D. Fugger u.a. (Hrsg.): Ferdinand Gregorovius

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Titel
Ferdinand Gregorovius. Europa und die Revolution, Leitartikel 1848-1850


Herausgeber
Fugger, Dominik; Lorek, Karsten
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
463 S.
Preis
€ 48,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Laura Nippel, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat immer wieder die europäische Dimension der Revolutionen von 1848/49 betont.1 Die hier edierten Leitartikel des Historikers und Publizisten Ferdinand Gregorovius, die er während der Revolution für die Neue Königsberger Zeitung verfasste, zeichnen sich durch diesen gesamtkontinentalen Blick aus. Nicht zuletzt spiegelt sich dies in der Überschrift seines letzten Leitartikels wider, der zum Titel dieser Edition wurde: „Europa und die Revolution“. Er erschien in der letzten Ausgabe der Neuen Königsberger Zeitung vom 29. Juni 1850, die sich aufgrund des verschärften preußischen Pressegesetzes vom 5. Juni 1850 nicht mehr auf dem Markt behaupten konnte – dabei war sie schon seit ihrem Erscheinen kein wirtschaftliches Erfolgsmodell und hatte mit stetig sinkenden Abonnentenzahlen zu kämpfen (was jedoch Problemen bei der tagesaktuellen Berichterstattung geschuldet war).2

1821 in Ostpreußen geboren, studierte Gregorovius Theologie und Philosophie in Königsberg. Als junger Mann von 27 Jahren arbeitete er von Ende Mai 1848 bis Ende Juni 1850 an der nach Aufhebung der Pressezensur gegründeten Neuen Königsberger Zeitung als Leitartikler und Feuilletonist mit. Mit seinen 92 Leitartikeln – manchmal erschienen nur zwei im Monat, oftmals aber fünf oder sechs – prägte Gregorovius wie kein anderer die politische Ausrichtung des Blattes. Für die Leser war der Autor jedoch nicht identifizierbar, er veröffentlichte wie die anderen Beiträger nur anonym unter einer Chiffre. Gregorovius steuerte mit Abstand die meisten Leitartikel bei; zum Vergleich: Adolph Samter, der junge Verleger und Herausgeber der Neuen Königsberger Zeitung, lieferte selbst nur 50 Leitartikel. Das Blatt positionierte sich links von der etablierten liberalen Hartungschen Zeitung aus Königsberg. Gregorovius prägte diese demokratische, aber nicht radikale Ausrichtung mit, indem er beispielsweise am 4. Oktober 1848 Gustav Struve und die badischen Radikalen nach ihrem gescheiterten Putsch kritisierte: Nicht „durch einen Haufen zusammengeraffter Proletarier“ lasse sich ein Staat errichten, sondern allein „durch das Gesetz des Nationalwillens [in] Gestalt als Gesetz“ (S. 69).

Neben den Ereignissen in Preußen und Deutschland kommentierte Gregorovius auch die Entwicklungen in Österreich, Ungarn, Frankreich, Italien, Russland, der Schweiz, Dänemark, England, Polen, den USA und im Osmanischen Reich. Gregorovius zeigte sich als engagierter Fürsprecher des Prinzips der Volkssouveränität, der Freiheit der Völker und der nationalen Selbstbestimmung. So forderte er die Wiederherstellung eines souveränen polnischen Staats und die Befreiung Ungarns und Norditaliens von österreichischer Herrschaft. In seinem letzten Artikel stellte er desillusioniert fest, dass die Revolution weder die „Selbstregierung des Volkes durch wahrhafte Volksvertretung auf dem Grunde allgemeiner Wahlen“, noch „die Vereinigung der Stämme eines getheilten Volkes zur Union“ und „die nationale Wiederherstellung“ unterdrückter Völker wie der Polen oder Ungarn durchsetzen konnte (S. 288). 1852 verließ Gregorovius Deutschland in Richtung Italien. In den Jahren danach erlangte er, fern der Heimat, Prominenz durch seine historischen Studien zu Italien und der Stadt Rom.3

Die Verhandlungen der Deutschen Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche werden von Gregorovius meist nur am Rande behandelt. Wie für viele seiner Landsleute waren die Vorgänge in Berlin für den Preußen von weit größerem Interesse. So echauffierte er sich am 29. November 1848 über die mangelnde Unterstützung der Paulskirchenabgeordneten für die preußische Nationalversammlung in deren Konflikt mit Friedrich Wilhelm IV. und dem gegenrevolutionären Kabinett Brandenburgs. Die Preußische Nationalversammlung hatte dem neueingesetzten Ministerium die Unterstützung verweigert, woraufhin der König am 9. November die Verlegung des Parlaments nach Brandenburg an der Havel und bis dahin ein Aussetzen der Sitzungen anordnete. Das Parlament widersetzte sich dieser Anweisung, es kam erneut zu Tumulten in Berlin, weshalb drei Tage später der Belagerungszustand über die Stadt verhängt wurde. Die Nationalversammlung verabschiedete einen Steuerverweigerungsbeschluss, der dem Ministerium Brandenburg untersagte, über Staatsgelder zu verfügen, solange das Parlament nicht ungestört tagen dürfe. Die Frankfurter Nationalversammlung erklärte den Steuerverweigerungsbeschluss jedoch für rechtswidrig. Der liberale Abgeordnete und Unterstaatssekretär Friedrich Daniel Bassermann rechtfertigte, nachdem er von der provisorischen Zentralregierung nach Berlin geschickt worden war, am 18. November in der Paulskirche sogar den Belagerungszustand und die Verlegung des Parlaments. Gregorovius sah sich in seiner von Beginn an skeptischen und kritischen Haltung gegenüber der Paulskirche bestätigt: Die Deutsche Nationalversammlung sei ein Parlament, das durch „gänzliche Haltungslosigkeit und innerste Lebensschwäche“ geprägt sei, ein Parlament, das „praktisch nie im Ansehen stand, nun auch moralisch Alles verloren“ habe (S. 94).

