisierung durch Freihandelsabkommen einen tiefgreifenden Wandel. Einerseits wurde der An- und Verkauf von Industriealkohol ab 1998 an die spätere Aktiengesellschaft Alcosuisse ausgegliedert; andererseits setzte ab dem Jahr 2000 eine alkoholpolitische Umorientierung von der Reduktion von Spirituosen zu einer marktorientierten Förderung von Edelbränden ein – was den Funktionswandel der EAV zusätzlich akzentuiert.

Das reich illustrierte Buch untersucht mit der EAV einen Akteur, der in bisherigen historischen Arbeiten kaum beachtet wurde, und fördert durch die Beleuchtung verschiedener Regulierungsversuche einige neue Erkenntnisse zutage. Der Überblickscharakter tut der Qualität keinen Abbruch; so bieten etwa die kontextualisierenden Abschnitte zur Verwissenschaftlichung der Alkoholfrage(n) auf wenigen Seiten einen guten Überblick. Die Fokussierung auf die EAV führt aber auch dazu, dass die beliebten und in hohen Quantitäten konsumierten Gärprodukte wie Wein oder Bier nur eine Nebenrolle spielen. Während Distanzierungen gegenüber gewissen wissenschaftlichen Deutungsmustern der Alkoholgegnerschaft überzeugen, wünscht man sich zuweilen etwas mehr kritische Distanz gegenüber den Wahrnehmungen der EAV. So wäre es zum Beispiel spannend zu erfahren, wie die Brennkarte, die laut EAV nicht nur der Kontrolle, sondern auch der Aufklärung diente, außerhalb dieser Verwaltung wahrgenommen wurde. Dies tut jedoch dem Lesevergnügen keinen Abbruch, denn das Buch wird seinen Zielen durchwegs gerecht und regt zu zahlreichen weiterführenden Fragen an: Welche Bedeutung kam der ständigen Alkoholkommission zu? Welche Rolle spielten zivilgesellschaftliche Akteure wie etwa die Anti-Alkoholbewegung, die den Alkohol schon früh als eine Ernährungsfrage behandelte und verschiedene präventive Maßnahmen gegen die dem Alkohol zugeschriebenen Schäden forderte? Weiter steht die These einer in den 1970er-Jahren verstärkten Individualisierung der Verantwortlichkeit für das eigene Trinkverhalten in einem interessanten Spannungsverhältnis mit der sich zur selben Zeit in bestimmten Kreisen verfestigenden Krankheitskonzeption des Alkoholismus respektive der Alkoholabhängigkeit. Kurz: Das Buch bietet einen gelungenen Einstieg in die Behandlungen der Alkoholfrage in der Schweiz und spricht dank der zugänglichen Sprache und der zahlreichen Bilder und Illustrationen nicht nur ein Fachpublikum an. Es überzeugt zudem durch den Gegenwartsbezug sowie durch die digitale Quellenedition2, die sich auch für die Lehre empfiehlt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa James Nicholls, The politics of alcohol: A history of the drink question in England, Manchester 2009; Fabien Brändle / Hans Jakob Ritter, Zum Wohl! 100 Jahre Basler Abstinenzverband, Basel 2010.
2 Die Quellenedition kann beim Archiv für Agrargeschichte (info@agrararchiv.ch) bezogen werden. Es ist vorgesehen, dass diese Edition in einer digitalen Form frei zugänglich wird.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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