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Titel
Die Hüter der Begriffe. Politische Sprachen des Konservativen in Großbritannien und der Bundesrepublik Deutschland 1945–1980


Autor(en)
Steber, Martina
Reihe
Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London 78
Erschienen
Anzahl Seiten
XI, 522 S.
Preis
€ 64,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Dietz, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Die politische Sprache des Konservativen scheint in Deutschland in Bewegung geraten zu sein. Nicht nur hat sich das Parteienspektrum um eine explizit „rechte“ Partei erweitert, die nach Begriffen sucht, um das politisch Sagbare auszuloten (und immer wieder bewusst zu übertreten), sondern auch innerhalb von CDU und CSU ist ein Streit um inhaltliche Positionen ausgebrochen, der sich vor allem um die Frage dreht: Was meint „konservativ“? Zur Beantwortung beschwören die einen das „christliche Menschenbild“ und die „Mitte“; andere wollen nach „rechts“ oder gar eine „konservative Revolution“ ausrufen. Diese Vorgänge kann man als mehr oder weniger übliche machtpolitische Profilierungsbemühungen interpretieren oder aber – wenn man gerade Martina Stebers eindrucksvolle Habilitationsschrift gelesen hat und für die „Spur der Sprache“ sensibilisiert worden ist – als eine neue Runde in einem jahrzehntelangen Kampf um die Begriffe, der die politische Kultur der Bundesrepublik maßgeblich geprägt hat und der wiederum selbst nur vor dem Hintergrund von Nationalsozialismus, Weimarer Republik, Kaiserreich und eigentlich der Gesamtgeschichte der politischen Moderne zu verstehen ist. „Die Hüter der Begriffe“ ist somit ein Buch zur rechten Zeit: In seinem Zentrum stehen die komplizierte Geschichte des Begriffs „Konservatismus“ seit 1945 und die vielfachen Versuche von Intellektuellen, Politikern und Wissenschaftlern, sich des Begriffs zu bemächtigen und ihn in ihrem jeweiligen Sinne zu füllen. Dabei bedienten sich die begriffspolitischen Initiativen aus dem bereits vorhandenen Pool von historischen Definitionsversuchen und Traditionsbeständen, fügten „Konservatismus“ aber immer wieder auch neue Bedeutungsschichten hinzu. Die historisch-semantische Analyse eines solch zentralen, omnipräsenten, gleichzeitig aber auch diffusen und schimmernden Schlüsselbegriffs der Moderne ist somit eine große Herausforderung.

Martina Steber löst diese Aufgabe in ihrer umfangreichen Monographie nicht nur mit einer Analyse der politischen Sprachen des Konservativen in der „alten Bundesrepublik“, sondern vergleicht den westdeutschen Fall mit Großbritannien. Dass der Vergleich stark asymmetrisch ausgefallen ist, begründet sie pragmatisch damit, dass in Großbritannien weniger ausführlich und vor allem weniger kontrovers über das Konservative diskutiert worden sei. Das komparative Ungleichgewicht kann man bedauern; dass aber grundsätzlich mit Großbritannien verglichen wird, ist aus mindestens drei Gründen sinnvoll: Erstens bietet der Vergleich mit dem britischen Fall und seiner stabilen Verankerung des Konservatismusbegriffs in der Sprache der Parteipolitik (Conservative Party) eine hinreichend starke Kontrastfolie, vor der die deutschen Spezifika deutlich werden. Zweitens wandten sich westdeutsche Konservative bei ihrer Suche nach Traditionslinien, die nicht durch den Nationalsozialismus diskreditiert waren, immer wieder selbst dem britischen Konservatismus und seinen Klassikern zu (besonders Edmund Burke). Und drittens eröffnet die deutsch-britische Perspektive auch noch den Blick auf die während der 1960er- und 1970er-Jahre in verschiedenen Zirkeln und Institutionen organisierten Austauschbemühungen und transnationalen Kooperationen zwischen Conservative Party und CDU/CSU, denen das letzte Hauptkapitel der Arbeit gewidmet ist.

