S. Diziol (Hrsg.): Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens

Cover
Titel
Franz Simon Meyer: Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens. Band 1. 1816 – 1828. Die Jugendjahre


Herausgeber
Diziol, Sebastian
Erschienen
Anzahl Seiten
632 S., 51 Abb., 4 Karten, 11 Ill.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michael Maurer, Bereich Volkskunde/ Kulturgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Kennen Sie Meyer? Franz (Simon) Meyer? Wohl kaum, wenn sein Leben als ein „gleichgültiges“ bezeichnet werden konnte. Franz Simon Meyer war ein deutscher Bürger des 19. Jahrhunderts, den man vielleicht als „durchschnittlich“ bezeichnen könnte – hätte er nicht dieses Manuskript von 1500 Seiten hinterlassen, das sich im Stadtarchiv Baden-Baden erhalten hat, in dem er über die Jahre und Jahrzehnte seines Erwachsenenlebens ausführlich Bericht abstattete.

Meyer wurde 1799 in Rastatt geboren, war von Beruf Kaufmann und Bankier und starb 1871 in Rastatt. Seine Ausbildung erhielt der Katholik auf dem Piaristenkolleg in Rastatt und auf einer Privatschule in St. Blaise bei Neuchâtel (er war auch im Französischen perfekt), bevor er sich mit einem Vetter auf eine Reise durch die Schweiz und nach Mailand begab (1816), dann, gerade volljährig geworden, nach Paris (1820), weiter nach London und in den Norden Englands, genauer gesagt in die Industriezentren der Midlands (Birmingham, Manchester, Sheffield, Liverpool; 1821). Auf einen fast hundertseitigen Vorbericht über seine Familie folgen die Berichte dieser Reisen. In seinem späteren Leben, ab 1822, hatte er die Angewohnheit, über jedes einzelne Jahr einen zusammenfassenden Bericht zu schreiben, in dem er sich die Geschehnisse der großen Politik notierte und die kleinen Veränderungen in seinem Haushalt, seiner Familie, seinem ausgedehnten Verwandten- und Freundeskreis. Er liebte es offenbar, in seinen Aufzeichnungen aus früheren Zeiten erneut zu lesen und auch daraus vorzulesen, wohl mit zunehmender Begeisterung im Alter.

Seine persönlichen Aufschreibebücher haben (abgesehen von den Reiseberichten und rückblickenden Darstellungen) gewissermaßen Tagebuchcharakter – falls man das über „Jahresbücher“ noch sagen kann. Die Bücher sind immer persönlich, nämlich sein individuelles Leben und dessen Vorfälle im Rahmen des geschichtlichen Ablaufes thematisierend, aber nicht introspektiv, nicht reflexiv, nicht psychologisch. Sie wurden zwar nicht im Hinblick auf eine Publikation geschrieben, aber doch durchaus in der Hinwendung an einen vorgestellten Leser (wohl am ehesten in der eigenen Familie). Als persönliche Bücher enthalten sie zusätzliche Dokumente wie Briefe und Rechnungen, aber auch eigene Gedichte und Bilder (sowohl gesammelte Bilder mit Porträts von berühmten Zeitgenossen als auch – in der Jugend, auf der ersten Reise – eigene Zeichnungen und Aquarelle von Landschaften unterwegs). Es sind also in jedem Falle sehr persönliche Bücher, und das ist es wohl, was durch den vom Herausgeber auf Vorschlag des Schriftstellers Feridun Zaimoglu gewählten Titel ausgedrückt werden sollte: „Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens“. (Wobei hier noch auf die Finesse der Umschlaggestaltung hingewiesen werden sollte: „gleichgültigen“ ist sowohl typographisch hervorgehoben als auch verschwindend; handschriftlich wird mit Goldbuchstaben überschrieben, was sonst als „Die ganze Geschichte meines Lebens“ erscheint.)

Was hat uns Franz Meyer zu bieten? Zunächst eine bemerkenswerte Familiengeschichte von Einwanderung und Aufstieg seiner Vorfahren, die aus einfachen Verhältnissen in Savoyen und Tirol in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts nach Baden kamen und Handel trieben. Bereits sein Vater war Bankier und konnte einen eindrucksvollen gesellschaftlichen Aufstieg am badischen Hof in Rastatt verbuchen; der Sohn brauchte nur noch in seine Fußstapfen zu treten und sich zu bewähren. Was er offenbar tat, wobei ihm die Wirren der Revolutionszeit nach 1789 erspart blieben, die jedoch in der Vorgeschichte und auch in manchen späteren Begebenheiten den Hintergrund dieser Lebenserzählung bieten. Beispielsweise beschreibt Meyer genau den Rastatter Gesandtenmord, der im Jahre seiner Geburt 1799 stattfand, also wohl aufgrund der Erzählungen seines Vaters. Historisch aufschlussreich sind auch die Geschehnisse, die 1820 an die Oberfläche kommen, als der Sohn sich im Paris der Bourbonen-Restauration um eine Anerkennung für seinen royalistischen Vater bemüht, der viele französischen Emigranten in Rastatt beherbergt und ihre Geschäfte besorgt hatte, wobei er sich selber in Gefahr brachte. Eindrücklich der häufig wiederholte Wahlspruch seines Vaters: „es muß doch noch anderst werden!“ (S. 406 u.ö.) Der vorliegende erste Band (die Edition ist auf drei Bände geplant) umfasst im Wesentlichen das Jahrzehnt nach dem Wiener Kongress, eine Zeit der Ruhe und Stabilisierung, der Restauration und Wiedergutmachung, aber eben auch eine Zeit, von der der heutige Leser schon weiß, dass der Wahlspruch des Vaters auch später noch brauchbar war. Wir sind bereits gespannt auf Rastatt in den Jahren 1848/49!

