W. Böttcher (Hrsg.): Die Neuordnung Europas beim Wiener Kongress

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Titel
Die "Neuordner" Europas beim Wiener Kongress 1814/1815.


Herausgeber
Böttcher, Winfried
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
252 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolf D. Gruner, Rostock

Der Band über die Neuordner „versteht sich“, wie Winfried Böttcher einleitend anmerkt, „als lexikalische Ergänzung über die in der Literatur erwähnten wichtigsten Akteure, die eigentlichen Arbeiter, die den Kongress bestimmt und geprägt haben“ (S. 5). Neben den zahlreichen Studien, die anlässlich der 200-Jahr-Feier des Wiener Kongresses erschienen sind und von denen die meisten wichtigen auch von den Autoren des Bandes herangezogen wurden, ist der Band zu den Neuordnern Europas ein wertvoller und ergänzender Beitrag für eine neue Bewertung des Wiener Kongresses. Behandelt werden von unterschiedlichen Autoren die Vertreter der fünf Großmächte und die Akteure der ehemaligen Großmächte (Spanien, Portugal, Schweden). Der benutzte Begriff für Spanien, Portugal und Schweden, als Gruppe der „Mittelmächte“ ist historisch betrachtet für diese Periode der europäischen Geschichte nicht unbedingt angebracht. Zu bedauern ist auch, dass die wichtigen, großen europäischen Mittelstaaten zur Kongresszeit mit ihren für die Entscheidungsprozesse in Wien einflussreichen Vertretern nicht aufgenommen und gewürdigt wurden.

Die Beiträge zu den einzelnen Persönlichkeiten sind qualitativ und hinsichtlich des Forschungsstands unterschiedlich. Die Autoren sind in der Geschichts- und Politikwissenschaft angesiedelt. Unabhängig von der Qualität der Beiträge ist es wichtig, dass die Neuordner erfasst wurden, auch wenn sie mit wenigen Ausnahmen längst bekannt sind, und dass sie stärker in das wissenschaftliche und vor allem das öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Es ist dem Herausgeber daher hoch anzurechnen, dass er die im Hintergrund tätigen „Neuordnungsarbeiter“ in den Mittelpunkt stellt. Sie spielten in der Vorbereitung der Arbeit in den Kommissionen eine gewichtige Rolle. Ihre Berichte und Memoranden wurden Grundlage für Entscheidungen der Monarchen und leitenden Minister auf dem Kongress. Die Biographien der Neuordner ermöglichen zudem, jenseits der Hauptakteure des Kongresses, einen Einblick in die je einzelstaatlichen und nationalen Interessen der Beteiligten, in ihre Tätigkeit in den Kommissionen des Kongresses, in das politische Umfeld aus dem sie kommen und ihre Persönlichkeiten.

Hervorzuheben ist auch, dass der Herausgeber in seiner Einleitung auf die Europabilder und Europakonzeptionen der Periode eingeht, etwas, das im Zusammenhang mit dem Wiener Kongress und seiner europäischen und globalen politischen Bedeutung meistens vergessen oder ausgeklammert wird, aber sie wiesen weit über die europäische Sattelzeit hinaus in die Zukunft der europäischen Einigungsprozesse des 20. Jahrhunderts.1
Einige Aussagen in der Einführung müssten aus Sicht des Historikers differenziert werden. Die Wiener Ordnung von 1815 stellte nicht „weitgehend“ die vorrevolutionäre Ordnung vor 1789 wieder her. Der Kongress war, anders als bisher gesehen, die zentrale Schnittstelle im Transformationsprozess vom Europa des Ancien Regime zu jenem der Moderne und Modernität des langen 19. Jahrhunderts. Das „Europabild der Restauration“ wurde nicht allein durch die drei Prinzipien „Restauration“, „Gleichgewicht“ und „Legitimität“ bestimmt, sondern das 1814 geschaffene Europäische Konzert als Sicherheitsrat bewegte sich zwischen Legitimität und nationalem Interesse.2 Die Aussage, dass das europäische Gleichgewicht mit dem Krimkrieg bzw. spätestens mit der Reichsgründung 1870/71 endgültig zerbrochen sei, wird von der Forschung heute mehrheitlich nicht mehr geteilt.

In einer ersten Abteilung werden die Großmächte thematisiert und am Anfang steht Großbritannien. Hier wird zunächst der Prinzregent Georg, der spätere König Georg IV. behandelt und dann zu Recht auf Castlereaghs „mediatorisches Geschick“ verwiesen. Mit seinem Nachfolger auf dem Kongress, dem Herzog von Wellington, hatte Castlereagh vor und nach 1814/15 einen intensiven mündlichen und schriftlichen Austausch. Wellington und Lord Cathcart verfolgten in dieser Phase weiter Castlereaghs Grundideen für eine europäische Rechtsgemeinschaft. Schwierigstes Mitglied der britischen Delegation war der eitle, wenig kompetente und unbeherrschte Halbbruder Castlereaghs, Lord Stewart. Lord Clancary wurde aufgrund seiner Tätigkeit als Botschafter in Den Haag und seiner Kenntnisse über die wichtige sicherheitspolitische Rolle der Niederlande und der zu regelnden Neuordnungsfrage dieses Raumes in die britische Delegation berufen.

