G. Kolko: Das Jahrhundert der Kriege

Titel
Das Jahrhundert der Kriege.


Autor(en)
Kolko, Gabriel
Erschienen
Frankfurt am Main 1999: S. Fischer
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Zimmerer, Vila Real

Überblicksdarstellungen zum 20. Jahrhundert haben Konjunktur, wie die Synthesen von Eric Hobsbawm, François Furet und Dan Diner beweisen. 1 Nun brachte 1999 der S. Fischer Verlag mit Gabriel Kolkos bereits 1994 in englischer Sprache erschienen Buch "Century of War" (dt.: "Das Jahrhundert der Kriege") eine weitere Darstellung auf den deutschen Markt, und mit Mark Mazowers "Der dunkle Kontinent" wartet schon das nächste Werk auf seine Leser.2 Diese relative Häufung von Gesamtinterpretationen liegt zum einen an der Zäsur, die der Zusammenbruch des Kommunismus und das Ende der deutschen und europäischen Teilung bietet, zum anderen regt auch das Ende des Jahrhunderts zum Nachdenken über die die letzten 100 Jahre beherrschenden Entwicklungen an. Kolkos Buch dürfte aber nicht nur aus dem Bedürfnis nach Synthesen zu Beginn des neuen Milleniums auf Interesse stossen. Auch der Krieg, sein thematischer Schwerpunkt, findet seit einiger Zeit wachsendes Interesse. Wie nicht zuletzt der Konflikt um den Kosovo vergangenes Jahr jedermann sichtbar vor Augen führte, ist der Krieg nach 50 Jahren nach Europa zurückgekehrt.

Das Zwanzigste Jahrhundert unter dem Signum der Kriege zu behandeln, erscheint auf den ersten Blick einleuchtend. Zwei Weltkriege in den ersten 50 Jahren erschütterten Europa, brachten soziale Verwerfungen ungeahnten Ausmasses mit sich, spalteten den Kontinent und führten dazu, daß er seine in den 500 Jahren zuvor gewachsene weltpolitische Stellung verlor. Darauf folgte der ebenfalls fast ein halbes Jahrhundert dauernde Kalte Krieg, ein Konflikt, der wie Kolko zu recht betont, so kalt nicht war. Ihn als Epoche des relativen Friedens zu betrachten, ergibt sich nur aus der vorherigen Erfahrung der alles verheerenden industriellen Großkonflikte und aus der Ausblendung aller gewaltsamen Konflikte außerhalb Europas. Aus der Perspektive anderer Kontinente ergibt sich eine ganz andere Einschätzung, nur hat noch niemand eine derartige Darstellung in deutscher Sprache vorgelegt. Auch Kolko tut dies nicht, auch wenn sein Buch durch seine Nordamerika, Europa und Asien umfassende Perspektive besticht.

Die großen Strukturen, an denen Kolko sich orientiert, sind nicht originell. Der Erste Weltkrieg als "ein Katalysator, der viele Millionen Europäer zwang, liebgewordene Gewohnheiten aufzugeben und, zuerst zögernd, dann jedoch endgültig ernüchtert, ihre traditionellen Werte und Ideale in Frage zu stellen" (S. 126), ist nicht neu. Auch daß er Entwicklungen auslöste, die einen "erdrutschartigen politischen Stimmungswandel nach sich zogen" (S. 95), der schließlich sowohl zur bolschewistischen Machtergreifung in Rußland als auch zum Aufstieg des Faschismus in Italien oder Deutschland beitrug, ist keine bahnbrechende Erkenntnis. Letzteres nur aus dem Krieg zu erklären, wie Kolko es tut, dürfte jedoch zu kurz greifen. Schließlich gab es auch in Ländern faschistische Regime, die am Weltkrieg nicht beteiligt waren. Darauf geht Kolko jedoch nicht ein. Dies liegt an dem logischen Zirkelschluß, der ihm unterläuft. Da er von der Prämisse der überragenden Bedeutung des Krieges als Auslöser sozialer Veränderungen und politischer Mobilisierung ausgeht, betrachtet er lediglich die gewaltsamen militärischen Auseinandersetzungen oder die direkt von diesen abgeleiteten Bürgerkriege wie in Rußland ab 1917 oder in China im Gefolge des Zweiten Weltkrieges. Eine Auseinandersetzung mit potentiellen Gegenbeispielen wie Spanien oder die Länder Lateinamerikas findet nicht statt.