Das Format des Leitartikels wurde von der Hartungschen Zeitung während der kurzen „Pressefreiheit“ in Preußen 1842/43 entwickelt und setzte sich in der Revolution 1848/49 durch. Die Neue Königsberger Zeitung übernahm dieses Format; Gregorovius’ Leitartikel waren auch für die zeitgenössischen Leser durch ihre aktuell-politischen und historischen Anspielungen voraussetzungsreich. Sie richteten sich an das gutinformierte und gebildete Bürgertum, nicht an das einfache Volk. Gregorovius sah jedoch in der mangelnden politischen Bildung der ländlichen Bevölkerung ein großes Problem: "Demokratien haben, weil sie auf dem gleichen Rechte aller Personen und Gemeinden beruhen, ein möglichst gleiches Maß der politischen Bildung zur Bedingung ihrer Existenz und ihres kräftigen Fortgangs [...]." (S. 52) Grundlage der Demokratie sei der informierte und politisch engagierte Bürger auf der lokalen Ebene. Die Politisierung habe in den Städten zwar auch die unteren Schichten erreicht, jedoch nicht die Landbevölkerung. Gregorovius plädierte deshalb dafür, vermehrt „volksthümliche“ Zeitungen zu gründen, die diesen Menschen die notwendigen Informationen für ein demokratisches Engagement vermitteln sollten. Er selbst leistete jedoch mit seinen Leitartikeln zur Informierung der Landbevölkerung keinen Beitrag.

Das Verdienst der Herausgeber Dominik Fugger und Karsten Lorek liegt darin, einem breiteren wissenschaftlichen Publikum einen bekannten Historiker als politischen Publizisten mit Weitblick wieder zugänglich zu machen. Zwar wurde Gregorovius’ Chiffre - das Zeichen des Wassermanns – schon 1941 durch Hinweise in der Korrespondenz mit einem seiner Freunde aufgedeckt, doch galt die Neue Königsberger Zeitung jahrzehntelang als verschollen. Erst in den 1990er-Jahren konnte ein Exemplar in einem Archiv der polnischen Stadt Olsztyn (Allenstein) wiederentdeckt werden, das dieser Edition zugrunde liegt. Es wurden alle Leitartikel in ungekürzter Form aufgenommen und mit einem – angesichts der voraussetzungsreichen Artikel sehr hilfreichen – äußerst umfangreichen Anmerkungsapparat versehen (S. 293–422), flankiert von einem Personen-, Orts- und Sachregister.

Es ist zu hoffen, dass Ferdinand Gregorovius durch diese Edition einen Platz auf der Galerie der zeitgenössischen Chronisten der europäischen Umbrüche Mitte des 19. Jahrhunderts erhält. Seine Beiträge sind für die Publizistik dieser Umbruchszeit aufschlussreich, auch weil sie nicht mit dem Scheitern der Deutschen Nationalversammlung enden, sondern die nachrevolutionären Entwicklungen aufmerksam beobachten und kommentieren.

Anmerkungen:
1 Für einen ersten Überblick vgl. Dieter Dowe/Heinz-Gerhard Haupt/Dieter Langewiesche (Hrsg.), Europa 1848. Revolution und Reform, Bonn 1998; Dieter Hein, Revolution in Deutschland und Europa. 1848/1849 in Neuerscheinungen des Jubiläumsjahres, in: Neue Politische Literatur 44/2 (1999), S. 276–310.
2 Zu Beginn betrug die Auflage 500 Stück, doch schon im Juli 1849 sank sie auf 300. Die Vossische Zeitung war mit 24.000 Exemplaren die auflagenstärkste deutsche Zeitung 1848, das Königsberger Konkurrenzblatt, die Hartungsche Zeitung, verkaufte über 4.000 Exemplare in der Hochzeit des ersten Revolutionsjahres (vgl. die Einleitung von Dominik Fugger, S. 15f.). S.a. Martin Henkel/Rolf Taubert, Die deutsche Presse 1848–1850. Eine Bibliographie, München 1986.
3 Siehe v.a. Ferdinand Gregorovius, Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter. 8 Bände und Ergänzungsband, Stuttgart 1859–1872. Neuausgabe, 2. Auflage. 4 Bände. München 1988; ders., Wanderjahre in Italien, Leipzig 1870–1877. 5. Auflage, München 1997.