Als zweite Großmacht kommt Österreich in den Blick: Zunächst Kaiser Franz II./I., der die politischen Aufgaben seinem Staatskanzler Metternich überließ. Während das Bild des Kaisers sich in der Forschung nicht positiv verändert hat, wie Helmut Reinalter festhält, haben wir heute ein differenzierteres ausgewogeneres Metternichbild. Einer der österreichischen Partner Metternichs auf dem Kongress war Johann Philipp Freiherr von Wessenberg, der schwierige Sonderaufgaben zu bewältigen hatte. Ihn aber als „den geistigen Vater der deutschen Bundesakte“ (S. 87) zu bezeichnen spricht von geringer Kenntnis von der Arbeit des Kongresses. Der jammernde Beitrag zu einem verdienten Diplomaten, aus dem man substanziell viel mehr hätte machen können, ist mit Abstand der schwächste des Bandes. Ein Qualitätssprung im Vergleich hierzu ist der Aufsatz von Günther Kronenbitter zu Friedrich von Gentz. Nur Weniges ist über Nikolaus von Wacken bekannt. Er war neben Gentz der zweite Kongresssekretär. Interessant wäre es sicherlich auch gewesen, die juristischen Mitarbeiter Metternichs in der Staatskanzlei zu porträtieren, die Gutachten für den Staatskanzler erstellten und Vorlagen ausarbeiteten.

Wie bei den anderen Großmächten wurde auch im Fall Russlands, in den von Alexander Erochin geschriebenen Beiträgen, Zar Alexander an die Spitze gestellt. Von den in Wien anwesenden Monarchen war er in jeder Hinsicht der aktivste, im politischen wie im gesellschaftlichen Bereich. Er hatte Berater, die ideologisch unterschiedliche Positionen vertraten. Die Spannbreite ging vom liberalen Grafen Kapodistrias zum konservativen Baltendeutschen Nesselrode und zum deutschen Freiherrn vom und zum Stein. Zuzustimmen ist dem Verfasser, dass Alexander der „einzige Ideologe“ unter den in Wien anwesenden Monarchen war (S. 137). Aufgrund der Sonderstellung des Zaren kam seinen Bevollmächtigten auf dem Kongress Graf Karl von Nesselrode, und später unverhofft Fürst Andrej Rasomowskij und Graf Gustav Ernst von Stackelberg keine entscheidende Bedeutung zu. Wichtig war der reiche Rasomowskij vor allem für die von ihm veranstalteten Feste, seine langjährige Kenntnis Wiens und durch sein Mäzenatentum. Wichtig wäre es eigentlich auch gewesen, einflussreiche Berater des Zaren, wie unter anderen Freiherr vom Stein als „Neuordner“ zu berücksichtigen.

Preußen war in Wien neben seinem König Friedrich Wilhelm III. durch den Staatskanzler Karl August von Hardenberg und den preußischen Gesandten in Österreich, Wilhelm von Humboldt, vertreten. Der König überließ die Kongressarbeit Hardenberg und Humboldt und einem großen Beraterstab – von letzterem hätte man gerne mehr gehört als „Mitgestalter[n] des zweiten Gliedes“.

Frankreich, das als Großmacht wieder in die Wiener Ordnung zurückkehren sollte, spielte eine komplizierte Rolle. Der im April 1814 wieder eingesetzte französische König Ludwig XVIII. ließ seinem Außenminister Talleyrand-Périgord, dem er viel zu verdanken hatte, freie Hand für die Beratungen auf dem Kongress. Irritierend am Beitrag zu Talleyrand ist, dass Jürgen Lauer höchst ausführlich Ferreros Buch von 1940 zitiert, dieser jedoch in seiner Literaturliste nicht vorkommt, auch dass er Bezüge herstellt, die aus der Perspektive der Zeitgenossenschaft von 1940 aber nicht aus dem Forschungsstand von 2018 nachvollziehbar sind.3 Talleyrand war auf französischer Seite die Hauptfigur. Es ist sehr zu begrüßen, dass auch der Herzog von Dalberg als Mitglied der französischen Delegation gewürdigt wird. Frédéric-Séraphin de la Tour du Pin hatte Talleyrand während seines Exils in den USA kennengelernt. In Wien war der französische Botschafter in den Niederlanden Mitglied der wichtigen „Rangkommission“. Graf Noailles war als Vertrauter des Königs nach Wien gekommen und berichtete regelmäßig nach Paris.

