Titel
Das Kind als Person. William Stern als Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung 1900 bis 1933


Autor(en)
Heinemann, Rebecca
Reihe
Historische Bildungsforschung
Erschienen
Bad Heilbrunn 2016: Julius Klinkhardt Verlag
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Edith Glaser, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Kassel Email:

Mit dem Erscheinen des ersten Kinder- und Jugendberichts der Bundesregierung 1965 und Philippe Ariés „Geschichte der Kindheit“ (1960/dt. 1975), aber spätestens mit den ersten Schüler/innendemonstrationen, die in den 1970er-Jahre durch die westdeutschen Innenstädte zogen und selbstverwaltete Jugendhäuser forderten, wurde die Geschichte der Kinder- und Jugendforschung wieder ein Thema der pädagogischen Historiographie. Zu Recht verweist Rebecca Heinemann deshalb in der Einleitung ihrer Monographie „Das Kind als Person“ auf die Arbeiten von Peter Dudek und Jürgen Zinnecker1, die – neben vielen anderen historisch arbeitenden Erziehungswissenschaftler/innen und Soziolog/innen – sich seither dieses Gegenstandes angenommen und dabei vor allem die „Hamburger Tradition“ mitberücksichtigt haben. Aber die Bildungshistorikerin spitzt in ihrer im Wintersemester 2015/16 von der Philosophischen Fakultät der Universität Augsburg angenommenen Habilitationsschrift die Geschichte der Kinder- und Jugendforschung noch weiter auf die Forschungen des Psychologen William Stern zu und bezeichnet ihn – so im Titel der 2016 erschienenen Monographie ausgewiesen – als „Wegbereiter der Kinder- und Jugendforschung“. Um diese herausragende Positionierung des jüdischen Psychologen in der Wissenschaftslandschaft zwischen Pädagogik, Philosophie und Psychologie nachvollziehen zu können, widmet sich die Verfasserin detailliert den „wissenschaftlichen Aktivitäten William Sterns im Kontext der Kinder- und Jugendforschung im späten Kaiserreich und in der Weimarer Republik“, seinem „Kindheits- und Jugendkonzept“, den „pädagogische[n] Entwürfe[n]“ und seinen „pädagogischen Grundsätze[n] und Schlussfolgerungen“ (S. 21). Sie schreibt damit auch einen Abschnitt für eine noch ausstehende Wissenschaftsgeschichte der Psychologie im 20. Jahrhundert, weil die Disziplin in ihrer „allgemeine[n] ‚Geschichtsvergessenheit’“ (S. 14) dies bisher selbst nicht getan hat.

Für ihr Vorhaben kann Heinemann auf einen breiten Quellenkorpus zurückgreifen. Neben dem Nachlass William Sterns in der Jewish National and University Library in Jerusalem nutzt sie vor allem die einschlägigen Bestände im Staatsarchiv Hamburg und im Adolf-Würth-Zentrum für Geschichte der Psychologie in Würzburg. Außer den dort verwahrten Vortragsmanuskripten, handschriftlichen Aufzeichnungen, Briefen und biographischen Zeugnissen sind es Sterns Veröffentlichungen über Kindheit und Jugend, die die Materialbasis für die „institutions- und wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte“ (S. 22) bieten, die – so der Anspruch der Autorin – biographisch und sozialhistorisch eingeordnet werden sollen.

Die Darstellung ist chronologisch angelegt und ist in zwei – an der Berufsbiographie Sterns orientierte – Teile unterteilt: in die Breslauer (1897–1915) und in die Hamburger (1915–1933) Zeit. Die Universitäten beider Städte waren seine Wirkungsstätten bis zur Entlassung im Oktober 1933 durch die Nationalsozialisten. Die Emigration in die USA und die Lehrtätigkeit an der Duke University werden abschließend nur kurz gestreift.

Zentral für die Breslauer Jahre sind die dort begonnenen Forschungen Sterns zur Kinder- und Jugendpsychologie. In sechs Kapiteln wird der Bogen geschlagen von der Entstehung der Kinderforschung am Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland bis hin zu Sterns Positionierung bezüglich der reformpädagogischen Bewegung, in der er vermittelnd wirkte, aber konträr zu Gustav Wyneken hinsichtlich der erzieherischen Funktion der Familie stand. Zudem geben diese Abschnitte einen Einblick, wie die vor allem von Wilhelm Wundt vertretene experimentelle Psychologie von William Stern zu einer pädagogischen Psychologie weiterentwickelt wurde. Bewundernd auf die Institutionalisierung der child studies in den USA blickend, versuchten Stern und Otto Lipmann über die Gründung des Instituts für angewandte Psychologie und psychologische Sammlungsforschung 1906 in Berlin sowie über Sterns Präsenz bei der Gründung der Gesellschaft für experimentelle Psychologie 1904 – aus der 1929 dann die Deutsche Gesellschaft für Psychologie hervorgeht – eine vom Methodenpluralismus gekennzeichnete angewandte Psychologie zu etablieren. Zusammen mit seiner Frau Clara hatte der Breslauer Psychologe über die Dokumentation der Entwicklung seiner drei Kinder in Form der Kindertagebücher selbst Daten für seine Forschungen generiert. Diesem – jenseits der damals klassischen „Laboratoriumspsychologie“ entwickelten – Verfahren sowie dem Blick der Kinder zurück auf ihre Objektsituation im Elternhaus ist ebenfalls ein Kapitel gewidmet.