Die Aufzeichnungen von Franz Meyer (so schrieb er sich gewöhnlich), einem Mann mit ausgesucht schöner Handschrift und Signatur, auch insofern also ein ausgezeichneter Vertreter seines Berufsstandes, wirken oft etwas biedermeierlich. Und die Zeit, die hier beschrieben wird, ist ja gerade jene Zeit, die historisch zuweilen als „Biedermeier“ bezeichnet wird. Man kann sich sehr gut vorstellen, in welchen Häusern, Wohnungen, Salons und Interieurs man sich damals aufgehalten hat. Man sieht Franz Meyer vor seinem geistigen Auge meist schreibend an einem Sekretär, noch mit Feder und Tintenfass, auf ausgesuchtem Schreibpapier Linien ziehend. Man sieht ihn auch in seinem Comptoir, und durchaus auch in Ballsälen, aber mit Vorliebe im Kreise seiner Familie. Er ist auch ein Mann, der Natur und Landschaften zu genießen weiß, aber doch auch einer, der (jedenfalls in jungen Jahren) auch in die Themse oder ins Meer springen kann. (Im Rahmen seiner Englandreise berichtet er sogar von seiner Einfahrt in ein Bergwerk und seiner Teilnahme an einer Fuchsjagd.) Er hat auch gerne gesungen, am liebsten mit Freunden, und er war ein gebildeter Mann. Die Aufzeichnungen sind durchzogen von Schiller-Zitaten; offenbar war der schwäbische Dichter für ihn das Höchste. (Dass seine eigenen Gedichte ebenso wie die Zeichnungen und Aquarelle eher für den Hausgebrauch angefertigt wurden, gehört zu den bürgerlichen Lebensformen seiner Zeit.) Das Schreiben muss ihm leicht gefallen sein: Schon als 20jähriger beherrschte er einen gediegenen, komplexen Prosastil, gleichmäßig fließend, aber nie langweilig. Es handelt sich bei seiner Lebensgeschichte um eine kulturgeschichtlich wertvolle Quelle – wertvoll vor allem als Zeugnis für bürgerliches Privatleben und Lebensgefühl im 19. Jahrhundert, wenn auch weniger abgerundet als etwa die berühmten „Jugenderinnerungen eines alten Mannes“ von Wilhelm von Kügelgen. Seine Jahresberichte wachsen um den Stamm wie die Jahresringe eines Baumes.

Die Edition von Sebastian Diziol ist sehr überlegt konzipiert und sorgfältig gestaltet. Der Text wird zeichengetreu wiedergegeben, man muss es sich also auch gefallen lassen, wenn Meyer einmal aus Versehen statt „fiel“ „viel“ schreibt oder Ähnliches. Außerdem versteht sich von selbst, dass die Orthographie zu seiner Zeit noch weniger reguliert war als später. (In die Interpunktion wurde dagegen durch den Herausgeber bewusst eingegriffen.) Lesefehler sind selten (einmal „Straße“ statt „Strafe“, S. 308; in Londoner Parks weiden „Kühe“, nicht „Ruhe“, S. 287.) Einen durchgehenden Anmerkungsapparat gibt es nicht, doch wurden die modernen Schreibweisen bei Ortsnamen hinzugefügt und auf dem Rande in verschiedenen Farben die identifizierbaren Personen angegeben und schwer verständliche Ausdrücke übersetzt und erklärt. Ein Stammbaum, Karten, Orts- und Personenregister erschließen die Textfülle. Der Herausgeber hat außerdem ein einladendes Vorwort und ein wissenschaftlich gewichtiges Nachwort über den historischen Quellenwert der Selbstzeugnisse hinzugefügt.

Eigens Beachtung verdient in diesem Falle die Buchgestaltung. Sie ist nicht nur das, was man gewöhnlich etwas herablassend „liebevoll“ nennt, sondern tatsächlich geschmackvoll (René Hübner). Während man sich sonst oft gestört fühlt, wenn moderne Künstler historische Quellen „aufhübschen“ wollen, hat in diesem Falle die Zusammenarbeit von Herausgeber, Verlag und Buchkünstler zu einem in jeder Hinsicht geglückten Resultat geführt: Die Edition einer Lebensgeschichte aus dem 19. Jahrhundert, die in Text und Gestaltung etwas vom Flair jener Zeit vermittelt. Man erwartet schon die folgenden beiden Bände.

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