Cover
Titel
Ivan Illich. Denker und Rebell


Autor(en)
Paquot, Thierry
Erschienen
München 2017: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
185 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Jürgen Oelkers, Institut für Erziehungswissenschaft, Universität Zürich

Die französische Ausgabe dieses kleinen Büchleins sagt genauer, um was es sich handelt. Der Titel lautet: „Introduction à Ivan Illich“.1 Tatsächlich hält man eine Einführung in Leben und Werk von Ivan Illich, der vor allem in Deutschland eine starke Beachtung gefunden hat, in den Händen. Im französischen Original geht es eher darum, Illich in Frankreich überhaupt bekannt zu machen und als bedeutenden Intellektuellen darzustellen.

Der katholische Priester Ivan Illich (1926–2002) wurde bekannt als radikaler Kritiker von sozialen Institutionen wie Schulen, Kirchen oder Krankenhäusern, denen er vorwarf, das Gegenteil von dem zu bewirken, was sie bewirken sollen oder wollen. In einem späteren Teil seines Werkes geht es um Fragen des Zusammenlebens jenseits von Wachstum und Konsum. Illich gilt als einer der Begründer des „Konvivalismus“.

Wer das Buch von Paquot liest, findet tatsächlich eine knappe und konzise Einführung in das Werk vor. Zu Beginn stehen längere biografische Notizen, denen Darstellungen von Illichs bekannten Pamphleten gegen die „kontraproduktiven Institutionen“ der modernen Gesellschaft folgen. Im zweiten Teil des Buches werden dann Vorschläge diskutiert, wie man den institutionellen Fallen der Moderne entkommen kann, also wie Autonomie, Zusammenleben und Gemeinwohl neu zu begründen sind.

Wer eine kritische Auseinandersetzung mit Illich erwartet, wird von dem Buch enttäuscht sein. Der Verfasser, Thierry Paquot, lehrt als Philosoph am Institut für Urbanismus an der Université Paris 12. Sein Hauptanliegen ist es, die Ideen von Illich als originell auszuweisen und insbesondere an französische radikale Gesellschaftstheoretiker anschlussfähig zu machen. Dabei ist die grundlegende Sympathie für die Anliegen von Illich maßgebend.

Im Nachwort der beiden Übersetzerinnen steht, dass die Einführung neugierig mache, „Illich selbst zu lesen“ (S. 181). Man erfährt aber nicht, weshalb man das tun sollte. Auf eine philosophische oder politische Einordnung wird von Paquot verzichtet, was insofern nachvollziehbar ist, als Illich sich zu den verschiedensten Themen geäußert hat und sich eigentlich nur in der Radikalität gleichgeblieben ist.

Interessant an dem biografischen Teil der Einführung sind Hinweise auf geschichtsphilosophische Einflussgrößen, die das Denken von Illich bestimmt haben, nämlich Arnold Toynbee und Oswald Spengler, Autoren, die die heutige Geschichtswissenschaft weitgehend verbannt hat. Auch die beiden anderen Einflüsse sind interessant, nämlich der katholische Bildungsphilosoph Jacques Maritain und der Psychoanalytiker Erich Fromm. Beide werden „Lehrmeister im Denken“ genannt (S. 27). Man fragt sich, wie daraus eine radikale Institutionenkritik entstehen konnte.

Wer das Buch als Pädagoge liest, denkt unmittelbar an Illichs Streitschrift „Deschooling Society“, die 1970 im englischen Original erschienen ist und international für das meiste Aufsehen gesorgt hat. Man erfährt, wer die These der „Entschulung“ beeinflusst hat, nämlich vor allem der amerikanische Lehrer und Entwicklungshelfer Everett Reimer sowie Paul Goodman.

Der Lehrer, Philosoph und Gestaltpsychologe Goodman ist für die Basisidee verantwortlich, die er in seinen frühen Romanen entwickelt hat. Goodman, so erfährt man, hat Illich das Buch „Education and Jobs: The Great Training Robbery“ des Soziologen Ivar Berg geschenkt, in dem bestritten wird, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen dem, was man in der Schule lernt, und dem, was man in Berufen braucht. Das Buch erschien 1970, also zur Zeit der Abfassung von „Deschooling Society“, und schien eine Bestätigung der Grundthese zu sein.

Zur gleichen Zeit wurden die Vorläufer des PISA-Tests entwickelt, der bekanntlich vom Gegenteil, nämlich dem hohen Wert der schulischen Allgemeinbildung ausgeht.

Radikale Schulkritik müsste sich an Datensätzen bewähren, aber das ist bislang noch kaum versucht worden. Anhänger zu werden, ist immer noch viel zu leicht.

