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Titel
Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens (Flugschrift)


Autor(en)
Sanyal, Mithu M.
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 16,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alexandra Oberländer, Forschungsstelle Osteuropa, Universität Bremen

Vergewaltigung gehört zu denjenigen grenzüberschreitenden Handlungen, die wie keine andere in der Lage ist, zugleich empörte Diskussionen und betretenes Schweigen auszulösen. Bei kaum einem anderen Vergehen gibt es so klare Täter-Opfer-Zuschreibungen einerseits, die sich andererseits trotzdem regelmäßig wieder in Luft oder aber in die Frage, ob der Rock nicht doch zu kurz war, auflösen. Und schließlich steht die geringe Zahl von Verurteilungen in Fällen von sexueller Gewalt in keinem Verhältnis zur Aufregung und Empörung, die Fälle sexueller Gewalt (zuletzt etwa die sogenannte Kölner Silvesternacht) hervorzurufen in der Lage sind. Es sind diese Paradoxien sowie die dauerhafte Schwierigkeit, eine offene Diskussion über Vergewaltigung zu führen, die die Kulturwissenschaftlerin Mithu M. Sanyal bewogen haben, ein Buch über Vergewaltigung zu schreiben. Folgerichtig hat auch das Buch selbst eine paradoxe Geschichte: Über Jahre hinweg fand Mithu M. Sanyal keinen Verlag, der dieses Buch veröffentlichen wollte, da sich für dieses Thema niemand interessieren würde – und kaum ist das Buch veröffentlicht, überschlagen sich Zeitungen, Zeitschriften und Radio in ausgesprochen positiven, gelegentlich geradezu euphorischen Rezensionen. Sanyals „Vergewaltigung“ wird in einem Umfang besprochen, wie es jährlich nur sehr wenigen kulturwissenschaftlichen Büchern gelingt.

Sanyal spannt chronologisch wie inhaltlich einen sehr weiten Bogen. In Bezug auf die Vergewaltigungsfälle, die Sanyal bespricht, reicht die Palette von der Vergewaltigung Lucretias im 6. Jhd. v.Chr. über gang rape und deren Darstellung in Hollywoodfilmen der 1980er-Jahre bis zum aktuellen Fall Gina-Lisa Lohfink. Sanyal behandelt philosophische Texte, psychologische Theoreme und popkulturelle Erscheinungen nahezu unterschiedslos, um dem Phänomen Vergewaltigung auf die Spur zu kommen. Sie setzt sich mit den Theorien zu Vergewaltigung und Geschlecht bei Aristoteles oder Freud gleichermaßen kritisch auseinander wie mit dem bislang einflussreichsten Buch über Vergewaltigung und Geschichte, nämlich Susan Brownmillers „Gegen unseren Willen“.1 Affirmativ bezieht sich Sanyal auf veröffentlichte Berichte von Frauen, die in den vergangenen 30 Jahren Opfer sexueller Gewalt wurden und auf ausgewählte Texte der Historikerin Joanna Bourke, der Anglistin Sharon Marcus und der Philosophin Ann Cahill.2 Damit bringt Sanyal ihre Zugehörigkeit zu einem bestimmen Kanon, Vergewaltigung zu lesen und zu interpretieren, zum Ausdruck. Diese bestimmte Lesart zeichnet sich dadurch aus, „einige der zu gültigen Wahrheit geronnenen Grundüberzeugungen […] unter die Lupe zu nehmen“ (S. 8) und sie kritisch zu hinterfragen. Dieses Verfahren birgt politischen Sprengstoff, denn ein großer Teil der politisch aktiven feministischen Szene steht solchen kritischen Ansätzen nicht unbedingt aufgeschlossen gegenüber. Sanyal weiß darum, dass die Infragestellung von derartigen „Grundüberzeugungen“ von Aktivist/innen als Angriff auf den Feminismus insgesamt verstanden werden kann und lässt in ihrer Darstellung daher weder einen Zweifel an ihrer feministischen Einstellung noch an ihrer Empathie für Opfer sexueller Gewalt aufkommen.

Sanyal versteht Vergewaltigung als Gewalt, die eine außergewöhnlich zerstörerische Wirkung entfaltet. Diese Wirkung wiederum habe ihren Ursprung in dem Umstand, dass „Vergewaltigung das gegenderteste Verbrechen überhaupt“ (S. 18) sei. Damit meint Sanyal, dass wir in der Regel Vergewaltigung mit einem männlichen Täter und einem weiblichen Opfer assoziieren. Während Frauen weiterhin nur einen Bruchteil der Täter/innen ausmachen, seien seit geraumer Zeit steigende Zahlen männlicher Opfer zu beobachten. Dabei handele es sich zumeist um „male-to-male rape“, die häufig an Gefängnisinsassen oder an Soldaten verübt werde. Zum zweiten sei die Wirkung von sexueller Gewalt so zerstörerisch, weil Sexualität für die Art und Weise, wie wir heute Identität denken und verstehen, zentral sei. Der Körper und im Besonderen die Geschlechtsorgane werden als Ort der Identität gedacht. Die Vagina gelte als Essenz, als der Ort, an dem das weibliche Selbst angesiedelt sei (S. 91). Obwohl derartige Ansichten unter feministischen Kulturwissenschaftler/innen im Zeitalter der performativen Geschlechtervorstellungen als passé gelten, strukturieren sie durchaus (noch) die Selbstwahrnehmung von Frauen, darunter Therapeutinnen und politische Aktivist/innen wie Naomi Wolf (S. 90).3 Folgt man diesem Gedanken, so hat das in Bezug auf Vergewaltigung schwerwiegende Konsequenzen. Ist die Vagina die Essenz des Ichs, wird die Vergewaltigung als „Seelenmord“ (S. 79) erlebt. Vergewaltigung erscheint dann als eine dem Tod gleichwertige Erfahrung, was nicht zuletzt darin zum Ausdruck kommt, dass sich Betroffene sexueller Gewalt häufig als „Überlebende“ bezeichnen. Sanyal bespricht dieses Phänomen als eine Verschiebung des Vergewaltigungs“diskurses“ hin zu einem Identitätsdiskurs. Vergewaltigt worden zu sein, wird gleichermaßen zur Diagnose eines pathologischen Krankheitsbildes wie zur neuen Identität des Opfers. Wer einmal vergewaltigt worden ist, die lässt dieses Erlebnis nicht mehr los. Zugleich wird auch der „Vergewaltiger“ zu einer Identität, die nicht mehr abzulegen ist. Nach einer Verurteilung als „Vergewaltiger“ wird eine Rückkehr in die Gesellschaft kaum mehr möglich. Wer einmal vergewaltigt hat, so die Unterstellung, wird dies immer wieder tun.