Zu den acht Garantiemächten des Wiener Kongresses gehörten auch die alten europäischen Großmächte des 16. und 17. Jahrhunderts, Spanien, Portugal und Schweden, die in den napoleonischen Kriegen eine Rolle spielten, aber nur noch als Mächte des „zweiten Ranges“ galten und vor den seit 1800 entstandenen europäischen Mittelstaaten positioniert waren. Spanien war auf dem Kongress durch Marqués Pedro Gómez de Labrador vertreten, eine Fehlbesetzung. Er hatte zudem wenig konkrete Anweisungen für die Vertretung der spanischen Interessen, weil König Ferdinand VII. am Kongress nicht interessiert war. Portugal war mit drei erfahrenen Diplomaten in Wien vertreten. Die Schwierigkeit der portugiesischen Bevollmächtigten war, dass der portugiesische Hof seit der französischen Besetzung in Rio de Janeiro residierte und die Kommunikation schwierig und langwierig war. Schweden war in Wien schließlich durch den erfahrenen Diplomaten und Militär Gustaf Carl Frederick Graf Löwenhielm vertreten.

In einem vierten Teil wird der Versuch unternommen, den Wiener Kongress in den Kontext der internationalen Kongresse vom Westfälischen Frieden bis zur Charta von Paris 1990 zu stellen, einen vergleichenden Blick auf die großen internationalen Konferenzen der Neuzeit zu werfen, als Ergänzung zu den „biographisch-historisch“ angelegten „Neuordnern“. Ein sehr ambitioniertes Unterfangen. Der Beitrag ist in verschiedene spezifische Unterabschnitte gegliedert: Das Fortleben alter Friedenskonferenzgrundsätze, der Komplex Hegemonieinteressen versus Balance of Power, Souveränität und Legitimität, internationale Rechtsvereinbarungen und supranationale Bünde und schließlich Strategien und Formen diplomatischer Verhandlungen. Ein struktureller Zugriff, den möglicherweise der Herausgeber selbst hätte übernehmen sollen, wäre wahrscheinlich aus der Perspektive der Geschichte der internationalen Beziehungen und der Kompetenz zu den Europaideen und Europaplänen sinnvoll gewesen. Die Anreihung eines Potpourri von Zitaten aus der Literatur, weil sie gerade passen, ohne Wahrnehmung des aktuellen Forschungstandes ist höchst problematisch, auch mit Blick auf den vorgenommenen Vergleich zwischen 1815 und 1919. Hier hätte der Charakter der beiden Friedensschlüsse thematisiert werden müssen: War Wien der erste moderne Friedenskongress und 1919 der letzte Friede der Kabinette des 18. Jahrhunderts wie es Paul W. Schroeder jüngst formulierte?4 Einerseits Kraus Buch über Versailles aus 2013 zu zitieren5, ohne die vor dem Abschluss des Manuskriptes verfügbare Literatur zu 1919/20 aufzunehmen, andererseits Ferreros Werk über Talleyrand von 1940 zu nutzen, ist nicht ertragreich. Hier fehlen Wissen und Substanz. Gleiches gilt für die Periode 1919 bis 1990 und die entsprechende Literaturauswahl. Das Kapitel wird seinem Anliegen und Anspruch nicht gerecht. Es fehlt auch die Europadimension, die vom Herausgeber in seiner Einleitung thematisiert worden war.

Insgesamt gesehen ist es sehr erfreulich, dass die inhaltlichen Gestalter der Wiener Ordnung gewürdigt werden. Allein dieses macht schon den Wert des Bandes aus.

Anmerkungen:
1 Klaus Malettke (Hrsg.), Imaginer l’Europe, Brüssel 1998; Heinz Duchhardt / Malgorzata Morawiec (Hrsg.), Vision Europa. Deutsche und polnische Föderationspläne des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Mainz 2003; vgl. auch hierzu die nicht erwähnten Klassiker: Kurt von Raumer, Ewiger Frieden. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance, Freiburg im Breisgau 1953; Jacob Ter Meulen, Der Gedanke der internationalen Organisation in seiner Entwicklung, 2 Bde, Den Haag 1917–1940.
2 Matthias Schulz, Normen und Praxis. Das europäische Konzert der Großmächte als Sicherheitsrat 1815–1860, München 2009 sowie u. a. Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress 1814/15, Wien 2014; Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014, S. 15ff.
3 Guglielmo Ferrero, Talleyrand au Congrès de Vienna, Paris 1996. Ferrero war 1942 gestorben. Alle weiteren Darstellungen basieren auf: Guglielmo Ferrero, Reconstruction. Talleyrand à Vienne (1814-1815), Paris 1940; deutsche Ausgabe: Guglielmo Ferrero, Wiederaufbau. Talleyrand in Wien (1814-1815), München 1950.
4 Vortrag auf der Jahreskonferenz des Consortium for the Revoltionary Era 2017 in High Point, USA. Im Druck.
5 Hans Christof Kraus, Versailles und die Folgen, Berlin 2013.

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