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Titel
Elisabeth Busse-Wilson (1890-1974). Eine Werk- und Netzwerkanalyse


Autor(en)
Großmann, Britt
Reihe
Dresdner Studien zur Erziehungswissenschaft und Sozialforschung
Erschienen
Weinheim 2017: Beltz Juventa
Anzahl Seiten
482 S.
Preis
€ 68,00
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Maria Daldrup, Historisches Institut, Justus-Liebig-Universität Gießen

Elisabeth Busse-Wilson (1890–1974) gehört zu den wenigen Zeitgenossinnen, die die Jugendbewegung bereits frühzeitig kritisch in den Blick nahmen. Insbesondere dem Verhältnis der Geschlechter galt ihr Hauptaugenmerk, nicht nur im eng gesteckten Rahmen der Jugendbewegung, sondern auch als Frage der Vergesellschaftung der Frau im Allgemeinen.1 So einflussreich Busse-Wilson im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts auch gewirkt haben mag, so wenig lässt sich ihre Karriere als stringent-erfolgreich beschreiben – gerade ab 1933 wird es still um sie. So sind es die Brüche und Ambivalenzen im Lebensverlauf von Busse-Wilson, denen sich Britt Großmann in ihrer Dissertation annähert. Neben Einleitung und Zusammenfassung bilden acht chronologisch angeordnete Lebensphasen die Binnenstruktur der Biographie. Großmanns Forschungsziel ist es, einer „Diskursgeschichte der Sozialpädagogik“ (S. 19) zuzuarbeiten, insbesondere einer Einordnung in eine Tradition „arbeitsgesellschaftlich reflexive[r] Pädagogik“.2

Eingangs verweist Großmann auf den engen Zusammenhang zwischen Busse-Wilsons eigener Sozialisation und ihrer theoretischen Positionierung, mithilfe derer sie innerhalb des 20. Jahrhunderts in verschiedenen gesellschaftlichen Systemen jene Geschlechterbeziehungen reflektierte und deutete, in denen sie selbst lebte. Als junge Frau war Busse-Wilson in der privilegierten Position, Kunstgeschichte, Kulturgeschichte und Ethnologie zu studieren. Busse-Wilson bewegte sich als Grenzgängerin zwischen dem männlich konnotierten, streng standardisierten akademischen Milieu und ihrer außerhalb der Universität angesiedelten Arbeit in der Erwachsenenbildung. Auch inhaltlich verband sie verschiedenste Perspektiven, etwa historische, soziologische, individualpsychologische.

„Die glückselige Zeit“ (1890–1914), das biographische Einstiegskapitel, markiert die soziale Herkunft Busse-Wilsons „keineswegs aus einem kleinbürgerlichen Milieu“: Ihr Vater war Landgerichtsrat, die Mutter galt als (nicht praktizierende) Lehrerin „in ihrer Generation als 'gelehrt'“ (S. 33). Bildung nahm so bereits frühzeitig einen zentralen Stellenwert in Busse-Wilsons Leben ein. Der Jenaer Sera-Kreis bot ihr, die in der studentisch-männlich geprägten Welt kaum Anschluss fand, ab 1910 eine Identifikationsfläche und Einblicke in jugendbewegte Praktiken. Tanzen und Singen, Wandern und Sonnwendfeiern gehörten zum ritualisierten Kanon des elitären Kreises um den Verleger Eugen Diederichs, der sich gegen „Rationalismus, Intellektualismus, Historismus und Materialismus“ wendete (S. 45). Eine „schöpferische Bohème“, so Busse-Wilson (S. 48). Diese prägende Zeit blieb jedoch nur eine Episode, bald schon wechselte sie u.a. an die Universität Leipzig, wo sie ihr Studium mit einer Dissertation zum „Ursprung der Zierkunst“ bei August Schmarsow beendete.

Die Jahre 1915 bis 1920 bezeichnete Busse-Wilson als ihre „politischen Jahre“. Sie fand den Weg aus der akademischen Welt, deren „Mauern der Gelehrsamkeit“ ihr verschlossen blieben, hinaus in das, so Großmann, „innovative intellektuelle Leben außerhalb der Universitäten“ (S. 65). Durch ihre Heirat mit Kurt H. Busse 1915 konnte sie – materiell abgesichert – ihre eigenen Interessen verfolgen. Sie belegte Vorlesungen, publizierte in der Zeitschrift „Die Tat“ und vertiefte ihre Kontakte zur Freideutschen Jugend. Hier fand sie als Beobachterin, Chronistin und Rednerin der Jugendbewegung ihren gesonderten Platz und äußerte zugleich Kritik an der zu geringen Berufung der Jugendbewegung auf Selbsterziehung. In ihren Schriften lotete sie insbesondere das Verhältnis von Pädagogik, Gemeinschaft und Gesellschaft sowie die Stellung der Frau hierin aus. 1920 erschien ihr bekanntestes Werk: „Die Frau und die Jugendbewegung“. Busse-Wilson kritisierte scharf das Abhängigkeitsverhältnis der Frau zum Mann, das sich wirtschaftlich, aber auch moralisch manifestiere und zu einer psychosozialen Einschränkung weiblicher Sozialisation führe (S. 135).

