J. Thissen u. a. (Hrsg.): Cinema Beyond the City

Cover
Titel
Cinema Beyond the City. Small-Town and Rural Film Culture in Europe


Herausgeber
Thissen, Judith; Zimmermann, Clemens
Reihe
Cultural Histories of Cinema
Erschienen
Basingstoke 2017: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 71,20
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Carsten Heinze, Fakultät Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hamburg

Der vorliegende Sammelband beschäftigt sich im Rahmen einer interdisziplinären Buchreihe des British Film Institute (BFI), die sich der Erforschung des komplexen Verhältnisses von Kino und Kultur widmet, mit der Kino- und Filmkultur in ländlichen Regionen und ausgesuchten Orten Europas von den 1910er-Jahren bis zur Gegenwart. Die Herausgeber/innen erheben den Anspruch, zum ersten Mal die kulturellen Eigendynamiken und Diversifizierungen des Kinos und seiner potentiellen Erfahrbarkeit in Kleinstädten und auf dem Lande zu untersuchen. Damit wird die bisherige Schwerpunktsetzung auf die Großstädte als primärer Ort der Kinoerfahrung, die seit Emilie Altenlohs früher empirischer Studie zum Mannheimer Kinopublikum1 stillschweigend weiter verfolgt worden ist, in Frage gestellt. Mit dieser Perspektivverschiebung wird das vernachlässigte Verhältnis zwischen Stadt und Land in Bezug auf das Kinoerleben und die sich daraus ergebenden soziokulturellen Auswirkungen für den regionalen Raum akzentuiert.

Dieser Ansatz folgt einer Entwicklung in der gegenwärtigen historischen Kino- und Filmforschung, die nicht mehr den Film (als gestaltetes Kunstwerk) und das unmittelbare Filmerlebnis des Publikums im Kinosaal in den Vordergrund rückt, sondern im Zeichen der „New Cinema History“ soziale, kulturelle, technische, ökonomische und politische Bedingungen sowie die komplexen Wechselwirkungen und historischen Veränderungen des Kinobesuchs auf dem Lande in den Blick nimmt. Damit werden die umfassende kulturelle und soziale Rolle des Kinos und seine Bedeutung für den ländlichen Raum jenseits des eigentlichen Films und seiner Inhalte hervorgehoben. Zugleich werden die unterschiedlichen Verwendungszusammenhänge, in denen Filme gezeigt und außerhalb bloßer Unterhaltung eingesetzt wurden, historisch anschaulich dargestellt.

Die einzelnen Artikel arbeiten explorativ an empirischen Beispielen die Potentiale, Herausforderungen und Schwierigkeiten der historischen Kinoforschung heraus. Im Rahmen des Bandes werden dem Ansatz der „New Cinema History“ folgend die weitergefassten Kontexte der regionalen Filmerfahrung als soziokultureller Erfahrungsraum betont und aufgezeigt, inwiefern sich das Kino als ein lokales Ereignis in kleinstädtische sowie ländliche Strukturen einfügte und dort aufgenommen oder bekämpft wurde.

Die internationalen Beiträge heben die Bedeutung des Zusammenspiels unterschiedlicher Interessengruppen, Institutionen und räumlicher Gegebenheiten für das Kino auf dem Lande hervor. Ein wichtiger, damit einhergehender Aspekt, der in allen Beiträgen angesprochen wird, ist die Frage nach dem konkreten Ort des Filmerlebens. Im Gegensatz zur Großstadt, die das Kino stärker als eigene Institution kannte, war dieser in ländlichen Gegenden häufig von mobilen Kinos, Lokalen oder durch Aufführungen in Multifunktionshallen, die auch für andere Veranstaltungen genutzt wurden, geprägt. Gleichzeitig verdeutlichen die Artikel die große Resonanz, die Kinovorführungen kommerzieller und nicht-kommerzieller Art auf dem Lande hatten, ebenso wie den beinahe in allen Ländern zu beobachtenden allgemeinen Niedergang des (mobilen) Kinos seit den 1980er-Jahren, der jedoch, wie die verschiedenen Beispiele verdeutlichen, regionale Besonderheiten aufweist.

Ein ebenso zentral behandelter Aspekt dieses Bandes ist die Frage nach dem Einfluss traditioneller gemeinschaftlicher Institutionen wie der Kirche, der verschiedenen Bildungseinrichtungen oder der lokalen Politik auf die Verbreitung des ländlichen Kinos und der Filmauswahl seiner Anbieter. Je nach Verwendungskontext wurden Filme auch für emanzipatorische, ideologische und erzieherische Ziele eingesetzt. Damit zeigen die Beiträge, dass die Entgrenzungen des Kinos, von denen heute im Zeichen der Digitalisierung gesprochen wird, früh einsetzte und der Film, seine Wahrnehmungsweisen und Vermittlungsformen sich schon früh ausdifferenzierten. In diesem Zusammenhang kann ebenso anschaulich gemacht werden, dass die Kultur des Kinos ein Feld der sozialen Auseinandersetzung darstellte. Nicht zuletzt werden in den Artikeln immer wieder Methodenfragen aufgeworfen, die sowohl quantitative als auch qualitative Vorgehensweisen oder aber eine Kombination beider betreffen, und die mitunter schwierige Quellenlage wird als Problem des Zugangs diskutiert.

