Cover
Titel
Spiritualizing the City. Agency and Resilience of the Urban and Urbanesque Habitat


Herausgeber
Hegner, Victoria; Margry, Peter Jan
Reihe
Routledge Studies in Urbanism and the City
Erschienen
London 2016: Routledge
Anzahl Seiten
232 S., 16 Abb.
Preis
€ 87,49
Rezensiert für den Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie / Kulturanthropologie / Volkskunde" bei H-Soz-Kult von:
Jens Wietschorke, Institut für Europäische Ethnologie, Universität Wien

Der vorliegende, von den Europäischen Ethnolog/innen Victoria Hegner und Peter Jan Margry herausgegebene Sammelband dokumentiert die Ergebnisse einer im April 2014 unter dem Titel „Religion in Urban Spaces“ an der Universität Göttingen abgehaltenen Forschungstagung. Die Themenfelder Religion und Stadt zusammenzubringen liegt im nach wie vor anhaltenden Trend der kultur- wie religionswissenschaftlichen und stadtethnographischen Forschung; damit reiht sich diese Publikation in eine lange Galerie der Neuerscheinungen ein, die allesamt historische wie aktuelle Entwicklungen von Religion in urbanen Räumen untersuchen.1 Dass urban religion so viel wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich zieht, liegt indessen auch daran, dass dieses Feld schon seit längerer Zeit enorm in Bewegung ist: Mit den Kategorien „Stadt“ und „Religion“ wird nämlich ein doppelter Pluralisierungsprozess thematisch – zum einen die Pluralisierung des Städtischen und zum anderen die Pluralisierung und Ausdifferenzierung von Religion und religiösen Praktiken. Theoretische Entwicklungen wie die Material Religion Studies oder die neuere Raumtheorie bieten darüber hinaus vielversprechende Ansätze, um die Materialität von Religion in urbanen Räumen neu in den Blick zu nehmen.

Der Band „Spiritualizing the City“ bewegt sich absolut auf der Höhe all dieser neueren Ansätze und Debatten. Der genannte doppelte Pluralisierungs- und Ausdifferenzierungsprozess dient ihm als Ausgangspunkt, der in der konzisen Einleitung der Herausgeber/innen sehr gut erläutert wird. Mit der flexiblen Kategorie des „urbanesque“ wird die Fixierung der Forschung auf metropolitane Zentren vermieden; Religion wird im Sinne von „Spiritualität“ sehr weit gefasst. Dabei werden hier auch spezifischere Fragestellungen vorgestellt, die einige der Beiträge miteinander verbinden und neue Aspekte in die Debatte um Stadt und Religion einbringen. So positionieren sich Hegner und Margry eher in der Tradition einer anthropology of the city als in der einer anthropology in the city – was bedeutet, dass gerade auch ortsspezifische Bedingungen und Handlungsmuster beleuchtet werden sollen: „In other words, we examine the processes of reciprocal exchange in the practice of religious movements and cityscapes in which they are couched.“ (S. 5) Zusammengehalten wird diese Perspektive unter anderem durch einen konsequenten praxeologischen Ansatz, der Ort, Urbanität und Spiritualität im Sinne eng aufeinander bezogener Aushandlungsprozesse denkt.

Die zehn Aufsätze des Bandes schreiten ein weites thematisches Spektrum ab und beleuchten religiöse und spirituelle Praktiken in ganz unterschiedlichen Varianten und Settings. Zwei Fallstudien bilden den knappen Teil I unter dem Titel „The politics of religious plurality and identity”. Eingangs untersuchen Eva Dick und Alexander Kenneth-Nagel den unterschiedlichen Umgang mit den Anforderungen des interreligiösen Dialogs in den Ruhrgebietsstädten Hamm und Duisburg, wobei sie zeigen können, wie sehr ortsspezifische Logiken, politische Kulturen und Partizipationsmodelle den konkreten Dialog zwischen den Religionen und Konfessionen kontextualisieren und mitbestimmen. Der Beitrag von Tricia S. Bruce zeigt am Fallbeispiel des US-amerikanischen „Rome of the West”, der Stadt St. Louis, kommunale Strategien auf, durch die – trotz zahlreicher Kirchenschließungen – die überkommene katholische Topographie der Stadt zugleich bewahrt und für neue Formen des spirituellen Tourismus geöffnet werden soll. In diesem Prozess wird die Stadt mit ihren suburbanen Arealen neu strukturiert und als religiöser Ort inszeniert. An die Stelle der alten Pfarrsprengel tritt eine flexible, an den Bedürfnissen unterschiedlicher Kirchennutzer/innen orientierte räumliche Ordnung.

Teil II bietet unter der – sehr allgemein formulierten – Überschrift „Producing and negotiating religious space” fünf weitere Beiträge. Gertrud Hüwelmeier forscht seit vielen Jahren intensiv über vietnamesische Religionsgemeinschaften in Berlin und Hanoi, aber auch in Leipzig, Prag oder Warschau. Der Blick auf religiöse Rituale und Inszenierungen ist hier verknüpft mit einer systematischen Perspektive auf Prozesse von Migration und Kulturtransfer. In ihrem Beitrag beleuchtet Hüwelmeier unter anderem zwei multi-ethnische Märkte in den Berliner Bezirken Lichtenberg und Marzahn als Schauplätze unterschiedlicher spiritueller Praktiken. Dabei wird deutlich, wie bruchlos die religiösen Orte – darunter kleine Altäre in Ladengeschäften, aber auch Pagoden und Moscheen – in das räumliche Gefüge der Märkte integriert sind und wie flexibel sie im (Arbeits-)Alltag genutzt werden. Ein durch und durch katholisches Setting untersucht Anna Niedźwiedź: Sie fragt nach Prozessen der Re-Spiritualisierung der Krakauer Stadtlandschaft durch erinnerungskulturelle Bezüge zum Leben von Papst Johannes Paul II. Während die Erinnerung an den polnischen Papst einerseits in ein starkes nationalistisches Narrativ eingebunden ist, artikulieren sich darin aber auch lokalistische Motive und lokale Mythen rund um die reale, gleichsam private Person des Karol Wojtyła.