Gerade die Tagebuchaufzeichnungen waren für Stern selbst „‚die eigentliche Geburtsstunde des Personalismus’“ (S. 149). Deshalb ist es bezogen auf die Aufgabenstellung Heinemanns nur konsequent, das dreibändige philosophische Werk „Person und Sache“, welches zwischen 1906 und 1924 veröffentlicht wurde, in den Grundaussagen zu bearbeiten und die daraus für Stern gewonnene Anschlussfähigkeit an pädagogische und philosophische Debatten der Zeit hervorzuheben und den Zusammenhang mit seinen empirischen Arbeiten aufzuzeigen.

Es waren dann gerade diese für einen Psychologen nicht selbstverständlichen philosophischen Positionierungen, aber auch die bis dahin gepflegte enge Zusammenarbeit mit den Lehrerverbänden, die schließlich 1916 für die Berufung Sterns als Nachfolger von Ernst Meumann in das Hamburger Allgemeine Vorlesungswesen den Ausschlag gaben. Dort profitierte Stern nicht nur von einer Erweiterung seines Fachgebiets durch die Gründung der Universität Hamburg 1919, sondern trieb an der neuen Wirkungsstätte die schon lange verfolgte Professionalisierung der Kinderpsychologie und Jugendforschung weiter voran. In der Beschreibung des beruflichen Wirkens Sterns an der Universität Hamburg bis 1925, welches meines Erachtens das beste Kapitel ist, gelingt es Heinemann sehr deutlich, das Zusammenspiel von der Anwendung von Fachwissen (Testung und Beobachtung) im Rahmen bildungspolitischer Innovationen (Einführung der Grundschule und damit verbundene Fragen des Übergangs auf weiterführende Schule) unter Einbeziehung der Lehrpersonen und ihrer diagnostischen Kompetenzen sowie die daraus folgenden Konsequenzen für die Lehramtsausbildung an der Universität Hamburg herauszuarbeiten. Zukünftigen Lehrerinnen und Lehrer wollte Stern eine „innere psychologische Haltung gegenüber dem Schüler, [zu] sich selbst und seinem pädagogischen Handeln […] vermitteln“ (S. 329). Die Beschreibung der Hamburger Schülertestung gewinnt gerade über den Vergleich und die Beschreibung der Auseinandersetzung um die vom Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht favorisierten Intelligenzdiagnostik eine klare Profilierung. Wie konsequent Stern die Etablierung psychologischen Wissens und breiter Methodenkenntnisse dann für die ab 1926 auch auf die um den Grundschulbereich erweiterte Lehrerbildung ausdehnte und dabei mit dem pädagogischen Institut zusammenarbeitete, wird detailliert referiert, wofür auf bekannte Veröffentlichungen zurückgegriffen und die Autobiographie Wilhelm Flitners2 (zu) oft als Referenz zur Beschreibung der Institutsverhältnisse herangezogen wird.

Sich dem Leben und vor allem dem Werk eines Wissenschaftlers zu nähern, ist immer ein Oszillieren zwischen Analyse des wissenschaftlichen Schaffens und Würdigung der individuellen Leistungen vor dem biographischen, wissenschafts- und zeitgeschichtlichen Kontext. Eine klare theoretische Orientierung, die nur phasenweise in der Monographie Heinemanns durchscheint, aber selbst dort nicht benannt wird, hätte hierfür eine gesicherte Rahmung geboten. Zudem hätte eine stärkere redaktionelle Überarbeitung der Habilitationsschrift vor der Drucklegung gutgetan, um zu lange Abschnitte umzugestalten, die Schreibweise von Namen nochmals zu prüfen, ein Personenregister zu erstellen und vor allem die gewonnenen Erkenntnisse noch einmal zuzuspitzen.

Zweifelsohne ist es Heinemann mit ihrer Arbeit gelungen, die Breite des wissenschaftlichen Oeuvres William Sterns zu präsentieren und ihn damit aus der Ecke des „IQ-Erfinders“ herauszuholen. Herausgearbeitet wurden seine wissenschaftspolitischen Strategien, Kinder- und Jugendforschung an den Universitäten zu institutionalisieren, die pädagogische Psychologie zu professionalisieren und anwendungsorientiert in der Lehrerbildung zu etablieren. Zudem ist über diese Arbeit erneut deutlich geworden, welche zwiespältige Rolle die Lehrerschaft, die in Breslau bereits über den Bund für Schulreform in die Anwendung psychologischer Verfahren eingebunden war, in ihrem Verlangen nach anwendbarem Diagnosekenntnissen und zugleich der Abwehr psychologischer Bevormundung spielte.

Anmerkungen:
1 Peter Dudek, Jugend als Objekt der Wissenschaft. Geschichte der Jugendforschung in Deutschland und Österreich 1890–1933. Bad Heilbrunn 1990; ders., William Stern und das Projekt Jugendkunde, in: Zeitschrift für Pädagogik, 35, 1989, S. 153–174; Jürgen Zinnecker, Forschen für Kinder – Forschen mit Kinder – Kindheitsforschung, in: Honig, Michael-Sebastian u.a. (Hrsg.): Aus der Perspektive von Kindern? Zur Methodologie der Kindheitsforschung. Weinheim 1999, S. 69–80.
2 Wilhelm Flitner, Erinnerungen 1889–1945. (Gesammelte Schriften, Bd. 11). Paderborn 1986.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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