Der Band ist in vier Teile untergliedert: In Teil eins („Local dynamics“) werden die geografischen, demografischen, religiösen und andere Bedingungen aufgezeigt, mit denen Kinobetreiber historisch an einzelnen Orten Europas konfrontiert waren. Es werden die lokalen Besonderheiten des Kinos am Beispiel ausgewählter Orte in Schottland (John Caughie), Deutschland (Dörthe Gruttmann) und England (Tim Snelson) beschrieben und analysiert. Alle drei Artikel sehen in den lokalen Gegebenheiten einen erheblichen, jeweils unter spezifischen Umständen zu betrachtenden Einflussfaktor auf die Einbettung und Entfaltung des frühen Kinos (auch in Konkurrenz mit anderen Unterhaltungsformen) in den kleinstädtischen und dörflichen Alltagskulturen.

Teil zwei („Regional patterns“) widmet sich den jeweiligen regionalen Strukturen des Kinos und deren (durch das Kino angestoßenen) Transformationen, wodurch sich Perspektiven zur Untersuchung und Einordnung längerfristiger (nationaler) Trends im Vergleich eröffnen. Hier werden geografisch großflächiger die Entwicklungen in ländlichen Regionen Schwedens (Åsa Jernudd und Mats Lundmark), der Niederlande (Judith Thissen), Frankreichs (Corinne Marache) und Großbritanniens (Matthew Jones) in den Blick genommen und von der vorangegangenen mikrohistorischen Betrachtungsperspektive gelöst.

Der dritte Abschnitt („Alternative exhibition practices“) legt den Schwerpunkt auf die vielfältigen lokalen Aufführungspraktiken und -orte des (mobilen) Kinos in ländlichen Gebieten, die sich deutlich von den großstädtischen festen Kinopalästen unterschieden, wie sie für Berlin in den 1920er-Jahren von Siegfried Kracauer in seinem Artikel „Kult der Zerstreuung“ beschrieben wurden.2 Zugleich zeigt sich, dass damit auch die Filmprogramme in vielerlei Hinsicht und aus verschiedenen Gründen vom kommerzialisierten Angebot der Großstädte abwichen und Raum für alternative Filmprogramme boten. Hier zeigt sich die historische Vielfalt alternativer Filmaufführungspraktiken, der sich ein ländliches oder kleinstädtisches Publikum in der Schweiz (Yvonne Zimmermann), in den Niederlanden (Thunnis van Oort), in Frankreich (Mélisande Leventopoulos) und in Deutschland (Gunter Mahlerwein) gegenüber sah. Dieser Teil verdeutlicht, wie sich aus den verschiedenen Aufführungspraktiken alternative Filmangebote ergaben und zu welchen (kommerziellen wie nicht-kommerziellen) Zwecken sie eingesetzt werden konnten.

Teil vier („Contemporary trends in historical perspective“) schließlich kontrastiert die Gegenwart des Kinos in ländlichen Regionen mit der Vergangenheit des Kinos in ländlichen Regionen und eröffnet somit vergleichende historische Perspektiven auf kulturelle Veränderungsdynamiken. Dieser letzte Teil bietet einen längerfristigen Ausblick auf gegenwärtige Entwicklungen und Prozesse in Europa aus einer historisch-kontrastiven Perspektive. Damit schließt er die vorangegangenen drei Kapitel ab und diskutiert Kontinuitäten und Diskontinuitäten im diachronen Vergleich. Untersucht werden Regionen in England (jeweils ein Beitrag von Karina Aveyard und Stuart Hanson), Frankreich (Kristian Feigelson) und Belgien (Daniel Biltereyst und Lies Van de Vijver).

Angesichts der jüngsten, für den ländlichen Raum eher schwierigen Entwicklungen und Veränderungen kommen die Herausgeber/innen zu dem Schluss, dass Kino gegenwärtig (wieder) verstärkt zu einem städtischen Phänomen zu werden scheint. Trotz aktueller und durchaus erfolgreicher regionaler Initiativen bleibt das großstädtische Kino dominant. Dennoch ziehen sie angesichts der skizzierten historischen Entwicklungen den Schluss, dass die europäische Kinogeschichtsschreibung keineswegs auf die Großstadt beschränkt bleiben dürfe, da sich schon in der Frühphase des Kinos seine regionale und lokale Ausbreitung zeigen lasse. Nur mit Blick sowohl auf die Stadt als auch auf das Land könne die Entwicklung des Kinos verstanden werden.