Neben der Essentialisierung und der Verschiebung hin zu einem Identitätsdiskurs impliziert die Lesart von Bourke, Cahill und jetzt Sanyal noch eine dritte Folgerung: Das Trauma. Sobald Vergewaltigung als Zerstörung oder Mord der Seele empfunden und gedacht wird, müssen die Konsequenzen einer Vergewaltigung traumatisch sein. Weil Vergewaltigung als die ultimative Grenzüberschreitung gilt, entwickelt sich die Erwartungshaltung (etwa vor Gericht), dass Opfer psychisch wie physisch zerstört sein müssen. Der Blick richtet sich dann zwingend auf das Opfer; an ihrem Körper und ihrer Psyche wird die Frage geklärt, ob eine Vergewaltigung stattgefunden hat. Mithu Sanyal führt an dieser Stelle Gerichtsprozesse an, in denen die Täter freigesprochen wurden, weil es die Opfer an eindeutigen „Beweisen“ (also Zerstörung ihres Selbst) haben missen lassen. Weiterhin betont Sanyal, dass die ständige Angst vor Vergewaltigung für heranwachsende Mädchen und Frauen als conditio humana erscheint und damit das Trauma quasi vorbereitet.

Sanyal liefert in ihrem Buch eine spannend zu lesende Synthese von Ansätzen, die seit etwa 20 Jahren von einer sehr überschaubaren Gemeinde an internationalen Feminist/innen niedergeschrieben wurden. Sanyals Buch liefert in komprimierter Form durchaus streitbare Thesen, die in der Tat in der Lage sind, Grundüberzeugungen zu hinterfragen. Was aber hält das Buch an Einsichten über Vergewaltigung bereit, die für Historiker/innen nutzbringend sind?

Sanyal nimmt selbst keine historisierende Position ein. Konzepte wie Ehre und Scham scheinen in ihrer Darstellung ebenso zeitlos zu sein wie Vergewaltigung selbst. Sie übergeht oft den Umstand, dass sich die Bedeutung von Vergewaltigung im antiken Griechenland radikal von der Bedeutung unterscheidet, die Vergewaltigung heute hat. Sanyal betont Kontinuitäten, während es die Aufgabe von Historiker/innen wäre, Zäsuren und Wandel deutlich zu machen, sich zu fragen, warum eine bestimmte Bedeutungszuschreibung zu einem bestimmten Zeitpunkt aufkam und welche Umstände dazu führten, dass andere Interpretationen sich irgendwann überlebten. Was Sanyals Buch ebenfalls als Desiderat bestätigt, ist die schwer zu durchdringende Gemengelage von Sex, Sexualität, Gender und Identität. Für den Großteil der Menschen im 21. Jahrhundert scheint festzustehen, dass sich Identität vor allem an der Sexualität konstituiert. Wie jene Subjektkonstitution jedoch von statten geht, wann sie entstand, was ihre Bedingungen sind, ist bislang noch immer recht unverstanden. Sanyals Buch demonstriert auch, wie überschaubar die historischen Forschungen über sexuelle Gewalt noch immer sind. In der Regel fehlen die Stimmen der Opfer wie der Täter, was viel mit der desolaten Quellenlage, aber womöglich auch mit traditionellen Erzählweisen zu tun hat. Es wäre also zu hoffen, dass die enorme Reichweite von Sanyals Buch dazu beiträgt, dass sich nicht nur mehr Menschen in anderer Weise als bisher mit sexueller Gewalt auseinandersetzen, sondern auch, dass sich Historiker/innen berufen fühlen, die vielen Lücken in unserem Wissen zu schließen und womöglich die Geschichte der sexuellen Gewalt neu zu erzählen.

Anmerkungen:
1 Susan Brownmiller, Against Our Will: Men, Women, and Rape, New York 1975.
2 Joanna Bourke, Rape: A History from 1860 to the Present, Lodon 2007; Ann J. Cahill, Rethinking Rape, Ithaca 2001; Sharon Marcus, Fighting Bodies, Fighting Words, in: Constance L. Mui / Julian S. Murphy (Hrsg.), Gender Struggles: Practical Approaches to Contemporary Feminism, Lanham 2002, S. 166–185.
3 Naomi Wolf, Vagina, Hamburg 2013.