Katholische und buddhistische Räume in der Metropole Hong Kong thematisiert der Aufsatz von Mariske Westendorp. Ihre ethnographischen Forschungen in der Annunciation Church und einem buddhistischen Zentrum relativieren die Bedeutung der konkreten Settings und Raumästhetiken für religiöse Praktiken. In beiden untersuchten Fällen werden Räume vielmehr als „middle grounds” gesehen, als kontingente Medien, durch die hindurch religiöse Botschaften kommuniziert werden. Um religiöse Architektur geht es auch im Beitrag von Claire Dwyer, deren Forschung in London und Vancouver situiert ist. Dwyer zeigt an neuesten Entwicklungen der internationalen religiösen Architektur, wie sich hier „hybride” Formen etablieren, die neue spirituelle Topographien in den Vorstädten prägen und dort für „transnational connectivity and post-colonial connection” (S. 126) stehen. Synnøve Bendixsen thematisiert in ihrer Ethnographie muslimischer Lebenswelten in Berlin die Sichtbarkeit von Religion in der Stadt und zeichnet nach, wie vor Ort und im Zusammenspiel verschiedenster Orte und Institutionen ausgehandelt wird, was es heißen kann, Muslim/in in Kreuzberg oder Neukölln zu sein. Urbanität bietet dabei keineswegs nur die Chance auf einen liberalen Lebensstil, sondern auch viele Chancen, mehr oder weniger streng religiös zu leben.

Aus drei Beiträgen setzt sich schließlich Teil III unter dem Titel „The agency of body and senses in spiritualized practices“ zusammen. Einen sehr weiten Begriff von Spiritualität bedient Sarah M. Pike mit ihrer Untersuchung temporärer „dance churches” in den USA. Über ekstatischen Tanz werden dabei situative spirituelle Räume in der Stadt geschaffen, die zugleich – so Pike – eine spezifische Distanz zur Stadt halten. Ein nicht weniger spektakuläres Beispiel von Spiritualisierung behandeln Peter Jan Margry und Daniel Wojcik in ihrem Beitrag „A saxophone divine” über die Saint John Coltrane Church in San Francisco. Der legendäre Jazz-Saxophonist Coltrane erfährt in dieser, der African Orthodox Church zugeordneten Kirchengemeinde eine religiöse Überhöhung; dabei wird seine Musik als Folie für spirituell-meditative jam sessions und christliche Gottesdienste genutzt. Margry und Wojcik beleuchten nicht nur den Kult um Coltrane und die soundscapes im Schnittfeld von Jazz und Spiritualität, sondern sie können auch zeigen, wie sich das Profil der Coltrane-Gemeinde im Zuge von lokalen Gentrifizierungsprozessen in der Western Addition von San Francisco verändert hat. Raphaela von Weichs schließt den Sammelband mit ihrer vergleichenden Studie zu afrikanischer religiöser Chormusik in Kamerun und der Schweiz ab. Ihre transnational orientierte Untersuchung von Praktiken des Singens, Tanzens und Betens öffnet den Blick für komplexe Prozesse religiöser und urbaner Transformation zugleich.

Insgesamt bietet der Band „Spiritualizing the City“ eine sehr überzeugende Kompilation instruktiver Fallstudien zum Thema an. Durch die in der Einleitung der Herausgeber/innen gesetzten Akzente kann er dem Konnex von Stadt und Religion durchaus neue Facetten abgewinnen und bietet auch gute Anregungen zur Weiterentwicklung einschlägiger theoretischer Konzepte. Gerade das weit gefasste Verständnis von Religiosität und Spiritualität einerseits und von Stadt und Urbanität andererseits, das hier in empirische Forschungsdesigns umgesetzt worden ist, fordert bisherige, eher eng geschnittene Forschungskategorien produktiv heraus.

Anmerkung:
1 Über die bekannten älteren Arbeiten u.a. von Robert A. Orsi und Lowell W. Livezey hinaus vgl. als kleine Auswahl: Bettina Hitzer / Joachim Schlör (Hrsg.), Gods in the City. Religious Topographies in the Age of Urbanization. Special Issue, Journal of Urban History 37,6 (2011); Herbert Glasauer u.a. (Hrsg.), JahrbuchStadtRegion 2011/12: Stadt und Religion, Opladen 2012; Near AlSayyad / Mejgan Massoumi (Hrsg.), The Fundamentalist City? Religiosity and the Remaking of the Urban Space, London 2010; Jane Garrett / Alana Harris (Hrsg.), Rescripting Religion in the City. Migration and Religious Identity in the Modern Metropolis, Farnham 2013; Irene Becci / Marian Burchardt / José Casanova (Hrsg.), Topographies of Faith: Religion in Urban Spaces, Leiden 2013; Jochen Becker u.a. (Hrsg.), Global Prayers. Manifestations of the Religious in the City, Berlin 2013; Paul D. Numrich / Elfriede Wedam, Religion & Community in the New Urban America, Oxford 2015.

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Diese Rezension entstand in Kooperation mit dem Rezensionsdienst "Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie/Volkskunde" http://www.euroethno.hu-berlin.de/forschung/publikationen/rezensionen/