Zutreffend ist sicherlich Kolkos Beobachtung, daß der Erste Weltkrieg innerhalb der Geschichte der Kriegführung paradigmatische Züge trägt. In ihm trat der Manager der zivilen Rüstungsproduktion an die Stelle des traditionellen Offiziers und Kriegers als kriegsentscheidende Instanz. Zugleich schloß der Krieg zunehmend die Zivilbevölkerung mit ein. Diese Entgrenzung des Krieges im industriellen Zeitalter, deren Anfänge bereits auf den Amerikanischen Bürgerkrieg zurückgehen, war nicht mehr rückgängig zu machen. Interessant ist Kolkos grundsätzliche Beobachtung, daß die tatsächliche Ausweitung des Krieges, die zunehmende Aufhebung von Front und Heimat, einherging mit der Illusion des kurzen Krieges, des Blitzkrieges, wie es bei Hitler dann heißen sollte. Wenn auch die These, der deutsche Generalstab habe 1914 selbst an einen kurzen Feldzug geglaubt, jüngst in Frage gestellt worden ist, 3 so ist es zutreffend, daß die Militärs aller Länder gerade aus den Erfahrungen des Gemetzels zwischen 1914 und 1918 den kurzen Feldzug zur Doktrin erheben mussten, um Kriege überhaupt noch rechtfertigen zu können.

Daß es sich dabei um Luftschlösser handelte ist bekannt, bleibt also die Frage, wie es dazu kommen konnte, daß in der militärischen Planung Wunschdenken die realistische Einschätzung der Lage ersetzte. Daß niemand in den jeweiligen Militärführungen, die eigenen Annahmen hinterfragte, führt Kolko auf einen strukturellen Fehler des militärischen Systems zurück, das nur Ja-Sager produzierte. Seiner Meinung nach war die Sozialisation und die persönlichen Kontakte, also die Netzwerke, für den Aufstieg der Offiziere entscheidend, Querdenker wurden ausgesondert. Dies klingt einleuchtend und regt zu weiteren Forschungen an, auch wenn Kolko bei seiner Darstellung beispielsweise des preußischen Offizierskorps Fehler unterlaufen. So war der Prozeß der Verbürgerlichung 1914 schon viel weiter fortgeschritten, als er wahrhaben möchte. 4

Auch den Zweiten Weltkrieg handelt Kolko ab, ohne auf die operationsgeschichtliche Dimension einzugehen. Sein Augenmerk gilt den Folgen des Krieges in den von den Deutschen und den Japanern besetzten Ländern besonders Frankreich, Belgien, Holland, Italien und Polen. Anregend ist seine detaillierte Betrachtung der gesellschaftlichen Entwicklungen unter der Besatzungsherrschaft in Griechenland, in Vietnam und auf den Philippinen im Spannungsgefüge von Kollaboration und Widerstand. Schon der argumentative Zusammenschluß geographisch weit auseinanderliegender Regionen vermag für gemeinsame Entwicklungen die Augen zu öffnen, die man mit der in Deutschland - aus naheliegenden Gründen - vorherrschenden eurozentrischen Betrachtungsweise aus dem Blick zu verlieren droht.

Gerade die Darstellung der späteren Bürgerkriegsgebiete braucht Kolko für seine Interpretation der Nachkriegsgeschichte. In ihr weist er den USA die Hauptschuld für die Entstehung des Kalten Krieges in Europa und für die Kriege in Korea und Vietnam sowie die inneren Auseinandersetzungen in Griechenland und auf den Philippinen zu. Gefangen in ihrer Furcht vor der territorialen Ausweitung des kommunistischen Einflußbereiches, hätten die USA völlig verkannt, daß viele Konflikte aus einem genuinen Kampf um soziale Gerechtigkeit und nicht aus dem Wirken sowjetischer Agenten resultierten. Durch ihre Doktrin des 'Containment' hätten die Strategen in Washington in Fortsetzung ihrer Kriegspolitik, als sie in den genannten Ländern aus Angst vor einer späteren kommunistischen Machtergreifung Widerstandsgruppen gegeneinander aufhetzten, um die Linke zu schwächen mit korrupten und undemokratischen Vertretern der jeweiligen Oligarchien paktiert. So erhellend Kolkos Ausführungen zum Verhalten der USA gegen Ende des Zweiten Weltkrieges gegenüber den Widerstandsgruppen auch sind, so fällt das Bild doch einseitig aus. Der Warschauer Pakt mit der Sowjetunion an der Spitze war keineswegs der Garant von Frieden und Stabilität, der verläßliche Partner des Westens, als den uns Kolko ihn präsentieren möchte. Der 17. Juni in der DDR, Ungarn 1956, die Unterdrückung des Prager Frühlings oder der Einmarsch in Afghanistan 1979 - allesamt Ereignisse, über die Kolko keine oder nur wenige Worte verliert - belegen, daß sich der Westen bedroht fühlen konnte. Das enthebt die USA nicht der Verantwortung für die Ausweitung des Koreakrieges oder des Vietnamkrieges, aber daß die Tendenz, den Systemkonflikt nach Asien, Afrika oder Lateinamerika zu exportieren von beiden Seiten verfolgt wurde, kann auch nicht einfach unter den Tisch gekehrt werden.