Im dritten Kapitel („Incipt vita nuova“, 1921–1926) fokussiert sich die Autorin Busse-Wilsons auf den beruflichen Einstieg in die Erwachsenenbildung. In dieser Phase engagierte sie sich etwa in der Hannoverschen Ortsgruppe der Kant-Gesellschaft unter Adolf Grimme. Intensiv widmete sie sich weiterhin Fragen zur Jugendbewegung, indem sie etwa ihren Zusammenhang mit kommunistischen Ideen publizistisch erörterte. Sie nahm zeitgenössische religiöse Entwicklungen in den Blick, äußerte einerseits Kritik am Protestantismus und andererseits Sympathie für die katholische Jugendgruppe Quickborn. Insgesamt durchscheint ihre Analysen eine grundlegende Kritik des Kapitalismus, der zu einer zunehmenden Entindividualisierung und dem Verlust von „Familienkultur“ geführt habe (S. 242).

In ihren „besten Jahre[n]“ (1926–1931) waren es Fragen von Sexualität und Gemeinschaft, mit denen sich Busse-Wilson differenziert auseinandersetzte. Sie akzeptierte zwar die asymmetrischen Verhältnisse der Geschlechterordnung, empfahl jedoch auch geschlechtsheterogene Gruppen jenseits von Ehe und Familie und übte massiv Kritik an der bürgerlichen Frauenbewegung, da diese kein Mehr an sozialen Optionen für Frauen bewirke. In diesen Zeitraum fallen weitere Zugänge zur Forscherlandschaft, so etwa zum Forscherheim Assenheim, einer von Max Graf zu Solms und Ferdinand Tönnies gegründeten intellektuellen Begegnungsstätte. 1929 wurde ihr Sohn Konrad geboren. Mutterschaft bedeutete für Busse-Wilson zunächst den Verzicht ihrer eigenen individuellen Entfaltung im geistigen Bereich. Doch schon bald publizierte sie wieder, etwa im Jahre 1931 eine kontrovers diskutierte biographische Studie über „Das Leben der Heiligen Elisabeth von Thüringen“. Darin dekonstruierte sie aus psychologisch-geschlechterkritischer Perspektive die traditionelle Erzählung der Heiligen Elisabeth als Symbol sozial-karitativer Fürsorge – im Sinne einer „geistigen Mütterlichkeit“ – zu einem neurotischen Versuch der Selbsterhaltung.

„Die lastenden Jahre“ (1932–1945) läuteten eine berufliche Krise der seit 1931 wieder mit ihrer Familie in Berlin lebenden Busse-Wilsons ein. Die materielle Situation war prekär, die Zukunft unsicher, die Lage emotional bedrückend. Politisch wirkt Busse-Wilsons Positionierung ambivalent: In den 1920er-Jahren stand sie im Gegensatz zu ihrem in sozialistischen Kreisen engagierten Ehemann einem völkischen Denken nahe. In der nationalsozialistischen Machtübernahme diagnostizierte sie hingegen einen Höhepunkt des „geistigen Niedergang(s) der Gesellschaft“ (S. 340), nicht zuletzt aufgrund des propagierten Frauenbildes sowie des rassenhygienischen Paradigmas. Zugleich ist in ihrem Tagebuch 1935 vermerkt: „Ich bin Anti-Semit geworden“ (S. 348). Psychologische Fragen interessierten sie nunmehr verstärkt: Sie begann eine Ausbildung zum „Behandelnden Psychologen“ am Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie, dem sogenannten Göring-Institut, beendete diese aber nicht. 1940 wurde Busse-Wilson aufgrund fehlender Einkünfte aus publizistischer Tätigkeit aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, obwohl sie keineswegs untätig war. So beschäftigte sie sich in den 1930er-Jahren mit Annette von Droste-Hülshoff. Als 1938 ihre seit einigen Jahren kriselnde Ehe geschieden wurde, wurde die eigene Berufstätigkeit zwingend. Hin und wieder arbeitete sie in verschiedenen Bibliotheken sowie als Lehrkraft, blieb aber weitgehend erfolglos bei der Suche nach einem dauerhaften Auskommen.