Die theoretisch-methodischen Schwierigkeiten eines solchen historisch-semantischen Vergleichs ergeben sich vor allem daraus, dass ein unreflektiertes Heraussezieren eines politisch-sozialen Zentralbegriffs aus seinem jeweiligen nationalen geschichtlichen Zusammenhang tunlichst vermieden werden sollte. Da der Historikerin bekanntermaßen keine „Metasprache“ zur Verfügung steht, orientiert sich Steber zur Umgehung des Nominalismusproblems am theoretischen Ansatz des britischen Politikwissenschaftlers Michael Freeden. In dem von ihm entworfenen Modell erscheint Konservatismus als „relativ offene und fluide, variantenreiche und durch eine spezifische Morphologie definierte Sprachstruktur“ (S. 431). Damit wendet sich Steber sowohl gegen die Vorstellung, dass man von Konservatismus sinnvoll im Singular sprechen könne, als auch gegen den „klassischen“ Versuch, Konservatismus über eine lediglich inhaltliche und thematische Analyse zu erforschen. An dieser Stelle ist Steber kompromisslos: Der analytische Weg zu den Varianten des Konservatismus kann aus ihrer Sicht nur über die Sprache führen. (Bild-Sprachen und die visuelle Inszenierung des Konservativen werden dabei ausgeblendet.) Auf der Basis ihrer empirischen Arbeit entwickelt sie Freedens Modell entscheidend weiter und identifiziert vier „morphologische Strukturprinzipien“, die alle untersuchten politischen Sprachen des Konservativen entscheidend prägten: „Erstens, das Strukturprinzip der Zeitlichkeit, das für ein Gleichgewicht der drei Zeitdimensionen, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sorgte; zweitens, das Strukturprinzip des Ausgleichs und der Synthese, mittels dessen das konservative Streben nach Maß und Mitte sprachlich realisiert wurde; drittens das Strukturprinzip der Repetition und Aktualisierung, das dem konservativen Prinzip des Bewahrens, des Hütens der Begriffe entsprach; und viertens das Strukturprinzip der Gegensatzbildung, das einerseits aus der Abwehrhaltung gegenüber einem Zuviel an Neuerung und andererseits aus der Frontstellung zunächst gegenüber liberalem und dann auch sozialistischem bzw. sozialdemokratischem Denken rührte.“ (S. 10)

Was heißt das nun konkret? Für Großbritannien liegt der Schwerpunkt der historisch-semantischen Analyse auf den 1960er- und 1970er-Jahren, die wiederum in drei Phasen eingeteilt werden: die Regierungszeit von Harold Macmillan bis 1963; die Zeit der programmatischen Erneuerung der Konservativen Partei unter Edward Heath und schließlich eine dritte Phase seit der Wahl Margaret Thatchers zur Parteiführerin im Februar 1975 bis in die 1980er-Jahre. Unter Macmillan verschob sich die Gewichtung der Zeitdimensionen zur Zukunft, Progressive Conservatism wurde zu einem Label für einen fortschrittlichen Konservatismus, der konsumorientierten Massenwohlstand versprach. Heaths „Manager-Konservatismus“ (S. 59) knüpfte terminologisch daran an, geriet aber seit Mitte der 1960er-Jahre in die Kritik. Gefordert wurde nun verstärkt ein „wahrer Konservatismus“, und der Weg dorthin bestand für die innerparteilichen Kritiker laut Steber in der Suche nach einer anderen politischen Sprache. Eine entscheidende Neuerung im konservativen Vokabular war eine radikale Individualisierung der christlichen Lehre von der Solidarität. Dies öffnete den Konservatismus für marktliberale Argumentationsfiguren, gleichzeitig wurde aber der Freiheitsbegriff durch Begriffe wie „order“, „authority“, „hierarchy“ und „inequality“ wieder eingehegt. Damit war der Weg für den Thatcherismus geebnet, den Steber entsprechend nicht als den britischen Teil einer transatlantischen neoliberalen Achse interpretiert, sondern als Neuordnung von Begriffsbeständen konservativer Sprache, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert herausgebildet hatte.