Bekannt wurde Ivan Illich in Deutschland durch Hartmut von Hentig, der auch versucht hat, Paul Goodman in deutschen Zeitschriften zu platzieren. Aber nur der polyglotte Illich fand in Deutschland tatsächlich Anhängerschaft und ist an der Universität Bremen nahezu sesshaft geworden. Der Ort der Begegnung der deutschen Pädagogik mit Illich hieß Cuernavaca und liegt in Mexiko. Dort haben Hartmut von Hentig und Gerold Becker an Seminaren teilgenommen und die radikale Entschulungsdiskussion aus erster Hand kennengelernt. Im Buch steht allerdings, dass der Mitbegründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Hellmut Becker Hentig nach Mexiko begleitet hat, was den Übersetzern eigentlich hätte auffallen müssen (S. 38).

Bei Hentig wurde aus der Entschulung der Gesellschaft bekanntlich die paradoxe Entschulung der Schule, womit die Radikalität des Entwurfs unterlaufen wurde. Illich hat gewusst, dass daraus nur die Bestätigung der Schule erwachsen könne, erprobt in zwei langjährigen Schulversuchen an der Universität Bielefeld und aufwändig finanziert von zunächst der Volkswagenstiftung und später dem Bundesland Nordrhein-Westfalen. Mit beiden Versuche (Laborschule, Oberstufen-Kolleg) sollte die Organisation der Schule verändert werden, damit auch Einstellungen und Überzeugungen, aber weder verschwand die Schule aus der Gesellschaft noch war eine Metamorphose der Schule in etwas anderes feststellbar.

Was bleibt nun von der radikalen Institutionenkritik? Letztlich argumentiert Illich immer vor dem Hintergrund einer radikal gewendeten christlichen Theologie. Er habe in seinen Lehrveranstaltungen stets versucht, seinen Studierenden verständlich zu machen, „dass die meisten Schlüsselideen, die aus der gegenwärtigen Welt diese einzigartige Wirklichkeit machen, christlichen Ursprungs sind“ (S. 134). Das erlaubt Ideologiekritik an den kirchlichen Theologien und ihren säkularen Substituten, aber lässt entscheidende Fragen offen. Die radikale Ablehnung von Institutionen fragt nicht nach den Gründen, weshalb sie entstanden sind, und macht ihre Dysfunktionalität vor allem an der Verbreitung und den großen Mitgliedszahlen fest.

Aber die weltweite Verschulung wäre dann ein grandioser Irrtum, was vermutlich viele Kinder in Afrika oder in Asien sehr viel anders sehen würden, nämlich dort wo der Schulbesuch ein Privileg darstellt und der staatliche Sektor zu schwach ist, um für ein gehaltvolles Angebot zu sorgen.

Auch die tabula rasa-Phantasie ist nicht neu und erhält mit der Digitalisierung neuen Auftrieb. Aber die christliche Erlösung ist eben auf den Glauben beschränkt und kann, weltlich gewendet, nur die Phantasie anregen, aber nichts wirklich zum Verschwinden bringen. Außerdem kann nicht erklärt werden, wieso die großen Institutionen trotz der radikalen Kritik weiter wachsen. Gegenbewegungen gibt es inzwischen, aber sie müssen sich auf die Institutionen einlassen und nach besseren Lösungen suchen. Die institutionelle Verfasstheit der Gesellschaft wird dadurch nicht grundsätzlich anders.

Als Illich im März 1980 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft in Göttingen sprach, hätte man, statt empört zu sein (oder begeistert), die Konsequenzen aufzählen und die Alternativen benennen sollen. Schon bei der Lektüre der Originale war eine zentrale Frage, was daraus folgen soll und kann. Man muss sich also fragen, was Illichs Kritik gerade für Pädagogen (oder Theologen) so attraktiv gemacht hat.

Freundschaft mag ein soziales Gegenmodell sein (S. 146), aber schon die Frage, wie das soziale Zusammenleben gut und gerecht organisiert werden kann, führt in komplexe Zusammenhänge, die sich nicht durch Negation auflösen lassen. Die Übel der verschulten Gesellschaft hat Illich mit dem Öffnen der Büchse der Pandora erläutert (S. 143). Institutionen sind demnach zu den Übeln geworden, die sie eigentlich eindämmen sollten.

Aber ein antiker Mythos erklärt keine historische Entwicklung und die Radikalität der Kritik dient nur dem Autor und seinen Anhängern. Illich hat sich geweigert, über Heidegger zu sprechen, den er verabscheute (S. 41). Aber vielleicht gibt es ja doch eine „große Nähe“ zu manchen seiner Thesen (ebd.). Die moderne Gesellschaft jedenfalls hat sich der großen Negation entzogen.

Anmerkung:
1 Thierry Paquot, Introduction à Ivan Illich, Paris 2012 ist bei Edition La Découverte erschienen.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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