„Die glücklosen Jahre“ (1945–1974) begannen mit optimistischen Zukunftsvorstellungen. Busse-Wilson reaktivierte alte Kontakte und stellte 1948 die Hülshoff-Biographie fertig. Doch trotz vormals bekundetem Interesse etwa des Eugen Diederich Verlags gestaltete sich die Publikationspraxis als äußerst schwierig. Allenfalls zwei frühe Texte wurden in Werner Kindts einseitig-apologetischem Werk zur Geschichte der Jugendbewegung nachgedruckt.3 Ihre angedachte Mitarbeit mit einem weiteren Aufsatz zur Schule Schwarzerden endete in einem inhaltlichen Konflikt zwischen ihr, den Gründerinnen der Schule und Kindt. Seit den 1950er-Jahren war Busse-Wilsons Auskommen über ihren Sohn gesichert. Ihre letzten Monate verbrachte sie in einem Altenheim im Taunus. Großmann schließt ihre Arbeit mit einer Zusammenfassung der zentralen Thesen von Busse-Wilsons wissenschaftlichem Werk.

Insgesamt leistet Großmann mit ihrer Studie einen wichtigen Beitrag zu einer sozialpädagogischen Diskursgeschichte, nicht zuletzt über eine wohlüberlegte Einbettung in zeitgenössische, kulturkritische Diskurse und gesellschaftliche Modernisierungsprozesse mit einem Schwerpunkt auf den 1920er- und 1930er-Jahren. Auf Basis eines umfangreichen Quellenkorpus, der von Busse-Wilsons Publikationen über Korrespondenzen bis zu Fotografien reicht, zeichnet Großmann ein vielschichtiges Bild von Busse-Wilsons intellektuellem Wirken, das als methodischer und inhaltlicher Ausgangspunkt für weitere Forschungen insbesondere zu Lebensverläufen weiblicher Jugendbewegter dienen kann. Busse-Wilson zeigt sich als elitär-akademische, gesellschaftliche Gestalterin, der zunehmend Boden und Öffentlichkeiten für ihr Ansinnen entzogen wurden – sie sich womöglich auch nach einer Ordnung der bürgerlichen Gesellschaft sehnte, die es als solche nicht bzw. nicht mehr gab. Allerdings verbleibt Großmanns Analyse zu sehr einer ideengeschichtlichen Aufarbeitung verhaftet. Die biographische Rekonstruktion von (Dis-)Kontintuitäten in Busse-Wilsons Lebenslauf und ihres Selbstkonzeptes bleiben bisweilen schemenhaft, ihre persönlichen und emotionalen Beweggründe fallen in Relation zur ausführlichen Werkschau zu dünn aus. Eine stärkere Verbindung des Werkes mit der Ausformung des Lebensverlaufes, den Erfolgs- und Krisenphasen sowie eine systematischere Einbettung in das soziale Netzwerk hätte helfen können, die ambivalente Figur Busse-Wilson noch deutlicher zu konturieren. Großmanns Resümee, dass Busse-Wilson „eine eigenständige und individuelle Lebensperspektive“ entwickelt habe, „die ihrem Leben einen Sinn und eine Rechtfertigung gab und diese dauerhaft gegen äußere und innere Widerstände“ (S. 444) verfolgte, ist so zwar plausibel, hätte aber noch weiterer Spezifizierungen bedurft.

Anmerkungen:
1 Elisabeth Busse-Wilson, Die Frau und die Jugendbewegung. Ein Beitrag zur Charakterologie und zur Kritik des Antifeminismus, Hamburg 1920; dies., Liebe und Kameradschaft, in: Adolf Grabowsky / Walther Koch (Hrsg.), Die freideutsche Jugendbewegung. Ursprung und Zukunft, Gotha 1920, S. 50–58.
2 zit. nach Lothar Böhnisch / Wolfgang Schröer, Pädagogik und Arbeitsgesellschaft. Historische Grundlagen und theoretische Ansätze für eine sozialpolitisch reflexive Pädagogik, Weinheim u.a. 2001, S. 15f.
3 Es handelt sich hierbei um die Aufsätze: „Freideutsche Jugend 1920“ sowie „Liebe und Kameradschaft“, in: Werner Kindt (Hrsg.), Grundschriften der deutschen Jugendbewegung. Dokumentation der Jugendbewegung Bd. 1, Düsseldorf u.a. 1963.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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