In der Bundesrepublik war die Entwicklung nach 1945 komplexer und problematischer. Innerhalb der CDU/CSU wurde aus „semantischer Not“ der Konservatismusbegriff mit anderen integrierenden Begriffen wie „christlich“, „Mitte“ und „Volkspartei“ umgangen. Gleichzeitig verschwand der Begriff aber nicht, sondern führte ein Eigenleben – „angesiedelt in einem Zwischenraum zwischen dem Vokabular der Demokratie und jenem, das als inakzeptabel und damit nicht-sagbar galt“ (S. 424). An dieser Situation konnten auch die intellektuellen Ansätze zur Profilierung eines liberalen Konservatismusbegriffs der 1970er-Jahre, denen Steber viel Platz einräumt (und durchaus Sympathie entgegenbringt), wenig ändern. Angesichts der Diffamierung durch Studentenbewegung und Neue Linke sowie der Begriffsstrategie der sozialliberalen Koalition konnte sich Konservatismus „als neutraler Begriff, vergleichbar mit seinem britischen Pendant“ (S. 357), in der politischen Sprache der Bundesrepublik nicht durchsetzen.

Dabei kam ein zusätzlicher, wenn nicht sogar der eigentliche Gegner im Kampf um die Sprache nicht von links, sondern von rechts. Die rechten und antidemokratischen Potenziale des Konservatismusbegriffs in der Tradition der Weimarer Neuen Rechten konnten in den 1950er- und 1960er-Jahren nicht verdrängt werden und erlebten in einer offensiven Okkupation des Konservatismusbegriffs durch die Neue Rechte in den 1970er-Jahren eine wahre Renaissance. Wie schon die „Konservative Revolution“ der 1920er- und frühen 1930er-Jahre war der antiliberale Konservatismus in den rechten Intellektuellennetzwerken der 1970er-Jahre geprägt von einer Zurückweisung fundamentaler Strukturprinzipen des Konservatismus. Das gilt insbesondere für das Strukturprinzip der Zeitlichkeit, also für das konservative Verlangen nach einer fortlaufenden Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Neue Rechte predigte radikalen Wandel; es ging ihr um die Gegenwart, vor allem aber um die Zukunft. Ihr Modell von Zeitlichkeit war revolutionär. Hier liegt nun der eigentliche Clou von Stebers Argumentation: Indem die Vertreter der intellektuellen bundesrepublikanischen Neuen Rechten sich des Konservatismusbegriffs bedienten, sich den Konservatismus als „strategisches Mäntelchen“ umhängten (und letztlich so „in historischer Perspektive sicherlich nicht als Konservative bezeichnet werden können“, S. 308), verhinderten sie den dauerhaften Erfolg einer von vielen vorangetriebenen Liberalisierung des Konservatismusbegriffs. Entsprechend kompliziert blieb bis zum heutigen Tag das Verhältnis vor allem der CDU zu ihrem „schwierigsten Selbstbeschreibungsbegriff“ (S. 425). Zu gern hätte man an dieser Stelle weitergelesen, aber die 1980er-Jahre gehören – trotz der sicherlich großen Relevanz für die weitere Entwicklung des Konservatismusbegriffs – aus pragmatischen Gründen nicht mehr zum Untersuchungszeitraum der Autorin.

Ihre zentrale und sicher kontroverse These stellt Martina Steber dennoch nicht leichtfertig auf. Die Deutung basiert auf einer akribischen und methodisch reflektierten Analyse, die nicht nur Bekanntes in anderem Licht erscheinen lässt, sondern vor allem auch sehr viel Neues zutage bringt: Das gilt beispielsweise für ein Kapitel zum Konservatismusbegriff der Deutschen Partei, für die Darstellung der rechtsintellektuellen Netzwerke um die in den 1970er-Jahren gegründeten Zeitschriften „Criticón“, „Konservativ heute“, „Scheidewege“ und „Zeitbühne“, aber auch für die Geschichte der transnationalen Verbindungen zwischen Union und Conservative Party, die dem frühen Thatcherismus eine bisher wenig bekannte europäische Dimension gibt. Entstanden ist so ein sehr kluges Buch, das den Schwierigkeiten einer sprachlichen Analyse von politischer Sprache mit viel Sensibilität und Souveränität begegnet und dem man nicht zuletzt deshalb besonders viele Leser wünschen möchte.