Als Gesamtinterpretation des 20. Jahrhunderts ist Kolkos Buch unzulänglich. Die Konzentration auf den Krieg als Auslöser aller weiteren Entwicklungen überzeugt nicht. Völlig zu kurz kommen bei ihm die ideologischen Antriebskräfte für die Geschehnisse in diesem Jahrhundert. Für ihn waren und sind die führenden Militärs und Politiker nur eine opportunistische Clique, die die eigene Karrierre und die Interessen der herrschenden Schichten über alles stellten. Diese skrupellosen Karrieristen hat es wohl zu allen Zeiten und in allen Gesellschaften gegeben. Dennoch bleibt ein Unterschied beispielsweise zwischen der Planung und Duchführung der Kriege des nationalsozialistischen Deutschland und der Kriegführung Großbritanniens oder der USA. Die Kriegführung der Nationalsozialisten speiste sich neben den militärischen Erfordernissen auch aus der rassistischen Ideologie. Überhaupt fällt auf, daß Kolko einem mindestens ebenso wie dem Krieg kennzeichnenden Signum des 20. Jahrhunderts, den Vernichtungs-, Arbeits oder Kriegsgefangenenlagern, kaum Bedeutung beimißt, käme er doch damit auf das Problem des grundsätzlichen Zusammenhanges zwischen Ideologie und Politik zu sprechen, also weg von der einseitigen Schuldzuweisung an die "endemische Bornierheit der herrschenden Schichten"(S. 53), die aus rein persönlichen Interessen Kriege vom Zaun brachen.

Auch Kolko geht es nicht nur um den Krieg. Wie er auf den letzten Seiten des Buches offenbart, wollte er den engen "Zusammenhang zwischen Kapitalismus und Kriegsgefahr" (S. 386) herausarbeiten. Es handelt sich also um eine grundsätzliche Kritik am Kapitalismus, für den "der Krieg lediglich die Erweiterung des Marktes mit anderen Mitteln" (S. 387) sei. Der Titel des Buches ist irreführend. Kolkos Buch wird so zu einem durch die historische Analyse verbrämten Plädoyer für die Wiederbelebung sozialistischer Ideen: "Soziale und ökonomische Ungerechtigkeiten werden ebensowenig von selbst aus der Welt verschwinden wie die radikale Opposition gegen Elend und Not. Daher bleibt die Wiederbelebung des Sozialismus ein unverwirktes Projekt. Ginge vom Kapitalismus nicht die Hauptgefahr für den friedlichen Fortbestand der Zivilisation aus, so müsste man die Linke wehmütig begraben, weil sie wiederholt nicht einmal ihre Minimalziele zu erreichen vermochte. Doch nun hat der verblüffende Niedergang des Ostblocks ja immerhin reinen Tisch gemacht für eine grundlegende Erneuerung, frei vom Moskauer Diktat." (S. 388)

Aus dieser Perspektive wird deutlich, warum er immer wieder die Unfähigkeit bolschewistischer und sozialistischer Führer betont, angefangen bei Lenin: Da sie nicht die 'wahren' Vertreter der Linken waren, sondern selbst nur politische Kriegsgewinnler, konnten sie Sozialismus nicht aufbauen. Aus dem Scheitern dieses Experiments, so die implizite Botschaft, kann deshalb auch nicht auf die Untauglichkeit der Idee geschlossen werden. Kolkos politisches Anliegen ist gewiß legitim, allerdings stellt er damit seine eigene These von der ausschlaggebenden Bedeutung des Krieges in Frage.Wenn soziale Ungerechtigkeit das Haupthemmnis einer friedlichen Entwicklung darstellt, was kaum zu bestreiten ist, dann verliert der Krieg seine Bedeutung als Hauptursache der gewaltsamen Entwicklung im 20. Jahrhundert. Auch ohne die Weltkriege, so läßt sich vermuten, hätten sich die sozialen Konflikte Bahn gebrochen.

Anmerkungen:
1 Hobsbawm, Eric J., Age of Extremes. The Short Twentieth Century 1914-1991, London 1994 (dt: Das Zeitalter der Extreme : Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts, München 1995). Furet, François, Le passé d'une illusion : essai sur l'idée communiste au XXe siècle, Paris 1995 (dt: Das Ende der Illusion : der Kommunismus im 20. Jahrhundert, München 1996). Diner, Dan, Das Jahrhundert verstehen. Eine universalhistorische Deutung, München 1999.
2 Mazower, Mark, Dark Continent: Europe's Twentieth Century, London 1999 (dt: Der dunkle Kontinent : Europa im 20. Jahrhundert, Berlin 2000).
3 Siehe dazu Förster, Stig, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871-1914. Metakritik eines Mythos, in: MGM 54 (1995), S. 61-95.
4 Zur jüngsten Debatte darüber siehe Stoneman, Mark R., Bürgerliche und adlige Krieger: Zum Verhältnis zwischen sozialer Herkunft und Berufskultur im wilhelminischen Armee-Offizierkorps (unveröffentlichtes Manuskript, erscheint in: Reif, Heinz (Hrsg.), Bürgertum und Adel, Berlin 2000)

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