Dementsprechend gelte es, so das Resümee, die Aufmerksamkeit der historische Kinoforschung weiter auf das Wechselverhältnis von städtischen und ländlichen Kinos zu richten und verstärkt die soziokulturellen Impulse und Verbindungen aufzuzeigen, die sich aus diesem Verhältnis ergeben. Vor allem müsse stärker auf die lokale Einbettung des Kinos und die Filmerfahrung vor Ort in ihrer Bedeutung für das kleinstädtische und ländliche Publikum eingegangen werden, um die soziokulturellen Praktiken der Kino- und Filmaneignung in ihrer Vielfalt besser verstehen zu lernen. Dafür sollten nicht nur vorhandene Dokumente, sondern auch die Potentiale der Oral History genutzt werden, um stärker die subjektiven Erlebnisweisen rekonstruieren zu können.

Insgesamt liefert der Sammelband gerade in seiner europäischen Vergleichsperspektive tiefgreifende Einsichten in ein bisher offenbar kaum wahrgenommenes Phänomen. Zugleich relativieren die historischen Beiträge die Dominanz des städtischen Kinos und setzen dieser einen differenzierten Blick auf die unterschiedlichen Formen und Ausprägungen des Kinos entgegen. Einige Beiträge heben deutlich die Modernisierungseffekte hervor, die das Kino im ländlichen Raum auslöste. Gerade in diesem lokalen Nahbereich wirkt es gewinnbringend, das Kino nicht nur als populäre Unterhaltungsform zu verstehen, sondern daneben seine religiösen und politischen Vereinnahmungen, aber auch emanzipatorischen Funktionen zu begreifen. Während der Großstadtmensch, wie man aus Georg Simmels „Die Großstädte und das Geistesleben“3 weiß, täglich einer abwechslungsreichen Vielzahl von äußeren Sinnesreizen ausgesetzt ist, die den menschlichen Wahrnehmungsapparat zu überfordern drohen, gilt diese Wahrnehmungsüberforderung für kleinstädtische und ländliche Bewohner/innen in der Vergangenheit wahrscheinlich nicht. Umso interessanter ist es deshalb, historisch der Frage nach der soziokulturellen Bedeutung und Einbettung des Kinos und seiner Kulturen auf dem Lande und deren subjektiven Aneignungsformen nachzugehen.

Ebenso interessant sind die methodischen Reflexionen, die eine solche Forschungsperspektive notwendigerweise anleiten, zugleich aber auch begrenzen. Nicht nur bedienen sich die einzelnen Forscher/innen unterschiedlicher historischer Dokumente wie Zeitungen, Filmzeitschriften, Programme usw., sondern sie nutzen auch die subjektive Erfahrungsrekonstruktion der Oral History, um die lebensgeschichtliche Dimension und die sozialen Praktiken des Kinobesuchs untersuchen zu können. Aus den Dokumenten werden auch Rückschlüsse auf beliebte Filmgenres und aufgeführte Filme gezogen.

Ausgespart bleibt in diesem Ansatz, bis auf wenige Ausnahmen, die sich den gezeigten Filmen zumindest oberflächlich widmen, der Inhalt der Werke. Schwer greifbar sind zudem die örtlichen Anschlusskommunikationen, die sich aus Filmvorführungen ergeben haben – dass es diese in Form von organisierten Filmgesprächen gegeben hat, wird hinreichend angedeutet. Das, was gezeigt wurde, wird lediglich über Genrezuweisungen oder über moralische Einteilungen (politisch oder religiös motiviert) am Rande thematisiert. Auch wenn es in der vorgestellten Forschungsperspektive sicherlich nicht um Filminhaltsanalysen oder ähnliches gehen kann, wäre es doch interessant zu wissen, welche Filme gezeigt wurden und wie einzelne Filme vom Publikum aufgenommen und besprochen wurden. Wenn das Kino, wie in einigen Beiträgen angedeutet, tatsächlich für das ländliche Publikum „ein Fenster zur Welt“ darstellte und die Region mit der Stadt verband, würde man gern wissen, wie dieses Fenster beschaffen war und welchen Blick es gewährte.

Anmerkungen:
1 Emilie Altenloh (neu hrsg. von Andrea Haller / Martin Loiperdinger / Heide Schlüpmann), Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Frankfurt am Main 2012.
2 Siegfried Kracauer, Kult der Zerstreuung, in: ders., Das Ornament der Masse, Frankfurt am Main 1977, S. 311–317.
3 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt am Main 2006.